Hamburg . Körber-Preisträger züchtet Gewebe, mit dem sich Medikamente testen und künftig vielleicht kranke Organe ersetzen lassen.

Die Auffrischung des Körpers geschieht von uns unbemerkt, immer wieder aufs Neue. Alle vier Wochen erneuert sich etwa die oberste Hautschicht; nur vier Tage dauert die Verjüngungskur der Darmschleimhaut. Auch an vielen weiteren Stellen finden permanent Reparaturen statt. Zu verdanken haben wir das sogenannten adulten Stammzellen, die nach der Geburt im Körper vorkommen. Weil diese ständig frisches Material produzieren, kann sich zumindest ein Teil des Gewebes zeitlebens regenerieren – zum Glück, denn andernfalls würde unser Organismus zusammenbrechen.

Dem niederländischen Forscher Hans Clevers und seinem Team gelang es 2009 als ersten, aus adulten Stammzellen Organoide zu züchten – wenige Millimeter große, dreidimensionale Gewebestückchen, die in ihrer Struktur und Funktion echten Organen ähneln. Der von den Wissenschaftlern vorgestellte Mini-Darm, der viele Monate in einer Petrischale überlebte, gilt als Durchbruch in der Stammzellforschung. Heute züchten mehr als 200 Labore auch Mini-Ausgaben der meisten anderen menschlichen Organe, etwa winzige Mägen, Nieren und Lungen.

Schon heute eignen sich Organoide, die auch aus Tumorgewebe hergestellt werden können, zur Erprobung von Medikamenten. „Statt einen Darmkrebs-Patienten mit einer unspezifischen Chemotherapie zu traktieren, können wir ihm ein Mittel verschreiben, auf das seine im Labor getesteten Tumor-Organoide besonders gut angesprochen haben“, erläutert Clevers. Künftig könnten die Mini-Organe zudem dazu dienen, schadhaftes Gewebe oder sogar ganze Organe zu ersetzen.

Fünf Körber-Preisträger haben Nobelpreis erhalten

Für seine Arbeiten war Clevers schon mehrfach geehrt worden. Nun ist eine weitere Auszeichnung hinzugekommen: Am Mittwoch hat der 59-jährige Mediziner und Biologe im Hamburger Rathauses vor 600 geladenen Gästen den mit 750.000 Euro dotierten Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft erhalten.

Die Auszeichnung wird auch als „Hamburger Nobelpreis“ bezeichnet – wohl zu Recht, schließlich haben bereits fünf Körber-Preisträger später die Auszeichnung in Stockholm erhalten. Drei von ihnen – dem deutschen Physiker Stefan Hell und den norwegischen Hirnforschern May-Britt und Edvard Moser – wurde diese Ehre 2014 zuteil.

Stammzellen sind Vorläuferzellen, die spezialisierte Zellen bilden. Es gibt verschiedene Arten. Embryonale Stammzellen können sich in jedes Gewebe entwickeln. Sie für die Forschung zu nutzen, ist umstritten, denn sie werden aus wenige Tagen alten Embryos entnommen – etwa solchen, die bei einer künstlichen Befruchtung gewonnen, aber nicht mehr benötigt werden. In Deutschland dürfen embryonale Stammzellen nur nach Genehmigung importiert werden.

Zu diesen Alleskönnern gibt es seit 2006 eine Alternative: sogenannte iPS-Zellen. Sie lassen sich aus gewöhnlichen Zellen eines Erwachsenen bilden und durch genetische Tricks in ein Embryonalstadium zurückversetzen. Sodann können sie durch spezielle Impulse zu jedem gewünschten Gewebe heranwachsen. Das ist ethisch unbedenklich, dauert aber eine Weile. Aus iPS-Zellen lassen sich auch Organoide herstellen. Für Aufsehen sorgte 2013 ein Team um Jürgen Knoblich aus Wien, das aus iPS-Zellen Gehirngewebe in Erbsengröße gezüchtet hatte.

Spezielles Gel dient Stammzellen als Stützgerüst

Adulte Stammzellen, aus denen Hans Clevers Organoide züchtet, sind zwar nicht so vielseitig. Aus adulten Stammzellen zum Beispiel aus dem Magen lassen sich nur Mini-Mägen herstellen, nicht etwa Nieren-Organoide. Allerdings müssen diese Stammzellen nicht erst reprogrammiert werden wie iPS-Zellen. Außerdem entwickeln sie sich meist ohne größere Fehler in das richtige Gewebe. All das spart Zeit.

Um sie züchten zu können und für Medikamententests und therapeutische Anwendung zu nutzen, musste aber erst einmal jemand herausfinden, wie sich adulte Stammzellen in Organen aufspüren lassen. Dies gelang Clevers und seinem Team 2007 erst bei Mäusen. Die Forscher entdeckten, dass adulte Stammzellen sich durch ein Oberflächenmolekül namens Lgr5 verraten. Seitdem hat sich gezeigt, dass auch adulte Stammzellen in menschlichen Organen den Lgr5-Marker besitzen.

Als das niederländische Team seine Entdeckung machte, gab es ein weiteres Problem: Es schien nicht möglich zu sein, aus adulten Stammzellen dreidimensionales Gewebe zu züchten. Dann fand Clevers mit seinem Postdoc Toshiro Sato heraus, dass es doch geht – wenn die Stammzellen in eine Umgebung eingebettet werden, „in der sie sich zu Hause fühlen“, wie Clevers sagt.

Im Körper wird diese Umgebung durch eine Art Kleber gebildet, die extrazelluläre Matrix. In Petrischalen lässt sie sich durch ein geleeartiges Material nachstellen. Dank dieses Stützgerüsts formen die adulten Stammzellen komplexe Gebilde. Und sie kennen offenbar das genaue Ziel: adulte Stammzellen aus dem Darm etwa bilden einen Mini-Darm, nicht einen Mini-Magen. Dieser Prozess gilt heute als Standardverfahren zur Herstellung von Organoiden.

In Utrecht, wo Clevers am Hubrecht Institut für Entwicklungsbiologie arbeitet, nutzen die Forscher die Mini-Därme etwa, um bei Patienten mit der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose zu untersuchen, ob diese von neuen Medikamenten profitieren könnten. Dazu entnehmen die Forscher den Patienten ein Stück Darmschleimhaut, isolieren adulte Stammzellen und stellen daraus Organoide her, an denen sie die Wirkstoffe testen.

Forscher müssen zeigen, dass Verfahren sicher ist

Und der Traum, mit gezüchteten Stammzellen kranke Organe zu heilen? Am ehesten machbar sei dies wohl mit der Leber, sagt Clevers. Dass aus Organoiden stammende Leberzellen tatsächlich Leberfunktionen übernehmen können, konnten die Forscher bereits bei Mäusen zeigen.

Doch vor dem Einsatz beim Menschen sind noch viele offene Fragen zu klären. „Eine Sorge ist, dass in den Organoiden einzelne Zellen bösartig werden. Dann könnte Krebs entstehen“, erläutert Clevers. „Deshalb müssen wir erst einmal zeigen, dass das Verfahren sicher ist.“ In vier bis fünf Jahren könnten Tests mit Patienten beginnen, die an chronischem Leberversagen leiden, hofft er.