Hamburg. Ralf C. hatte 3,4 Kilogramm Marihuana zu Hause und wurde vom Gericht verurteilt. Doch der chronisch Kranke hat nicht gedealt.

Immer wieder verzieht er schmerzverzerrt das Gesicht, Ralf C. leidet, das sieht man gleich. In den Knien, in den Fingern, am unteren Rücken, in der Schulter, an praktisch jeder Stelle martern den 49-Jährigen Schmerzen, die so unerträglich sind, dass er manchmal fast das Bewusstsein verliert. „Es ist wie ein Messer, das dir jemand reinhaut“, sagt er. Nachts schreit er häufig laut auf, weil ihm alles wehtut. Inzwischen schlafen seine Frau und er in getrennten Zimmern.

Ralf C. hat alle möglichen Medikamente ausprobiert, richtig geholfen hat keines. Von Ibuprofen bekam er Magenprobleme, andere Schmerzmittel schlugen gar nicht an. Linderung verschaffte dem 49-Jährigen erst der intensive Konsum der (illegalen) Droge Marihuana.

Betäubungsmittel anzubauen ist streng verboten - wie sieht es mit Medizin aus?

Bis zu zehn Joints rauchte er täglich, um die Schmerzen in Schach zu halten. Das Gras dafür baute er zwei Jahre lang zu Hause an – bis die Polizei im Juli 2015 sein Haus durchsuchte und 3,4 Kilogramm Marihuana sicherstellte, zum Teil verwahrt in Tupperdosen, die überall im Gebäude herumlagen. Betäubungsmittel anzubauen und herzustellen ist in Deutschland aber streng verboten. Das Amtsgericht Barmbek hat Ralf C. deshalb jetzt zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt.

„Ich lasse mich nicht kriminalisieren“, sagt Ralf C., ein hagerer Mann, den seine chronische Arthritis/Arthrose in eine gekrümmte Haltung gezwungen hat. Die entzündliche Gelenk­erkrankung hat auch die Finger anschwellen lassen. Möglicherweise will er mit seiner Verteidigerin Alexandra Wichmann das Urteil anfechten.

Seitdem die Polizei seine Zuchtausrüstung mitgenommen hat, habe er nicht mehr gekifft, sagt Ralf C. Seitdem gehe es ihm deutlich schlechter. Sein Arzt verschrieb ihm zwar Tilidin, ein synthetisches Opiat. 250 Milligramm nahm er täglich, 50 Milligramm weniger als die höchste Dosis. Doch wegen der starken Nebenwirkungen habe er das Medikament abgesetzt. „Jetzt bin ich auf Entzug, habe Schweißausbrüche und Muskelzittern.“

Die berauschende Wirkung ist verflogen, nicht aber die schmerzlindernde

Ralf C. will unbedingt wieder Hanf anbauen, nichts habe besser geholfen gegen die rasenden Schmerzen als Marihuana. Die berauschende Wirkung der Droge, deretwegen die meisten sie überhaupt konsumieren, sei bei ihm mit der Zeit verflogen – nicht aber ihre schmerzlindernde. Seine Chancen, eine Ausnahmegenehmigung beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte zum legalen Anbau von Hanf zu erwirken, dürften nun deutlich gestiegen sein. Vor wenigen Tagen entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass Schmerzpatienten der Anbau zu Hause ausnahmsweise ermöglicht werden muss, sofern ihnen keine andere erschwingliche Therapiemöglichkeit zur Verfügung steht. Ein Mann, der vor 30 Jahren an Multipler Sklerose erkrankt war, hatte sich erfolgreich durch drei Instanzen geklagt.

Die Wirksamkeit von Hanf und dessen Wirkstoff THC in der Schmerztherapie ist durch wissenschaftliche Studien belegt. Zwar können Patienten mit einer speziellen Erlaubnis Cannabis auch in der Apotheke kaufen. Ak­tuell machen 663 Patienten in Deutschland und 15 in Hamburg davon Gebrauch. Doch liegen die Behandlungskosten je nach Tagesbedarf bei bis zu 1800 Euro pro Monat. „Das kann ich mir nicht leisten“, sagt Ralf C. „Und man weiß ja auch nicht, was für ein Mist beim Straßendealer alles drinsteckt.“ Also habe er das Hanf eben selber angebaut.

Aus Angst vor Lungenschäden rauchte er das Cannabis nicht pur

Gemessen an der Menge Cannabis, die der 49-Jährige zu Hause geerntet hatte, muss man Ralf C. wohl einen grünen Daumen attestieren. In seinem Keller schuf er mit professionellem Equipment – Heizlampen, Bewässerungsanlagen, speziellem Dünger – optimale Wachstumsbedingungen für 30 Pflanzen. Nach der Ernte trockneten sie an der Wäscheleine auf dem Dachboden. Ralf C. hatte den Raum so versiegelt, dass das intensive Hanf-Aroma nicht nach außen dringen konnte. Das Marihuana rauchte der 49-Jährige aus Angst vor Lungenschäden indes nicht pur; er siebte die Cannabis-Blüten und zerrieb sie zu einem Pulver, das er in den Tabak streute. Die Reste verbuddelte er im Komposthaufen. Im Internet sammelte der 49-Jährige zudem Tipps, wie sich Qualität und Ertrag erhöhen lassen.

Anfangs war seine Ausbeute mickrig, am Ende steigerte er den Ertrag um den Faktor 30. „Als ich sah, wie viel Marihuana ich plötzlich hatte, war ich – ehrlich gesagt – ziemlich entsetzt“, sagt Ralf C. Das hatte einen ganz praktischen Grund. „Ich wusste schlicht nicht, wie ich das Zeug unauffällig entsorgen konnte.“

In Hamburg sind bis zu 15 Gramm Eigenbesitz meist straffrei

Vier Kilogramm Marihuana erntete er im Januar 2015. 3,4 Kilo waren noch übrig, als die Ermittler sieben Monate später sein Haus durchsuchten. In Hamburg werden bis zu 15 Gramm Cannabis zum Eigenkonsum als „geringe Menge“ eingestuft, in solchen Fällen kann von einer Strafverfolgung abgesehen werden. Die bei Ralf C. sichergestellte Menge überstieg diesen Wert um das 226-Fache. Allein die schiere Menge nährte den Verdacht, der 49-Jährige habe die Droge nicht nur zur Selbstmedikation genutzt, sondern auch damit gedealt. Beim Termin im Amtsgericht am vergangenen Freitag musste ein Drogenfahnder allerdings einräumen, dass man „keine Hinweise auf einen Drogenhandel durch Herrn C.“ ermittelt habe. Keine Digitalwaage, keine Tütchen, kein Dealgeld, keine Hinweise auf Kunden. Der Staatsanwalt mochte trotzdem nicht vom Vorwurf des Handeltreibens lassen. Den sah das Gericht am Ende allerdings nicht.

Ralf C. hat zum Kiffen ein ambivalentes Verhältnis. Er habe mit „der Szene“ nie etwas zu tun haben wollen; er findet, dass sehr junge Menschen keine Joints rauchen sollten. „Da bin ich ganz der Spießer“, sagt er. Der 49-Jährige lebt mit seiner Familie in einem typischen Einfamilienhaus, der Sohn will Ingenieur werden, die Frau arbeitet im Controlling und verdient das Geld. Ralf C., gelernter Zimmermannsmeister, kann wegen der Schmerzen schon seit zehn Jahren nicht mehr arbeiten.

Stromverbrauch von 18.000 Kilowattstunden in 19 Monaten

Wie gerät einer wie Ralf C. in den Fokus der Drogenfahndung? Durch den E-Mail-Verkehr eines Versandhandels für Hanf-Utensilien, gegen den die Polizei ermittelte. In einer Bestellliste war der Name von Ralf C. aufgetaucht. Die Beamten prüften den Stromverbrauch der Familie, der mit 18.000 Kilowattstunden in 19 Monaten deutlich über dem Durchschnitt lag. Ende April 2015 erfassten Sensoren eines Polizeihubschraubers beim Überflug des Hauses eine erhöhte Wärmestrahlung aus dem Gebäude, die auf den Betrieb von Stark-Lampen hindeutete. Das reichte für einen Durchsuchungsbeschluss.

Vermutlich müssen Schmerzpatienten wie Ralf C. künftig gar nicht mehr selbst anbauen. Im Januar hat das Bundesgesundheitsministerium ein Gesetz auf den Weg gebracht, das es ermöglichen soll, Patienten Cannabis auf Kassenrezept zu verschreiben.