Hamburg. Das Abendblatt hat in den vergangenen Wochen 175 Jahre Stadtgeschichte präsentiert. Ein kritischer Ausblick von Matthias Iken.
Die Elbphilharmonie? Wahnsinn! Die HafenCity? Braucht kein Mensch! Die Perlenkette? Überflüssige Luxusbauten! Hätte der Zeitgeist dieser Tage schon vor 25 Jahren regiert, Hamburg wäre keine bunte, sondern eher eine graue Stadt. Lagerhallen stünden in einer Industrielandschaft, wo jetzt die HafenCity in den Himmel wächst, am Altonaer Fischmarkt wäre noch immer der Straßenstrich zu Hause, statt Ikea stünde an der Großen Bergstraße ein betongrauer Albtraum. Wir würden zwar weniger über Gentrifizierung streiten, dafür wahrscheinlich mehr über Verfall. Hamburg wäre keine wachsende Stadt, sondern Stagnation pur.
Gott sei Dank ist es anders gekommen. Doch so könnte es bald werden, wenn wir so weitermachen wie derzeit. Ein seltsame Lust auf Langeweile, eine Sympathie für den Stillstand, eine satte Selbstzufriedenheit hat die Stadt erfasst. Welches Bauvorhaben ist zuletzt nicht auf Widerstand gestoßen?
Nun ist Kritik nichts Schlechtes, sondern bringt eine Sache meist voran. Doch zu oft ersetzt eine Fundamentalopposition jede konstruktive Kritik.
Auf St. Pauli möchte ein privater Investor den Feldstraßenbunker mit einer grünen Pyramide aufstocken, um dort neben einem Hotel auch ein Mahnmal für die Opfer des Krieges, einen Garten für Besucher und eine Sporthalle für den Stadtteil zu schaffen. Prima Sache, sollte man denken, die faszinierend aussieht und fast zum Nulltarif kommt. Doch überraschend viele sind dagegen, mit teilweise akrobatischen Absurditäten: Elinor Schües, Vorsitzende des Denkmalrats der Stadt Hamburg, etwa lehnt jede Veränderung ab. Dieser Bunker „zeigt uns, was in uns ist und was wir gern verleugnen, nämlich dass auch wir so grausam sein können wie der IS.“ Das sei der „Kern dieses Denkmals“, der nicht verfälscht werden dürfe. Mit diesen Begründungen hätte man, zugespitzt gesagt, nach 1945 auch die Bombenruinen stehen lassen können, und wir würden weiter in Nissenhütten wohnen.
Wer städtebauliche Ideen zur Abstimmung stellt, holt sich ein Nein ab
Olympische Sommerspiele 2024, die in Wahrheit das größte Stadtentwicklungsprojekt Hamburgs verheißen hätten, lehnte die Mehrheit der Hamburger in einer Volksbefragung im November knapp ab. 5000 neue Wohnungen auf dem Grasbrook, neue Verkehrsanbindungen und endlich der Sprung über die Elbe? Verschenkt.
Zuverlässig gilt: Wer fragt, holt sich ein Nein ab. In Ottensen wird zugleich gegen den Bürobau Zeise 2 für eine Werbeagentur auf einem ehemaligen Parkplatz (!) getrommelt und gegen den Abriss niedriger Nachkriegsbauten am Spritzenplatz. Dass Bezirkspolitiker erwogen hatten, am Spritzenplatz den Stararchitekten Daniel Libeskind zu beauftragen, machte die Sache noch verdächtiger. Das Bürgerbegehren gegen diesen futuristischen Bau war erfolgreich, im Fall des Bürobaus Zeise 2 gab es sogar trotz laufender Bauarbeiten einen Bürgerentscheid, der gegen die Büros votierte. Es passt ins Bild, dass in der ganzen Stadt auch Flüchtlingsunterkünfte mithilfe von Gerichten, Unterschriftensammlungen und Blockaden verhindert werden sollen. Man bleibt in Hamburg derzeit am liebsten unter sich. Alles soll bleiben, wie es war. Für die Entwicklung der Stadt sind das keine gute Nachrichten.
Es mutet seltsam an: Der Widerstandsgeist, der diese Stadt in der Vergangenheit vor vielen Verrücktheiten bewahrt hatte, wirkt nun mitunter selbst destruktiv. Früher ging es darum, gigantische Projekte wie das Alsterzentrum, die City West in Ottensen oder die Messe-Erweiterung und damit die Abrissbirnen zu bremsen, nun stoppen Initiativen jede Bauarbeit.
Einige würden die Stadt am liebsten unter Schutz stellen. Nichts soll sich ändern. So menschlich dieses zutiefst konservative Gefühl auch ist, eine Stadt darf nicht so konservativ werden. Eine Metropole ist so attraktiv wie die Stimmung, die sie verbreitet. Offen sein für Neues, positiv-kritisch gegenüber dem Bestehenden. Und zuversichtlich. Indes: Diese Ressourcen scheinen in Hamburg langsam zur Neige zu gehen.
Aller Widerstand aber wird das Wachstum der Stadt kaum bremsen
Vielleicht ist diese Sichtweise zu negativ: Hamburg wird trotzdem wachsen – nicht nur durch Migration, sondern auch durch Zuzüge aus dem Umland. Großstädte sind die Gewinner der Wanderungsbewegungen. Zwei Millionen Einwohner in Hamburg, die man einst schon in den 60er-Jahren erwartet hatte, dürften spätestens zur Jahrhundertmitte erreicht sein. Die Allianz und Prognos haben den deutschen Wohnungsmarkt bis zum Jahr 2045 untersucht und erwarten in knapp 30 Jahren 1,99 Millionen Einwohner in der Hansestadt. Die Politik rechnet noch früher mit dem Überspringen der magischen Marke. Demnach könnte es schon 2030 so weit sein.
Die Richtung ist unter Fachleuten unumstritten. „Es gibt einen großen Trend zurück in die großen Städte, wovon Hamburg profitiert“, sagt Alkis Otto, Forschungsbereichsleiter am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI). Zugleich gilt: Je attraktiver sich eine Metropole entwickelt, desto mehr Zuzügler zieht sie an. Wer nicht wächst, fällt rasch zurück.
Metropolen befinden sich in einem weltweiten Wettbewerb. Es geht um gute Jobs, um Lebensqualität, um bezahlbare Wohnungen, um Sicherheit, um Kitaplätze, um mannigfaltige Kulturangebote, eine tolerante Atmosphäre in einer Stadt. Vieles hängt an Bürgern und Unternehmen, Politik kann dafür nur den Rahmen setzen.
Ein wichtiger Regler, das hat Bürgermeister Olaf Scholz schon im Wahlkampf 2011 entdeckt, ist der Wohnungsbau. Inzwischen kalkulieren Experten mit 11.000 Wohnungen, die jährlich nötig sind; Scholz hat sein Ziel inzwischen von 6000 auf 10.000 neue Einheiten hochgesetzt. Im nächsten Jahrzehnt wird die HafenCity vollendet. Dort im Baakenhafen besinnt sich die Stadt auf erfolgreiche Modelle aus der Vergangenheit – Oberbaudirektor Jörn Walter zieht den Vergleich zur Isestraße. Das Viertel bietet viele Grünflächen, aber weniger Platz für Autos. 2000 Wohnungen entstehen dort, Häuser am und im Wasser, mit gefördertem Wohnungsbau, Platz für Genossenschaften und Baugemeinschaften.
Die Neue Mitte Altona und die Entwicklungsgebiete im Hamburger Osten an Bille und Elbe bergen weiteres Wachstumspotenzial – und der Grasbrook. „Der Sprung über die Elbe muss gelingen, wir müssen auf dem Kleinen Grasbrook beginnen, die Veddel gewinnen – und nicht alles von den Kreuzfahrtschiffen beherrschen lassen“, rät Mathias Hein, Architekt und Redaktionsleiter des Buches „Hamburg und seine Bauten 2000–2015“. Er mahnt: „Wir müssen bei der Flächengewinnung vorsichtig sein. Wir kommen an einen Punkt, an dem zu viele Frei- und Grünflächen unter dem Druck des Marktes verschwinden.“ Auch die derzeit populäre Idee, Gründerzeithäusern Hightech-Geschosse aufzupflanzen, sieht er kritisch. „Die Lage am Wasser, das Grün und der Maßstab mit seiner Silhouette prägen die Stadt; sie machen Hamburg aus.“
Im Mitmachen liegen auch Chancen – so bei den Esso-Häusern
In der weit verbreiteten Kritik an der Stadtentwicklung kann auch eine Chance liegen. So viele Menschen wie nie zuvor interessieren sich für ihre Stadt. Die Initiative Esso-Häuser hat in einem nicht immer einfachen Planungsprozess dem Investor eine deutlich sensiblere und passendere Bebauung am Spielbudenplatz abgerungen. Das Wunder von der Rettung des Gängeviertels erlebte eine Neuauflage.
Eine Metropole lebt vom Mut, Stadtentwicklung vom Mitmachen. Spannend wird, ob Hamburg seinen Weg zwischen Langeweile und „laissez faire“, zwischen Blockade und Betonorgien auch in Zukunft findet.