Hamburg. Hamburgs DGB-Chefin Katja Karger spricht über die ständige Erreichbarkeit im Job und die Goodgame-Entlassungen.

Abends vor dem Einschlafen noch schnell die Mails checken, morgens vor Dienstbeginn schon die ersten Kundenfragen beantworten – ständige Erreichbarkeit per Smartphone und die zunehmende Arbeitsverdichtungbelasten immer mehr Menschen. Das Abendblatt sprach mit Katja Karger, der Hamburger Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), über Anti-Stress-Politik, den richtigen Zeitpunkt, das Handy auszuschalten, und die Goodgame-Entlassungen.

Frau Karger, was wäre für Sie ein Grund, Ihre Mitarbeiter nach Feierabend oder im Urlaub zu erreichen?

Katja Karger: Nur wenn wirklich schnell und tagesaktuell etwas anliegt. Das kommt zum Glück sehr selten vor. Zum Beispiel kann es passieren, dass ich mit meinem Pressesprecher mal außerhalb der regulären Arbeitszeiten ein Statement absprechen muss.

Beim DGB gibt es also keine Regelung zur Nichterreichbarkeit, so wie es etwa die Telekom oder auch Volkswagen haben?

Nein, aber wir thematisieren das. Die Mitarbeiter haben eine starke Selbststeuerung. Ich habe selten einen Grund reinzugrätschen. Aber wenn ich mit­bekomme, dass jemand schon am Sonntag anfängt, die Woche vorzubereiten, dann gibt es schon mal ein Gespräch. Es ist ein feines Austarieren der Balance. Das kann funktionieren, aber ich kenne auch eine Menge Betriebe, wo das leider nicht der Fall ist.

Und wann schalten Sie Ihr Handy aus?

Ich arbeite viel, das bringt mein Job mit sich. Aber abends um 20 Uhr ist Schluss. Dann schalte ich das Telefon aus. Morgens geht nichts vor 7 Uhr. Und auch am Wochenende ist häufig das Telefon aus. Es muss schon einen sehr guten Grund geben, mich anzurufen. Ich gucke eher mal in meine Mails. Aus meiner Sicht ist es eine Frage von Organisation.

Sind das die Lehren aus der Zeit, in der Sie bei der Internet-Agentur Pixelpark gearbeitet haben?

Ja, auch. Wenn damals der Abgabetermin für ein Projekt näher kam, haben wir die Nächte durchgearbeitet. Aber auch sonst hatten wir endlos lange Arbeitstage. Da verschmolzen kollegiale und freundschaftliche Strukturen. Auf die Dauer geht das nicht gut.

Welche Belastungen entstehen, wenn die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben aufweichen?

Bei uns war es damals so, dass die Anspannung im Team zugenommen hat. Dieses Auf und Ab von Höchstleistung und die Leere nach Abgabe eines Projekts gehen an die Substanz. Dazu schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung, ständige nervliche Anspannung. Mit Mitte 20 funktioniert das noch, auch weil die Identifikation mit dem Betrieb hoch ist. Aber irgendwann will man auch was anderes, Familie zum Beispiel. Dann merkt man, dass Kollegen nur begrenzt Freunde sind. Die Psyche hält nicht aus, was der Körper vielleicht noch eine Zeit lang mitmacht.

Ist diese Selbstausbeutung vor allem ein Problem von jungen Unternehmen?

Wenn man sich anschaut, wie sich die Arbeit in allen Bereichen verdichtet hat, betrifft es inzwischen alle Jobs und alle Altersgruppen. Das Arbeitspensum für den Einzelnen hat sich in den vergangenen Jahren extrem erhöht. Das geht bis zur Mitarbeiterin an der Kasse, die auch die Regale einräumt, Waren bestellt, sauber macht und abends den Müll rausbringt. Dazu kommt, dass die Selbstverantwortlichkeit gestiegen ist. Wenn dann was schiefläuft, ist das ihr Problem. Sie ist schuld. Man muss sagen: Wir sind zwar alle ziemlich gesund, aber wir haben Arbeitsbedingungen, die wir nicht mehr schaffen können und die krank machen. Bei einer aktuellen Befragung haben 59 Prozent der Beschäftigten angegeben, länger zu arbeiten als vertraglich festgelegt.

Wie kann eine Anti-Stress-Politik in einer digitalisierten Arbeitswelt aussehen?

Wir sind mit dem Bundesgesundheitsministerium in Gesprächen über eine Anti-Stress-Verordnung. Aber im Moment sträuben sich die Arbeitgeber. Hamburg ist schon ganz gut aufgestellt. Seit Jahresbeginn gibt es die Beratungsstelle „Perspektive Arbeit und Gesundheit“, wo sich Firmen, Arbeitnehmer und Betriebsräte beraten lassen können. Im Moment ist das ein Pilotprojekt mit zwei Jahren Laufzeit. Wir wollen, dass es die Beratungsstelle darüber hinaus gibt und ihre Arbeit verstetigt wird.

Wie sieht dann die Umsetzung aus?

Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen sind ein sinnvoller Rahmen. Auch für die Arbeitgeber ist es wichtig, dass die Mitarbeiter gesund bleiben.

Es gibt Forderungen nach einem Rechtsanspruch auf Nichterreichbarkeit ...

Als Forderung nicht schlecht, weil er einen klaren Rahmen vorgibt. Im Augenblick gibt es eine Tendenz, dass wir alle immer erreichbar sind. Menschen brauchen aber ein Leben außerhalb der Erwerbstätigkeit. Der erste Schritt ist mehr Arbeitszeitsouveränität für die Beschäftigten. Flexibilität kann ja auch ein Gewinn sein. Ich glaube allerdings auch, dass sich dieser Hype, die ständige Erreichbarkeit, wieder legt. Alle neuen Entwicklungen haben erst mal eine riesige Faszination, das relativiert sich aber wieder. Beispiel Fernsehen, das spielt eine immer geringere Rolle. Aus meiner Sicht müssen die Arbeitsbedingungen an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden. Pauschalisierungen helfen niemandem.

Wie soll das klappen?

Es geht ja um das große Thema Digitalisierung der Arbeit, die Erreichbarkeit ist da ein Punkt. Aus meiner Sicht funktioniert das nur, wenn die Mitbestimmung in den Unternehmen ausgebaut wird. Nur so ist zu erreichen, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Also: gute Arbeitszeiten, gute Bezahlung, gesunde Arbeit, eine Arbeit, die im hohen Maß selbstbestimmt ist und mit der ich auch gut alt werden kann.

Was bedeutet das konkret?

Der Job muss sich mehr den Lebensläufen anpassen und nicht mehr andersherum. Das ist die Herausforderung der Zukunft, und die Technik macht es möglich. Dafür müssen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag abschließen. Stichwort: gute Arbeit. Es ist die große Aufgabe der Gewerkschaften, die Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen. Wir werden nicht wie in den 1970er-Jahren den Fehler machen, die Technik zu verdammen und den Weltuntergang zu beschwören. Wir wollen mitgestalten.

Betriebe, Gewerkschaft und Politik diskutieren im Moment flexiblere Arbeitszeiten. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will die gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften lockern. Wie sehen Sie das?

Durchaus kritisch. Es lässt sich vieles über Tarifverträge regeln. Wenn wir jetzt Gesetze öffnen, geben wir allen anderen auch die Möglichkeit, Forderungen zu stellen, und dann sind wir schnell beim 7/24-Job. Das ist nicht der Plan. Es muss das Recht auf Nachtruhe geben, einen freien Sonntag und ungestörten Urlaub. Wir brauchen einen klaren Schutzrahmen für Beschäftigte.

Der DGB hat eine Kommission eingesetzt, die sich mit dem Thema Gute Arbeit befasst und Befragungen durchführt. Wann wird es Ergebnisse geben?

Im November. Es gibt Überlegungen, dass die Vorstellung in Hamburg stattfindet, in Kooperation mit dem Museum der Arbeit. Es gibt eine Menge spannende Erkenntnisse: zum Beispiel, dass die Digitalisierung hauptsächlich die Frauen betrifft, weil vor allem die Dienstleistungsbranche sich verändern wird. Man kann sagen, dass die Arbeit der Zukunft weiblich ist.

Aber gerade in dem Bereich sind kaum Arbeitnehmer in der Gewerkschaft. Betriebsräte gelten dort als altmodisch, ein Beispiel ist der Hamburger Computerspielehersteller Goodgame, der gerade mehrere Hundert Arbeitsplätze abgebaut hat.

Da ist nicht alles ideal gelaufen. Allerdings war die Gegenwehr im Unternehmen erheblich. Da sind Gewerkschafter lächerlich gemacht worden, in einer internen Veranstaltung am Tag zuvor wurde die Belegschaft eingenordet. Wenn eine Betriebsratsgründung so verhindert wird, müsste das eigentlich strafrechtlich verfolgt werden. Jetzt gibt es viele Mitarbeiter, die sagen, ,hätten wir doch‘. Es reicht eben nicht, kostenfreie Getränke hinzustellen und einen Billardtisch oder einen Feel-good-Manager zu engagieren.