Heinzjürgen Ertmer von der Pflegekind-Stiftung erhebt schwere Vorwürfe. CDU will den Fall Jule im Sonderausschuss zur Sprache bringen.
Hamburg. Der Fall Jule schlägt weiter hohe Wellen. Christoph de Vries, familienpolitischer Sprecher der CDU, fühlt sich "nach der Aufdeckung" der Missstände durch das Abendblatt in dem Eindruck bestätigt, dass das Jugendamt in Mitte - ungeachtet allgemeiner Reformerfordernisse im Pflegekinderwesen - ein Spezialfall sei und hinsichtlich Organisation, Verfahrensabläufen und Wahrnehmung von Verantwortung durch Führungskräfte "eines besonderen Augenmerks bedarf". De Vries: "Die Defizite sind struktureller Art und tiefgreifend."
Wie berichtet, hatte das Hamburger Ehepaar Sabine und Holger Schuster das Pflegekind Jule (alle Namen geändert) im Alter von vier Monaten aufgenommen. Das Mädchen war von Geburt an durch den Alkohol- und Drogenkonsum der leiblichen Mutter schwer geschädigt worden und bekam bereits mit 17 Monaten auf Antrag des damaligen Amtsvormundes einen Schwerbehindertenausweis. Als die Pflegeeltern wegen zunehmender Probleme in der Zusammenarbeit das Amt wechseln wollten, kam es zu einem dreijährigen Machtkampf mit dem Jugendamt. "Das war wie Krieg, das Jugendamt Mitte hat quasi nichts ausgelassen, um Jule zu quälen", sagen die Schusters.
Geht es nach Christoph de Vries, wird der CDU-Politiker in der heutigen Sitzung des Sonderausschusses Chantal auch den Fall Jule zur Sprache bringen. Es gehe darum, ein umfassendes Bild über das Jugendamt Mitte zu gewinnen. Der Sonderausschuss ist eingerichtet worden, um den Tod der elfjährigen Chantal, die Anfang des Jahres bei ihren drogensüchtigen Pflegeeltern an einer Methadon-Vergiftung gestorben ist, aufzuklären. Das Jugendamt, unter der Leitung von Pia Wolters, hatte mehrere Hinweise auf die eklatanten Zustände in der Pflegefamilie ignoriert. Ihre Rolle will der CDU-Politiker in beiden Fällen hinterfragen.
Das Abendblatt sprach darüber hinaus mit Heinzjürgen Ertmer, 66, von der Stiftung zum Wohle des Pflegekindes.
Hamburger Abendblatt: Herr Ertmer, Sie haben 35 Jahre Verwaltungserfahrung und waren jahrelang Leiter des Jugendamts in Herten. Sie haben im Fall Jule die Familie Schuster begleitet, waren auch bei einigen Gesprächen zwischen den Pflegeeltern und dem Jugendamt dabei. Wie stellt sich der Fall aus Ihrer Sicht dar?
Heinzjürgen Ertmer: Ich arbeite für die Stiftung zum Wohle des Pflegekindes. Mir kommt entgegen, dass ich "Amtsmensch" bin. Auf mich reagieren Jugendamtsmitarbeiter weniger allergisch als auf andere. Nach dem Motto: Der ist ja auch vom Amt, der kennt ja unsere Zwänge, der wird uns schon verstehen. Wenn Sie mich vor drei Jahren angesprochen hätten, hätte ich Ihnen gesagt, es gibt nichts Besseres als das Jugendamt, wenn es um Hilfe für Pflegeeltern geht. Heute sage ich Ihnen, ich habe große Zweifel, ob alle Jugendämter wirklich zum Wohl von Pflegekindern arbeiten.
Warum?
Ertmer: Ich erlebe sehr viel Machtgehabe, sehr viel demonstrierte Macht.
Ist das auch im Fall Jule eine Erklärung?
Ertmer: Es ist für mich immer wieder neu unfassbar, wie man da als Jugendamt aufgetreten ist. Ich habe in Herten in den 70er-Jahren den Pflegekinderdienst gegründet, so etwas gab es sonst noch nirgendwo. Wir waren die ersten Sozialarbeiter, die sagten: Holt die Kinder aus den Heimen. Nach dem naiven Motto: Heim ist schlecht, Familie ist gut. Dann haben wir differenziert, weil es nicht überall in den Familien so gut lief. Wir haben Standards entwickelt, aber immer haben wir gesagt: Pflegeeltern sind die Partner der Jugendämter. Ohne die könnten wir das nicht machen, mit denen müssen wir behutsam und fair umgehen. Und nun erlebe ich in Hamburg, dass es mit Familie Schuster vonseiten des Jugendamts weder einen behutsamen noch einen fairen Umgang gibt.
Man hat den Schusters Kindeswohlgefährdung vorgeworfen?
Ertmer: Genau, aber das Kind ist immer noch in der Familie. Wenn es nicht nur um Macht gegangen wäre, sondern um wirkliche Sorge, hätte man das Kind längst aus der Familie rausnehmen müssen.
Sie waren bei einem Treffen der Familie mit dem Jugendamt dabei?
Ertmer: Ich bin mit dem Zug drei Stunden hingefahren und habe mich in die Akten eingelesen. Dann habe ich im Gespräch einige Details angesprochen, und die Mitarbeiter vom Jugendamt sagten: Mensch, Sie wissen ja Bescheid, dafür haben wir gar keine Zeit. Da habe ich gesagt: Sie können doch nicht in einem Fall, in dem Sie die ersten Sozialarbeiter sind, die seit vier Jahren das Haus der Pflegeeltern betreten, was ja schon ein unglaublicher Skandal für sich ist, so unbedarft hier ankommen und einen auf locker machen. Es gibt doch kein unentspanntes Verhältnis zwischen Ihnen und der Familie Schuster. Sie haben sie beleidigt. Sie haben ihnen unterstellt, Kinder zu misshandeln. Sie haben sie bedroht. Sie haben sie überfallen, um Jule herauszuholen - all das haben Sie getan. Da haben die gesagt: Herr Ertmer, wir nicht, wir sind nicht das Amt.
Und dann?
Ertmer: Doch, habe ich gesagt, Sie vertreten das Jugendamt Hamburg-Mitte. Nee, Herr Ertmer, haben die gesagt. Sie müssen uns auch als Menschen sehen.
Wie beurteilen Sie den Fall?
Ertmer: Ich bin immer noch fassungslos. Ich wundere mich, dass Menschen meinten, recht haben zu können, die das Kind nie gesehen haben und es gar nicht kennen. Wenn ein vom Jugendamt beauftragter Pflegekinderdienst, der die Familie von Anfang an kennt, sagt, ich finde, dass es dem Kind dort gut geht, ich erlebe die Pflegeeltern als kritikfähig und ansprechbar, dann ist es doch absurd, wenn man diesem freien Träger kein Gehör schenkt. Und schlimmer noch: Wenn man ihn über gravierende Maßnahmen wie den Entzug der elterlichen Sorge oder eine Zwangsbegutachtung des Kindes im Krankenhaus nicht informiert.
Wie haben Sie die Pflegeeltern erlebt?
Ertmer: Sie haben mich nach einem Vortrag angesprochen und mir diese unglaubliche Geschichte erzählt. Sodass ich hinterher zu meiner Frau gesagt habe: Das kann ich mir alles nicht vorstellen. Ich werde immer skeptisch, wenn die einen nur gut und die anderen nur böse sein sollen. Dazu muss man sagen: Ich kam doch gerade aus dem Jugendamt, da habe ich zwei Drittel meines Lebens verbracht. Dann aber haben sie mir Unterlagen zugeschickt, die alles, was sie erzählt hatten, belegt haben. Und kurz darauf sagte mir ihr Rechtsanwalt, den ich gut kenne, das sei einer der hanebüchensten Fälle, die er je erlebt habe. Ein völlig absurdes Machtspiel. Im Umgang mit ihrem Kind habe ich die Pflegeeltern als durchaus angemessen erlebt. Sie sind ein gutes Beispiel für Pflegeeltern von Kindern, die unter dem fetalen Alkoholsyndrom leiden. Sie überziehen nicht in ihrer Fürsorge, sie versuchen Jule Freiheiten zu lassen, wissen aber auch, wo sie ihre Grenzen hat. Und ich sage Ihnen eines: Pflegeeltern, die ein behindertes Kind aufnehmen, die muss ein Jugendamt auf Händen tragen. Wissen Sie, wie viel Geld solche Eltern dem Staat sparen?
Nein.
Ertmer: Ich habe das mal für Herten ausgerechnet. Zehn Pflegekinder kosten pro Jahr 123.000 Euro, zehn Heimkinder 490.000 Euro. Würde Hamburg also pro Jahr nur zehn Kinder mehr aus Heimen in Pflegefamilien vermitteln, wäre das eine jährliche Ersparnis von 367.000 Euro.
Haben Sie als "Amtsmensch" eine Erklärung für das Vorgehen des Jugendamts Hamburg-Mitte in diesem Fall?
Ertmer: Das Amt ist verrückt, anders kann ich das nicht erklären. Ich hatte ja vorgeschlagen, dass ich zusammen mit der Familie Schuster ein Gespräch mit dem neuen Jugendamtsleiter Peter Marquard führe. Wäre das nicht eine tolle Möglichkeit gewesen für einen Neuanfang? Er ist leider überhaupt nicht darauf eingegangen. Anstatt die Hand zu reichen, hat er nur auf seinen Abteilungsleiter verwiesen.
Sehen Sie einen Zusammenhang mit den tragischen Todesfällen von Lara Mia 2009 und Chantal 2012?
Ertmer: Leider ja. Nach dem Tod von Chantal hieß es ja: Hamburg kann überall sein. Genau das glaube ich nicht. In Herten reicht es eben nicht, wenn, wie in Hamburg, die Bewerber für ein Pflegekind selbst angeben, ob sie gesund sind oder nicht. In Herten benötigen sie ein ärztliches Gesundheitszeugnis, der Arzt steht damit in der Mitverantwortung. In Hamburg hat man gesagt, ärztliche Daten unterliegen dem Datenschutz und gehen nicht automatisch ans Jugendamt. Aber bereits 2008 hat Bundeskanzlerin Merkel deutlich gesagt: Kinderschutz geht vor Datenschutz. Es gibt tragische Zufälle, aber man kann Gefahren für Kinder durch gute Strukturen minimieren. Doch wenn man sich wie in Hamburg hinter dem Datenschutz versteckt oder warnenden Anrufen nicht nachgeht, muss man damit leben, dass es Kindern nicht gut geht in der eigenen Stadt.