Für Matthias Lemme, Pastor in Ottensen, muss Kirche öfter Neues wagen. Sein Jesus-Roman trägt den Titel „Große Freiheit“.

Das passt doch. ML und ML. Sie stehen beieinander wie gute Kumpel. Den Arm freundschaftlich auf die Schulter gelegt, und dazu der rote Faden, der die beiden Männer für einen Moment fest miteinander verbindet.

Matthias Lemme und Martin Luther geben ein einträchtiges Bild ab im schmucken Altarraum der barocken Christianskirche in Ottensen. Rechts neben ihnen die Kanzel, links über ihnen schwebt der Taufengel von der Decke.

Der Matthias in Jeans, Jacke und Kapuzenshirt, der hier sonst Talar trägt, wurde vor 39 Jahren in Halle an der Saale geboren. Der Vater Pfarrer, die Mutter Bauingenieurin. „In unserem Pfarrhaus führten wir ein Nischendasein.“ Die Kirche, sagt Lemme, sei in der DDR ein wichtiger Raum gewesen, in dem die Menschen noch halböffentlich diskutieren konnten. Bei ihnen zu Hause trafen sich Gläubige und Ausreisewillige, Arbeitslose und Systemkritiker. „Und russische Soldaten, die in ihrer Kaserne nicht genug zu essen bekamen.“ Eine höchst eingeschränkte Freiheit war das, in der die Herrschenden keinen Zutritt hatten.

Lemme hat eines der letzten Luther-Originale gekauft

Keine 30 Kilometer entfernt, in Eisleben, erblickte Martin Luther das Licht der Welt. 1483 war das. Auch der junge Doktor der Theologie lehnte die herrschenden Verhältnisse ab. Und weil er mit 34 Jahren in Wittenberg 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche nagelte, feiert die evangelische Kirche jetzt 500 Jahre Reformation.

Matthias Lemme hat Martin Luther vor sechs Jahren in Wittenberg in Besitz genommen. „Es gab 500 Luther-Exemplare von dem Künstler Ottmar Hörl. In Blau, Grün, Rot und Schwarz. 97 Zentimeter hoch und aus Kunststoff.“ Lemme hat eines der letzten Originale gekauft und es der Kirchengemeinde Ottensen geschenkt. „Unter den Kindern hat er ein paar echte Freunde, mit denen er sich regelmäßig auf Augenhöhe unterhält“, sagt Lemme. Welchen Satz könnte Luther den Kindern mitgeben? „Ich würde sagen: Lies in der Bibel, geh mit Gott – und trag dein Leben in die Welt.“

Matthias Lemme ist auf Umwegen in der Welt unterwegs. Er hat nach Abitur und Zivildienst in einer Kita zuerst Musikwissenschaft und Literatur studiert. Er spielt Jazzgitarre und hat gerade mit Susanne Niemeyer einen Jesus-Roman geschrieben, der auch in Hamburg spielt: „Große Freiheit. Die Geschichte des Wasserwandlers.“

Lemme wohnt mit seiner Familie in Ottensen

Nach zwei Studienjahren ist Matthias Lemme aber zur Theologie gewechselt, war zu Auslandssemestern in Jerusalem und Chile und hat sein Studium als Diplom-Theologe in Halle abgeschlossen. Danach machte er ein Volontariat bei der Deutschen Welle in Bonn und arbeitete als Redakteur beim Verein Andere Zeiten in Hamburg. Um sich schließlich mit einem zweijährigen Vikariat auf den Beruf des Pastors vorzubereiten. Nach einem Jahr in der Altmark im nördlichen Sachsen-Anhalt („viele Dörfer, wenig Menschen“) zog es ihn mit seiner französischen Frau zurück in die Großstadt.

Nun wohnen sie mit den beiden Kindern, zwei und vier Jahre alt, mitten in Ottensen. „Gleichzeitig im Dorf und in der Stadt.“ Im Hinterhof halten sie Hühner. Und von hier aus hört er die Durchsagen vom Bahnhof Altona – und die Schiffshupen von der Elbe. „Das ist hier schon sehr besonders“, sagt der Pastor.

Und damit meint er auch seine Gemeinde. Da sei zum einen die Lage an der Elbe und der junge Stadtteil Ottensen. „Wir haben viele Taufen und wenig Beerdigungen.“ Und außerdem die wunderschöne barocke Kirche aus dem Jahr 1738. „Es kommen selten weniger als 100 Menschen zum Gottesdienst.“ Seit einiger Zeit seien es sogar noch 20 bis 30 Besucher mehr am Sonntag. „Ein Phänomen für uns, das wir noch ergründen müssen“, sagt Lemme. Woher kommen die? Werden sie bleiben? Was müssen wir dafür tun?

Ein Angebot, das der Seele guttut

Was Lemme und seine Mitstreiter, die Pastoren Katharina Fenner und Frank Howaldt sowie Kantor Igor Zeller, vor allem anderen am Herzen liegt, ist „ein verlässliches Angebot, das der Seele guttut“. Sonntags eine Stunde in die Kirche gehen und mal in Ruhe nachdenken über sich und das Leben. „Ankommen, ablegen und vielleicht wieder aufgerichtet werden, um hoffnungsvoller in die neue Woche zu gehen.“

Aber auch das Gefühl zu spüren, dass da viele sind, die zusammenkommen. Die sich um eine Idee versammeln und sich ähnliche Fragen stellen: Was machen wir mit unserer Kraft? Mit unserer Zeit? Wofür setzen wir uns ein?

Eigentlich sind sie ja noch viel mehr. Die Kirchengemeinde Ottensen, zu der seit der Fusion 2007 auch die Osterkirche gehört, hat 5300 Mitglieder. „Davon kennen wir vielleicht 500.“ Wo sind die anderen? Um das herauszufinden, müsse Kirche „immer im Testmodus“ laufen, sagt Lemme. Mutig sein. Unfertig bleiben. Aber auch locker. Und sich bloß nicht einrichten in einer scheinbaren Gemütlichkeit. Dinge anpacken und auch ändern.

Sie nageln zwar keine revolutio­nären Thesen mehr an die Tür der Christianskirche. Aber sie probieren unentwegt Neues aus in Ottensen. Zum Beispiel Tischgespräche in Kneipen zu einem bestimmten Thema mit sehr unterschiedlichen Gästen. Oder tägliche Sprachkurse für 40 bis 50 Geflüchtete durch viele Ehrenamtliche in den kirchlichen Räumen. „Daraus soll ein Begegnungszentrum werden“, sagt Lemme. Eine Art Labor für Fragen um Flucht, Frieden und Weltgerechtigkeit schwebt der Gemeinde vor. Ein Ort, an dem echtes Aufeinandertreffen stattfindet und an dem alle voneinander lernen können.

Wie passen Gott und das 21. Jahrhundert zusammen?

Sie haben eine etwas andere Gemeindezeitung, das „Kirchspiel“, mit aktuell zwölf Porträts samt großfo­rmatigen Fotos von Menschen aus dem Stadtteil. Sie feiern jedes Jahr Karnevalsgottesdienst mit Ahoi und Halleluja, bei dem der Pastor eine rote Pappnase trägt und in den Bänken kleine Cowboys und große Indianer sitzen. Sie haben das Forum Neue Musik, wo sich neue Klangwelten eröffnen. Und, ganz neu, den Singegottesdienst für Kleine und Große im Altarraum – eine halbe Stunde nur mit Liedern, Gebeten und einer Lesung. Und ohne Predigt.

Ohnehin liegt Matthias Lemme mehr am Austausch. An Gesprächen, die sich darum drehen, wie Gott und das 21. Jahrhundert zusammenpassen. Erwachsen glauben, nennt er das. „Einmal wirklich durchbuchstabieren, was christlicher Glauben ist. Ich lebe mein Leben, und Gott spielt darin eine Rolle. Und welche das sein kann, das finden wir gemeinsam raus.“

Da kommt Luther wie gerufen. Sie wollen in Ottensen 500 Jahre nach dem Thesenanschlag weniger jubeln und sich lieber auf die Suche machen. Es geht ihnen um den Begriff der Freiheit. Wie groß ist unsere Freiheit? Welche Möglichkeiten bietet sie? Nutzen wir sie zur Genüge? „Martin Luther hat das Individuum stark gemacht, das Ich im Glauben“, sagt Lemme. „Er wollte nicht, dass die Kirche vorgibt, was der Einzelne zu glauben hat. Deshalb sollte auch jeder die Bibel lesen und dann frei entscheiden können.“

Luther, sagt Lemme, wollte keine Gläubigen, die den Herrschenden hinterherlaufen.