Hamburg. Wolfgang Backen geht im Herbst nach 37 Jahren in Pension. Im Abendblatt blickt er auf seine bewegendsten Fälle zurück.

Wenn er gefordert ist, geht es um Brutalität, Hass, Verzweiflung und Dramen. Er hat gnadenlose Mörder erlebt, Menschen, die eiskalt und überlegt gehandelt haben, und solche, die meinten, aus einer Zwangslage heraus zur Waffe greifen zu müssen. Da war der Mann, der seine Schwester ersticht, ein Eifersüchtiger, der seine Frau mutwillig so schwer verletzt, dass sie beinahe stirbt, eine Frau, die ihren Schwiegervater tötet und zerstückelt: Wolfgang Backen, seit 1979 Richter und in den vergangenen neun Jahren Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer, die ausschließlich über vollendete und versuchte Tötungsdelikte verhandelt, hat mit den Abgründen der Psyche zu tun. Ende September geht Backen in Pension. Im Abendblatt blickt er noch einmal auf dramatische und außergewöhnliche Fälle zurück.

Zum Beispiel der Mord an der 16 Jahre alten Morsal. Die Hamburger Schülerin, die aus Afghanistan stammte, hatte sich nach Meinung ihrer Familie zu sehr dem westlichen Lebensstil angenähert und musste deshalb sterben. Am 15. Mai 2008 lockte ihr Bruder Morsal sie unter einem Vorwand zu einem dunklen Treffpunkt, an dem der 24-Jährige sie mit 23 Messerstichen tötete. Das Gericht verurteilte den Täter zu lebenslanger Haft.

Mutter des Angeklagten wollte sich aus dem Fenster stürzen

Backen sprach in der Urteilsbegründung von einem „Blutbad“, das der Angeklagte angerichtet habe, ein Mord, „weil Sie Morsals Einstellung, wie deutsche Mädchen leben zu wollen, nicht toleriert haben“. Der Angeklagte habe „aus reiner Intoleranz getötet. Er tötete, um die sogenannte Ehre der Familie wiederherzustellen“. Bei der Urteilsverkündung „kam es zu Turbulenzen“, erinnert sich Backen. „Der Angeklagte pöbelte und tobte, seine Familie fing an, gegen die Trennscheibe im Verhandlungssaal zu hämmern, viele brachen in Wehklagen aus.“ Die Mutter des 24-Jährigen versuchte gar, sich aus dem Fenster zu stürzen. „Die Turbulenzen zeigten, dass die Familie überhaupt nicht mit lebenslanger Haft gerechnet hatte. Sie konnte sich das nicht vorstellen, weil sie das Gefühl hatte, die Ehre zu verteidigen.“

Häufig würden heute Urteile weniger akzeptiert als früher, stellt der Jurist fest. „Viele der Angeklagten kommen aus anderen Kulturkreisen, in denen oft auch anderes Ehrbewusstsein herrscht.“ Und auch darüber hinaus beobachtet Backen „keine plötzliche, wohl aber eine schleichende Veränderung: Die Hemmschwelle für eine Tat ist deutlich niedriger geworden, um eine Reaktion der Gewalt zu verursachen. Es reicht oft ein falscher Blick, eine kleine Provokation. Und das Messer ist oft dabei. Es wird nicht mehr differenziert: Ziele ich auf das Bein oder den Oberkörper.“

Dass viele Verbrechen doch nicht zum Tod des Opfers führen, „ist häufig nicht das Verdienst der Täter, sondern des Notarztes, der schnell zur Stelle ist, sodass der Schwerverletzte gerettet werden kann“.

Schon als Kind kam Backen mit der Justiz in Berührung, sein Vater war als Richter und als Staatsanwalt tätig. „Er hat immer viel und interessant über seine Arbeit erzählt, so ist das Interesse an der Justiz gereift“, sagt Backen, der in unterschiedlichen Kammern überwiegend im Strafrecht gearbeitet hat. „Ich habe meinen Berufswunsch nie bereut. Es ist ein schöner Beruf, der zwar nicht reich macht, aber nützlich für die Gesellschaft ist. Am Anfang gehen die Fälle auch ins Privatleben mit“, sagt der Schwurgerichtsvorsitzende. „Später kann man besser trennen. Aber es gibt immer noch Fälle, die einen nicht loslassen. Schlimm sind die Taten, bei denen die Opfer sehr gelitten haben oder bei denen die Opfer Kinder sind. Das geht einem auch noch nach 37 Berufsjahren unter die Haut.“

Da ist etwa der Fall eines Mannes, der mit einer Frau, die er über eine Kontaktanzeige kennengelernt hat, intim wird. Als er einschläft, rammt sie ihm mehrmals ein Messer in die Lunge. „Das Opfer sah, wie bei jedem Atemzug Blut aus seiner Lunge strömte. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen, wurde dann aber doch noch gerettet. Er muss schrecklich gelitten haben.“

Und da ist zum Beispiel der Siebenjährige, der miterleben muss, wie seine Mutter vom Vater niedergeschossen wird und tödlich getroffen vom Stuhl rutscht. Ein schreckliches Erlebnis, nach dem der Junge lange therapiert werden muss. „Es hieß damals, dass es ihm so schlecht gehe, dass wir ihn besser nicht vernehmen sollten“, erinnert sich Backen. Doch das Gericht entschloss sich, ihn trotzdem als Tatzeugen zu hören, in einem gesonderten Raum, in dem der Junge über Video nur den Richter sehen konnte und dieser auch als Einziger die Fragen stellte.

„Die Therapeutin, die mit dem Kind unter anderem eine Maltherapie machte, erzählte später, dass der Junge vor seiner Zeugenaussage nur graue und schwarze Farben gemalt hatte, später nahm er vor allem Gelb und Rot, er war wie ausgewechselt. Man kann daran sehen, dass man Kinder auch befreien kann, wenn man mit ihnen über das Erlebte spricht. Es war ein Fall, in dem der Richter gewissermaßen zum Therapeuten wurde.“

Geprägt hat Backen auch ein anderer Fall, den er 1987 verhandelte. 17 Jahre zuvor war eine Fünfjährige tot in einem Abwassergraben gefunden worden, missbraucht und erdrosselt. Ein wegen Sexualdelikten vorbestrafter Mann, der sich auffällig verhielt, wurde festgenommen, beteuerte jedoch seine Unschuld. Er nannte drei Zeugen, die alle sein Alibi bestätigten. Daraufhin fertigte die Polizei einen Vermerk, dass er als Tatverdächtiger ausscheidet. „Doch dieser Vermerk kam durch ein Versehen nicht in die Ermittlungsakten, die Staatsanwaltschaft erfuhr nichts davon“, erinnert sich Backen. Der Mann wurde verhört, gestand schließlich. Im Prozess widerrief er sein Geständnis, wiederholte es dann aber. „Er bekam lebenslänglich, erklärte aber immer wieder, dass er unschuldig verurteilt worden sei.“

Schließlich nahm sich ein anderer Verteidiger, Gerhard Strate, des Falles an, stieß auf die Polizeiakte und fand den Vermerk über das Alibi. Es kam zum Wiederaufnahmeverfahren und am Ende zum Freispruch. „Der Mann hatte 17 Jahre lang unschuldig in Santa Fu gesessen. Für mich war das ein Fall, der mich sehr vorsichtig hat werden und immer einen Blick auf die Polizeiarbeit hat werfen lassen. Gab es beim Verhör Suggestivfragen, oder war es lege artis (nach den Regeln der Kunst, d. Red.)? Im Allgemeinen ist die Polizeiarbeit aber sehr gut. Der Fall zeigte zudem, dass man auch bei einem Geständnis die Idee haben kann, dass es sich um ein falsches Geständnis handelt. Und bei einem Widerruf sollten die Alarmglocken angehen.“

Ein mutmaßlicher Vergewaltiger kam frei

Ein anderer Blickwinkel: „Es kommt auch vor, dass man jemanden ungern freispricht. Wir hatten einen Fall, in dem ich annahm, dass der Angeklagte schuldig ist, es fehlten aber die Beweise. Es galt in dubio pro reo (im Zweifel für den Angeklagten, d. Red.).“ Eine 14-Jährige hatte erzählt, dass sie von ihrem Stiefvater wiederholt vergewaltigt worden sei. Die Mutter schenkte ihr aber keinen Glauben. Schließlich erkrankte die Jugendliche an Bulimie und verstarb daran. Die Mutter fand nach ihrem Tod Tagebücher, in denen die Tochter die Übergriffe schilderte und fragte: „Mami, warum hilfst du mir nicht?“

Die Frau ging mit den Tagebüchern zur Polizei, schließlich wurde der Mann wegen Vergewaltigung angeklagt. „Wir wurden als Richter das Gefühl nicht los, dass an den Vorwürfen etwas dran war. Aber die Schilderungen und insbesondere die Zeiten waren nicht so detailliert, dass man den Mann hätte festnageln können. Wir mussten ihn freisprechen. Ich sehe immer noch den höhnischen Blick von ihm, als er den Saal verließ. Da dachte ich: Das war ein Fehlurteil. Aber es war nichts zu machen. Das war tragisch, auch für die Mutter.“

Es gab auch einen Fall, „bei dem man ein gewisses Mitgefühl für den Täter entwickelt“, sagt Backen. Ein 75-Jähriger, der seine 13 Jahre ältere und sehr kranke Ehefrau über Jahre liebevoll gepflegt hatte und am Ende vollkommen entkräftet und überfordert war, wollte sich das Leben nehmen. „Er überlegte: Was wird mit meiner Frau, wenn ich nicht mehr da bin? Er erstickte sie schließlich mit einem Kissen und versuchte danach, sich vor einen Bus zu werfen, überlebte aber. Wir verurteilten ihn wegen Totschlags und nicht wegen Mordes, weil dies eine feindliche Gesinnung voraussetzen würde, die hier nicht vorlag. Der Mann bekam drei Jahre Freiheitsstrafe. Und die Gnadenabteilung entschied später, dass er die Strafe nicht verbüßen muss.“

Ein außergewöhnlicher Fall war auch der eines Mannes, der eine junge US-Austauschschülerin in einem Hotel mit 180 Messerstichen tötete. Der Mann war psychisch krank. Zum Prozess reisten die Eltern des Opfers an. „Sie machten etwas, was uns fremd war: Sie rollten ein Riesenposter ihrer Tochter aus und zählten eine halbe Stunde lang deren positive Eigenschaften auf. Aus Sicht der Eltern konnte es für den Täter nur eine Strafe geben, nämlich die Todesstrafe.“

Wegen seiner psychischen Erkrankung war er schuldunfähig. Er kam in die Psychiatrie. „Während des Prozesses geschah etwas ganz Tolles: Die Eltern von Täter und Opfer setzten sich in einem Lokal zusammen und stellten fest, dass ihr Schicksal gar nicht so unterschiedlich war: Beide hatten ihre Kinder verloren, die einen, weil die Tochter tot war, die anderen, weil ihr Sohn für unbestimmte Zeit, vielleicht sogar für immer, hinter Gittern sein würde. Und am Ende versöhnten die Eltern sich.“