Hamburg . Die Körber-Stiftung vergibt die mit 750.000 Euro dotierte Auszeichnung an die Britin Nicola Spaldin. Sie erforscht Multiferroika.

Nicola Spaldin liebt die Abwechslung und das Abenteuer. Auf Fotos im Internet sieht man die britische Wissenschaftlerin unter anderem beim Campen mit Gaskocher und Alu-Geschirr in einer Wüstenlandschaft und beim Skilanglauf inmitten eines Blizzards in Kalifornien; andere Bilder zeigen sie in einem Klassenraum in Nepal, wo sie Kinder in Englisch unterrichtete, und bei einem Besuch des Sterbehauses des deutschen Komponisten Robert Schumann in Bonn – für die leidenschaftliche Klavier- und Klarinettenspielerin eine „Pilgerfahrt“.

Nicht nur in ihrer Freizeit, auch beruflich ist die mit einem Neuseeländer verheiratete Forscherin sehr umtriebig. Nach dem Studium der Geologie und Chemie in Cambridge kam Spaldin über Projekte in den USA und Gastprofessuren unter anderem in Schweden und Indien zur Werkstoffphysik. Seit 2010 arbeitet sie als Professorin für Materialtheorie an der ETH Zürich, wo sie ein interdisziplinäres Forscherteam leitet.

Im Zuge dieser steilen Karriere hatte Spaldin bereits 27 Stipendien und Preise erhalten. Nun ist eine weitere Auszeichnung hinzugekommen: Heute hat die 46-Jährige im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses vor rund 600 geladenen Gästen den mit 750.000 Euro dotierten Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft erhalten.

Die Auszeichnung ist oft als „Hamburger Nobelpreis“ bezeichnet worden – zu Recht, darf man sagen, schließlich haben bereits fünf Körber-Preisträger später die berühmte Auszeichnung in Stockholm erhalten. Drei von ihnen – dem deutschen Physiker Stefan Hell und den norwegischen Hirnforschern May-Britt und Edvard Moser – wurde diese Ehre 2014 zuteil. Glaubt man dem Kuratorium des Körber-Preises und seinem Vorsitzenden Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, sind herausragende Erkenntnisse auch von Nicola Spaldin zu erwarten.

Deren Forschungsobjekte sind ähnlich vielseitig wie die Wissenschaftlerin selbst, man bezeichnet sie als Multiferroika. Dabei handelt es sich um kristalline chemische Verbindungen, die sowohl auf elektrische als auch auf magnetische Felder reagieren. Dadurch könnten diese Materialien unter anderem neuartige Computer ermöglichen, die erheblich kleiner wären und weniger Strom verbrauchten als herkömmliche Modelle, so die Körber-Stiftung. Davon würden nicht nur Smartphones und PCs profitieren, sondern auch viele andere Elektrogeräte, die von Computern gesteuert werden.

Multiferroika sind kristalline Verbindungen aus Metallen und Sauerstoff

Um das zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, wie herkömmliche Computer funktionieren, die sich unter anderem aus Chips (Prozessoren) und Datenspeichern zusammensetzen. Chips, genauer: die Transistoren auf den Chips, bestehen aus Silizium. Diese reagieren auf elektrische Felder, das heißt, sie lassen sich durch unterschiedliche elektrische Spannungen laden oder entladen. Eine Einstellung steht für „0“, die andere steht für „1“, die beiden Zeichen des digitalen Alphabets – Bits. Viele Einsen und Nullen bilden Informationen, mit denen der Chip rechnet und die eine Software in Texte, Bilder oder Videos übersetzt.

Als Speicher für solche Informationen dienen bisher etwa Festplatten. Sie lassen sich durch magnetische Felder beeinflussen. Konkret magnetisiert ein Schreiblesekopf winzige Felder, wobei jedes Feld für eine „0“ oder eine „1“ steht. Auf diese Weise lassen sich Daten ablegen – und wieder aufrufen, damit der Chip damit rechnen kann.

Um solche Magnetfelder zu erzeugen, ist eine Drahtspule nötig, durch die Strom fließt. „Diese Technik ist vergleichsweise groß, schwer, langsam und ineffizient“, sagt Nicola Spaldin. Bei einem Datenspeicher aus einem Multiferroikum wäre kein magnetischer Schreiblesekopf nötig, sondern es würde womöglich ausreichen, eine elektrische Spannung anzulegen, um die Daten zu speichern. Und: Statt wie bisher in einem Computer einerseits ein teures Material wie Silizium für die Datenverarbeitung in Chips und andererseits Magneten für die Datenspeicherung in Festplatten zu nutzen, könnte künftig vielleicht ein Multiferroikum beide Aufgaben übernehmen, man hätte quasi Rechner und Speicher in einem, wodurch sich Computer erheblich verkleinern ließen, sagt Spaldin.

Multiferroika wurden bereits Mitte des 20. Jahrhunderts von Wissenschaftlern in der damaligen Sowjetunion untersucht. Doch die Forschung stagnierte, weil nicht genug geeignete Materialien bekannt waren. Nicola Spaldin kam zufällig zu Multiferroika, die noch Ende der 1990er Jahre als abseitiges Forschungsgebiet galten. Mentoren rieten der aufstrebenden Wissenschaftlerin, sich besser auf etablierte Themen zu konzentrieren – doch Spaldin blieb dabei. Mit zwei Aufsehen erregenden Artikeln – einer davon erschien 2003 im Fachjournal „Science“ – belebte sie die Multiferroika-Forschung. Heute beschäftigten sich weltweit tausende Materialwissenschaftler mit dem Thema.

Dass Team um Spaldin an der ETH Zürich führt in erster Linie Berechnungen durch, um die Eigenschaften von vorhandenen Werkstoffen zu verstehen und zu erklären. Mit diesem Wissen konzipieren die Forscher dann am Computer neue Materialien, die anschließend im Labor untersucht werden. Ob solche Werkstoffe es bis zur industriellen Reife schaffen, muss sich allerdings noch erweisen. Offen ist auch, ob weitere Anwendungen, die laut der Körber-Stiftung dank Multiferroika denkbar seien – etwa ultrakleine Motoren – Realität werden.

Nicola Spaldin will sich aber ohnehin nicht auf bestimmte Anwendungen beschränken, sondern offen bleiben für neue Entdeckungen. Das rät sie auch Nachwuchsforschern: „Findet die Frage, die für euch die interessanteste ist“, schrieb sie jüngst in einem Artikel für „Science“. „Geht ihr mit all eurer Leidenschaft nach – und bereitet den Weg für eure eigene wissenschaftliche Revolution.“