Andy Grote (SPD) greift in erneuten Skandal um ein Pflegekind im Bezirk Mitte ein. Offenbar war der Fall seit Langem bekannt.
Hamburg. Der Fall Jule, über den das Abendblatt am Freitag berichtete, soll lückenlos aufgeklärt werden. "Ich habe mir sämtliche Unterlagen über den Fall der betroffenen Pflegefamilie zusammenstellen lassen. Wir wollen genau wissen, was wann und warum von wem gemacht worden ist", sagte Andy Grote (SPD), Bezirksamtsleiter Hamburg-Mitte, Freitag zum Abendblatt.
Wie berichtet, hatte das Hamburger Ehepaar Sabine und Holger Schuster das Pflegekind Jule (alle Namen geändert) im Alter von vier Monaten aufgenommen. Das Mädchen war von Geburt an durch den Alkohol- und Drogenkonsum der leiblichen Mutter schwer geschädigt worden und bekam bereits mit 17 Monaten auf Antrag des damaligen Amtsvormundes einen Schwerbehindertenausweis. Als die Pflegeeltern wegen zunehmender Probleme in der Zusammenarbeit das Amt wechseln wollten, kam es zu einem dreijährigen Machtkampf mit dem Jugendamt. "Das war wie Krieg, das Jugendamt hat nichts ausgelassen, um Jule zu quälen", sagen die Schusters.
Ihnen wurde erst die elterliche Sorge entzogen, das Jugendamt unterstellte dann der Pflegemutter selbst ein krankhaftes Verhalten und rückte sie in die Nähe eines Münchhausen-by-proxy-Syndroms, was bedeutet, sie würde ihre Tochter krankreden. Schließlich verweigerte der zuständige Gesundheitspfleger "nach Lektüre des Beipackzettels" dem Mädchen auch noch die von drei Fachärzten verschriebenen Medikamente. Die behandelnden Ärzte, die bei Jule ein Fetales Alkoholsyndrom (FAS) diagnostiziert hatten, liefen daraufhin Sturm gelaufen. "Ein solcher Fall von jugendamtlicher Kindeswohlgefährdung ist mir aus langjähriger Praxis nicht bekannt", sagt Dr. Reinhold Feldmann von der Uniklinik Münster.
Andy Grote kündigte an, dass er bereits am kommenden Montag mit den zuständigen Stellen zusammenkommen werde, um sich ein eigenes Bild zu machen. Eine Woche später wird sich auch der Jugendhilfeausschuss im Bezirk Hamburg-Mitte mit dem Fall befassen. "Wir haben das Jugendamt um einen umfassenden Bericht gebeten, um den teils schweren Vorwürfen sorgfältig nachzugehen. Ich habe hohen Respekt vor der schwierigen Arbeit der Mitarbeiter im Jugendamt. Wir wollen aber auch sehr genau wissen, was da los gewesen ist", sagt der Ausschussvorsitzende Ralf Neubauer (SPD). Eine Bewertung des Falls sei im Moment nicht möglich, da sich bisher nur die betroffenen Pflegeeltern geäußert hätten.
Dabei ist der Fall vielen Entscheidungsträgern in Hamburg seit Langem bekannt. Nicht nur der ehemalige Bürgermeister Ole von Beust (CDU) und sein damaliger Senator Dietrich Wersich (CDU) sowie der Eingabenausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft wurden bereits im September 2009 von den verzweifelten Pflegeeltern, wie berichtet, um Hilfe gebeten.
Die Bundestagsabgeordnete Sabine Bätzing-Lichtenthäler, an die sich Sabine Schuster gewandt hatte, schrieb im Dezember 2011 in einem Brief an ihren Parteifreund, Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), dass Hamburg das einzige Bundesland sei, in dem FAS als Krankheit nicht anerkannt ist, obwohl seine Existenz wissenschaftlich und medizinisch anerkannt und unbestritten ist. "Es gibt in Hamburg anscheinend mehrere Fälle, in denen Pflegefamilien mit FAS-Kindern auf diese Weise von Jugendämtern behandelt werden. Ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du in diese Angelegenheit Einsicht nehmen und den betroffenen Familien damit helfen könntest." Scholz antwortete, dass die zuständigen Stellen ihm versichert haben, dass die Hamburger Behörden FAS sehr wohl als Krankheit anerkennen: "Ich habe deshalb keinen Zweifel, dass den von FAS betroffenen Hamburger Kindern und ihren Familien die benötigte Hilfe der Behörden zuteil wird." Nach dem Tod der elfjährigen Chantal in der Wohnung ihrer Pflegeeltern in Wilhelmsburg im Januar 2012 schrieb Bätzing-Lichtenthäler erneut an Scholz, dass sich die Pflegemutter auf ihr Anraten hin mit einem Gesprächswunsch an das Büro des Bürgermeisters gewandt habe, da sich die Situation der Pflegefamilie in der Zwischenzeit verschärft habe. "Da es sich bei dem fraglichen Jugendamt meines Wissens nach um das gleiche handelt, das in den tragischen Fall Chantal verwickelt war, hoffe ich sehr, dass ein Gesprächstermin zustande kommt."
Auch der damalige Bezirksamtschef Markus Schreiber war informiert. Birgit Nabert, Vorsitzende des Vereins für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien (KIAP), beschwerte sich bereits im September 2010 über die Behandlung der Pflegeeltern durch die Mitarbeiter des Jugendamts. Schreiber antwortete, dass ihm der Fall bekannt sei und er sich zu einem laufenden Verfahren nicht äußere. "Seien Sie versichert, dass einzig und allein das Kindeswohl Richtschnur des Handelns des Jugendamts ist", schrieb er.
Erst ein Gutachten, das massive Kritik am Jugendamt übte, weil die Mitarbeiter das Kind über Jahre nie persönlich gesehen hätten, sorgte schließlich dafür, dass das Amtsgericht im September entschied: Jule darf in der Pflegefamilie bleiben.
Die Schusters beziffern die Kosten für den Kampf um das Kind auf 25.000 Euro. Sie müssen diese selbst tragen. "Es gibt für Pflegeeltern keine Rechtsschutzversicherung", sagt Birgit Nabert. "Bei Auseinandersetzungen mit der Behörde bleiben die Pflegeeltern immer auf sämtlichen Kosten sitzen." Selbst wenn sie eine günstigere anwaltliche Beratung ergriffen, kämen sie auf 5000 bis 7000 Euro pro Gerichtsverfahren. Viele würden sich verschulden. "Von den 239 Euro, die sie im Monat für die Betreuung bekommen, können sie das nicht bezahlen", sagt Birgit Nabert.