Hamburg. Politikwissenschaftler Kai-Uwe Schnapp über Populisten, Hass, Gewalt von links und rechts – und die Sorge um unser politisches System.
Am Freitag hat das Abendblatt eine umfassende Bestandsaufnahme der bisherigen Arbeit der Hamburger AfD veröffentlicht. Wie aber könnte es mit der Partei weitergehen? Woher kommt all der Hass in der Gesellschaft – an den Rändern und sogar in der Mitte? Wie stabil ist unser politisches System angesichts von Euro- und Flüchtlingskrise, Terrorismus und dem Siegeszug der Populisten noch? Darüber haben wir mit dem Politikwissenschaftler Kai-Uwe Schnapp von der Universität Hamburg gesprochen. Seine Antworten machen keine Hoffnung auf schnelle Beruhigung der Lage. Immerhin hat er einen konkreten Vorschlag.
Herr Professor Schnapp, die AfD scheint sich im Bund gerade zu zerlegen. Erleben wir nun doch schon das faktische Ende dieser Partei – so schnell wie bei den Piraten?
Kai-Uwe Schnapp: Nein, davon gehe ich nicht aus. So ein Streit ist vielleicht nicht förderlich, aber er ist auch nicht existenzgefährdend. Anders als etwa die Piratenpartei, die ja nur in Teilen des linksliberalen und grünen Milieus unterwegs war, hat die AfD ein relativ großes Milieu als Wählerreservoir. Sie schöpft bei konservativen CDU-Wählern, bei Linken-Wählern, bei extrem rechten und bei vielen bisher frustrierten Nichtwählern Zustimmung und Stimmen ab. Der Brexit zum Beispiel hat ja auch gezeigt, wie stark Ressentiments durchschlagen können.
Würden Sie darauf wetten, dass die AfD in fünf Jahren noch eine Rolle spielt?
Wenn ich dafür oder dagegen wetten müsste, würde ich sagen: Ja, dafür. Nach einer Umfrage, die wir von der Uni aus durchgeführt haben, liegt das Potenzial der AfD sogar in Hamburg bei rund 20 Prozent. Wie viel sie davon wirklich umsetzt, ist eine andere Frage, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie mittelfristig besteht, ist hoch.
Den Deutschen geht es wirtschaftlich so gut wie nie, laut Umfragen sind sie im Schnitt zufriedener als je zuvor – außerdem das beliebteste Land der Welt. Wie passt das zu einer Untergangsstimmung, wie die AfD sie verbreitet oder repräsentiert?
Wohlstand ist ja immer relativ. In manchen Teilen der Welt sind Sie reich, wenn Sie ein Auto besitzen. In Hamburg fühlen Sie sich vielleicht schlecht mit Ihrem alten Astra. Weil Sie sich mit den Fahrern der SUVs an der Alster vergleichen. Die AfD ist letztlich aber vor allem das Ergebnis von zwei parallelen Entwicklungen. Zum einen sind wir alle gebildeter und besser informiert als vorher – und deshalb auch nicht mehr so autoritätsgläubig wie zu Adenauers Zeiten, in denen man gesagt hat: Lass den mal machen, der weiß schon, was er tut. Zum anderen ist die Welt unübersichtlicher geworden. Die Fragen, die wir uns stellen müssen, sei es bei der Arbeit, im Privaten oder in der Politik, werden immer komplizierter. Da wächst dann die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Und so kommen Populisten ins Spiel.
Und denen traut man dann?
Nicht unbedingt. Sie zu unterstützen drückt mehr das Misstrauen gegen die Regierenden aus. Es kommt noch eine sozialpsychologische Komponente hinzu: Sich aufzuregen, gehört wohl zum Menschen – unabhängig von der jeweiligen Situation. Ein Freund von mir kam kürzlich aus dem Libanon zurück und fragte mich in den ersten Tagen: Sag mal, über was für Kleinkram regen sich die Leute hier bloß immer so wahnsinnig auf? Mittlerweile macht er dabei schon wieder mit.
Das Erregungsniveau scheint immer weiter zu steigen. EU-Dauerkrise, Flüchtlingsströme, brennende Flüchtlingsheime, Straßenschlachten und brennende Autos in Berlin, rasante Zuwächse für Rechtspopulisten – müssen wir Angst vor dem Zusammenbruch unseres politischen Systems haben?
Ich frage mich das zuletzt auch manchmal. Die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes nützt uns ja nichts, wenn Leute eine Revolution machen wollen. Ich komme aus der DDR, und dort habe ich eine Revolution erlebt. Eine Demokratie und ein Rechtsstaat sind darauf angewiesen, dass eine hinreichend große Zahl der Bürger bereit ist, ihre Regeln zu akzeptieren und zu verteidigen. Momentan sehe ich eine ziemlich große Zahl von Menschen, die bereit ist, Verfassungsprinzipien infrage zu stellen.
Welche Prinzipien meinen Sie?
Ich rede von elementaren Dingen wie Rede- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit oder dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Bei Teilen der Gesellschaft brechen zivilisatorische Grenzen zusammen. Das finde ich besorgniserregend. Ich finde, dass wir alle mehr zur Verteidigung des Rechtsstaats tun müssen. Das Bewusstsein muss wachsen, dass Rechtsstaat und Demokratie nicht ohne unsere aktive Unterstützung existieren können.
Von wem geht denn die größere Bedrohung aus, eher von links oder rechts?
Das lässt sich so grundsätzlich nicht sagen. Es kann auch eine Bedrohung sein, wenn bei der Mehrheit das Bewusstsein einschläft, wie wertvoll Demokratie und Meinungsfreiheit sind. Auf der einen Seite gibt es indiskutable Methoden etwa der linken Antifa, wie zuletzt diese Steckbrief-Aktion in Wilhelmsburg gegen eine AfD-Politikerin und ihre ganze Familie, oder links zu verortende Gewaltexzesse wie jetzt in Berlin. Auf der anderen Seite muss man konstatieren, dass die AfD auch ganz gezielt und noch stärker als die Antifa damit arbeitet, Menschen an den Pranger zu stellen. Bei Facebook zum Beispiel werden da Politiker der Konkurrenz mit Hass und Häme übergossen – und dann läuft der Netzmob oft los und versucht, diese Menschen per Shitstorm persönlich fertigzumachen. Das ist das Gegenteil einer politischen Sachdebatte. Außerdem muss man sagen, dass mit der AfD nun eine erfolgreiche rechte Partei zumindest in Teilen ihrer Programmatik nicht mehr voll hinter der Verfassung zu stehen scheint.
Was meinen Sie?
Zum Beispiel die Religionsfreiheit. Der Umgang der AfD mit dem Islam kann einem da schon zu denken geben.
Wie schätzen Sie Hamburgs AfD im Vergleich zu anderen Landesverbänden ein?
In Hamburg ist die AfD in ihrem Auftreten eher dem bürgerlich-konservativen Flügel zuzuordnen und nicht als rechtsextrem oder rassistisch einzustufen. Sie geriert sich auch weniger nationalistisch als andere Landesverbände. Mit deutlich rassistischen Bemerkungen kann man in Hamburg auch weniger reüssieren als anderswo. Insofern macht die AfD in Hamburg vor allem der CDU auf deren rechtem Flügel Konkurrenz.
Was kann die Politik tun, um radikaleren Kräften in der Gesellschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen?
Wir müssen alle wieder lernen, dass Leben bedeutet, Kompromisse zu schließen. Niemand kann immer alles bekommen, was er will. Zum anderen denke ich, dass trotz des durchschnittlich hohen Wohlstands immer noch Existenzängste eine große Rolle spielen. Wir wissen heute, dass die stärkste Wählergruppe der NSDAP nicht die Arbeitslosen waren, sondern diejenigen, die noch Jobs hatten, aber gedacht haben: Ich bin als Nächster dran. Solchen Ängsten, die es ja auch heute gibt, muss man sozialpolitisch begegnen. Etwas, das ja diskutiert wird, ist das bedingungslose Grundeinkommen, in dem alle Sozialleistungen zusammengefasst werden. Das würde den Staat in der Summe nicht so viel kosten, weil andere Leistungen dafür abgeschafft würden. Und es könnte helfen, Existenzängste abzumildern und damit auch das allgemeine Erregungsniveau zu senken. Und eines ist ja klar: Ohne Wut und gefühlte Ungerechtigkeit wird niemand radikal.
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