Hamburg. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfasste Hamburg eine Welle der Zuversicht. Der Senat proklamierte die „Wachsende Stadt“.
Das 21. Jahrhundert begann an einem kalten Frühlingstag im Mai 1997. Vor den Mitgliedern des traditionsreichen Überseeclubs zauberte Bürgermeister Henning Voscherau am Abend des 7. Mai überraschend einen neuen Stadtteil aus dem Hut: die HafenCity. Jenseits der Speicherstadt bis zu den Elbbrücken sollte die Innenstadt um rund 50 Prozent wachsen.
Ein Gebiet, so groß und vielen Hanseaten so fremd, dass Voscherau erst einmal etwas weiter ausholen musste: „Stellen Sie sich vor, man nimmt das große Zeichen HHLA weg, bricht da durch, baut eine Panoramascheibe ein. Dann hat der, der dahinter arbeitet, einen Blick bis hin zur Kugelbake! Also: von der Niederbaumbrücke zur Ericusspitze, das Gebiet zwischen dem Dalmannkai, Grasbrookhafen, Versmannkai, Petersenkai, Kirchenpauerkai, Baakenhöft − ein riesiges Gelände.“
Auf weit mehr als 100 Hektar sollte ein neuer Stadtteil mit Wohnungen, Büros und Kulturhäusern wachsen. „Es geht um die Rückkehr an die Elbe“, sagte der Bürgermeister, sprach von einem Generationenprojekt, vom „Think Big“ – und traf nicht nur den Nerv der Clubgäste, sondern der ganzen Stadt. Die Handelskammer, sonst Plänen des SPD-Senats gegenüber eher hanseatisch-reserviert, nannte den Vorschlag „außerordentlich positiv“, das Abendblatt lobte den „großen Wurf“, die oppositionellen Grünen klatschten Beifall – und der CDU verschlug es die Sprache. Sie musste sich erst einige Tage Bedenkzeit erbeten, um sich von diesem Schock zu erholen.
Eine gigantische Stadterweiterung – kein Projekt für Angsthasen
Politik und Verwaltung gelang bei der Planung der HafenCity ein Coup. Seit 1991 hatte ein kleiner Kreis um Bürgermeister Voscherau und HHLA-Chef Peter Dietrich im Verborgenen gearbeitet, der Hamburger Architekt Volkwin Marg eine vertrauliche Studie über die städtebauliche Entwicklung des Hafenrands verfasst. Über Strohmänner kaufte die Stadt dann heimlich Grundstücke und Gebäude in dem Entwicklungsgebiet auf, um jeder Spekulation einen Riegel vorzuschieben. 1997, einige Monate vor der Wahl, konnte der Bürgermeister dann mehr als eine bescheiden formulierte „Vision Hafencity“ bieten.
Danach ging es für deutsche Verhältnisse schnell: Die Stadt lobte im April 1999 einen städtebaulichen Ideenwettbewerb aus, der ein halbes Jahr später entschieden wurde. Am 29. Februar 2000 verabschiedete der Senat den Masterplan für die HafenCity: Sie würde Hamburg für viele Jahrzehnte prägen, zu einem Modell der Stadt der Zukunft werden oder ein Bild des Scheiterns. Ein solches Projekt war nichts für Angsthasen.
Diese Jahre markieren eine Zeit des Aufbruchs. Wie keine zweite westdeutsche Stadt profitierte Hamburg vom Fall der Mauer. Bis 1989 war Hamburg Peripherie – Ahrensburg gehörte schon zum Zonenrand – und fand sich über Nacht im Herzen Europas wieder. Der darbende Hafen bekam sein Hinterland zurück und wuchs stürmisch. Viele, oft gut gebildete Ostdeutsche, zogen in die Stadt. Die Einwohnerzahl Hamburgs stieg von 1,63 Millionen (1989) über 1,72 Millionen (2000) auf 1,79 Millionen (2011). Im Jahr 2020 könnten es 1,87 Millionen und 2030 sogar 1,9 Millionen Menschen sein.
Wohnungsbau wurde lange vernachlässigt
Die CDU, die 2001 die Senatskanzlei übernahm, klebte der Stadt das pfiffige Leitbild „Wachsende Stadt“ auf und setzte zum „Sprung über die Elbe“ an. Die Metropole im Norden verwandelte sich plötzlich in eine Boomtown und rückte in den Blickpunkt nationaler wie internationaler Investoren. Bürgermeister Ole von Beust und sein Stratege, der Finanzsenator Wolfgang Peiner, hatten die Stadt zurück auf die Weltkarte gebracht.
Nicht nur in der HafenCity drehten sich die Kräne. Die Perlenkette, die Neugestaltung des heruntergekommenen Elbufers in Altona, schritt voran, die Umgestaltung ehemaliger Gewerbeflächen in moderne Viertel mit gemischter Nutzung nahm Formen an – ob in Hoheluft mit dem Falkenriedquartier, auf St. Pauli mit dem ehemaligen Astra-Gelände oder den Kühnehöfen in Bahrenfeld.
Das war erst der Anfang. Längst wandelt sich die Stadt weiter mit ambitionierten Großprojekten wie der „Neuen Mitte Altona“ oder „Stromaufwärts an Elbe und Bille“ im Osten. Anders als zum Beginn des Jahrtausends spielt der Wohnungsbau eine zentrale Rolle. Lange war dieser vernachlässigt worden und avancierte so zum Spitzenthema bei der Wahl 2011, die dem SPD-Herausforderer Olaf Scholz eine absolute Mehrheit bescherte. Der neue Bürgermeister versprach, jährlich 6000 Wohnungen zu bauen – eine Zahl, die er inzwischen auf 10.000 hochgeschraubt hat.
Damit kehrt Hamburg auf das Niveau des Jahres 1995 zurück. „Der Wohnungsbau war lange Zeit nicht lukrativ“, erklärt Mathias Hein, Architekt und Redaktionsleiter des jüngst erschienenen Standardwerkes „Hamburg und seine Bauten 2000– 2015“. „Die Zinsen waren hoch, die Mieten deutlich niedriger als im Bürobereich.“ Das sollte sich ändern. 2011 schloss der Senat ein öffentlichkeitswirksames „Bündnis für das Wohnen“, das Baugenehmigungen beschleunigt und zugleich einen Drittelmix vorsieht: Bei großen Bauvorhaben soll mindestens ein Drittel aus Sozialwohnungen bestehen, ein weiteres Drittel frei finanzierte Mietwohnungen sein und ein Drittel Eigentumswohnungen.
Inzwischen aber stößt die Wohnungsbauoffensive auf Argwohn und Widerstand, weil sich die Stadt immer weiter in die Landschaft frisst. Stadtentwicklung ist längst kein Nischenfach mehr, in dem Architekten und Städtebauer unter sich bleiben, sondern ein hochemotionales Streitthema. Das ist in Hamburg spätestens seit 2009 klar. Damals verfassten Künstler und Publizisten ein kluges Manifest unter dem etwas sperrigen Titel „Not in our name, Marke Hamburg“.
Darin heißt es: „Eine Stadt ist ein Gemeinwesen. Wir stellen die soziale Frage, die in den Städten heute auch eine Frage von Territorialkämpfen ist. Es geht darum, Orte zu erobern und zu verteidigen, die das Leben in dieser Stadt auch für die lebenswert machen, die nicht zur Zielgruppe der ,Wachsenden Stadt‘ gehören.“ Gentrifizierung, ein Fachbegriff aus Soziologie-Seminaren, wurde zum Schlagwort für Straßenfeste.
Die Menschen mischen sich ein – und manche Präsentation auf
Es blieb nicht bei bloßer Rhetorik. Kurz zuvor hatten Künstler die rudimentären Reste des Gängeviertels am Valentinskamp besetzt. Diese Keimzelle der Stadt war längst an Investoren veräußert worden und in Teilen zum Abriss vorgesehen, bevor eine breite Front des Widerstands den Senat zur Rückabwicklung zwang. Seitdem ist klar: Ohne Bürgerbeteiligung lässt sich keine Stadt entwickeln. Das mag mitunter mühsam und kräftezehrend sein, wie das Tauziehen um die Neubebauung der „Esso-Häuser“ am Spielbudenplatz zeigt.
Zugleich aber wächst die Hoffnung, dass sich städtebauliche Sünden wie das gesichts- und geschichtslose Bavaria-Quartier, das wie ein Fremdkörper St. Pauli verfremdet, in Zukunft nicht wiederholen. Hein sieht die Bürgerbeteiligung als zweischneidiges Schwert. „Natürlich sollen die Menschen sich konstruktiv einbringen.“ Das sei sehr zu begrüßen, berge aber stets auch die Gefahr, dass Partikularinteressen bei einzelnen Projekten die Oberhand gewinnen und sinnvolle Projekte torpedieren.
Die öffentliche Kritik ist überall lauter geworden – sie verhinderte nicht nur den Kristall auf dem Domplatz, sondern reibt sich etwa an den „Premium-Glaszähnen“ der Investorenarchitektur. Auch die HafenCity musste manch architekturkritische Breitseite verkraften. Die „Süddeutsche Zeitung“ meckerte 2010 über einen „schwachen Abklatsch der Bauweise des frühen 20. Jahrhunderts“, die „FAZ“ kritisierte 2011 die HafenCity als das „beste Beispiel fürs Desaster der Stadt“, der Hamburger Architekt Hadi Teherani sprach 2008 vom „großen Würfelhusten am Wasser“.
Die Tanzenden Türme haben viele Kritiker von Glas und Stahl versöhnt
Inzwischen ist die Kritik leiser geworden, auch weil Einheimische wie Besucher den neuen Stadtteil annehmen, dort flanieren, ausgehen, leben. „Es ist wahnsinnig schwierig, eine so große Struktur zu gestalten – auch international werden die Ergebnisse inzwischen viel beachtet“, sagt Hein. Den Magdeburger Hafen mit dem Maritimen Museum im ehemaligen Kaispeicher B lobt er sogar als „architektonisches und städtebauliches Juwel“.
Beim Blick auf die 15 Jahre des neuen Jahrtausends fällt auf, dass eine gemeinsame Überschrift für Städtebau oder Architektur kaum zu finden ist. „Es ist relativ schwierig, einen eindeutigen Trend zu identifizieren, die Zeit der Dogmen ist vorbei“, meint Hein. Insgesamt übe sich die Stadt in Understatement, setze wenig auf Namedropping und Moden, sondern nimmt sich zurück.“ Zugleich lobt er Oberbaudirektor Jörn Walter, der seit 1999 das Antlitz der Stadt prägt: „Er hat eine große Sensibilität im Umgang mit der Stadt entwickelt, auch wenn man ihm sicher nicht in jedem Einzelfall zustimmen muss.“
Die anfängliche Vorliebe Hamburgs für Spektakuläres, oft in Glas und Stahl, hat sich zuletzt etwas gelegt und zugleich einen späten Höhepunkt erfahren – mit den Tanzenden Türmen. Auch wenn sich mancher über den Teherani-Bau am Tor zur Reeperbahn mokiert, viele Bürger und auch ihr Meister Olaf Scholz finden das Hochhaus „klasse“.
Eine Einschätzung, die bald vermutlich die lokalpatriotischen Hamburger in Sachen Elbphilharmonie teilen werden. Bauverzögerungen und die Kostenexplosion dieser „Kathedrale des 21. Jahrhunderts“ waren schmerzensreich, doch der Stolz der Hamburger auf das von ihnen Geschaffene hat am Ende stets obsiegt. Hamburg bekommt ein neues Wahrzeichen – das Werk unserer Generation. Sie wird viele Bausünden, aber auch Perlen für Jahrzehnte überstrahlen. Wetten, dass?
Nächste Woche: Die Lehrer aus der Baugeschichte für die Zukunft