Der Künstler Gunter Demnig verlegt seit 1993 die Mahnmal-Plaketten in ganz Europa. Die Stolpersteine stoßen auch auf Kritik.

Wie war Bela als Baby? Freundlich und fröhlich, unbändig in ihrer Neugierde auf die Welt, eine beherzte Entdeckerin – oder eher zaghaft und schüchtern? Welche Talente schlummerten in ihr? Was bereitete ihr Freude, was brachte sie zum Lachen, was zum Weinen? Wie sah die Kleine aus? Welche Wörter konnte sie schon sprechen, als ihr Tod näher rückte, von dem sie nichts ahnen konnte?

Auf all diese Fragen gibt es keine Antworten, auch Fotos fehlen. In öffentlichen Akten finden sich nur wenige Angaben über das jüdische Mädchen. Bela kam am 16. Januar 1941 in Hamburg zur Welt. Mit ihren Eltern Ella und Bernhard Feldheim und der acht Jahre alten Schwester Ingeborg wohnte sie im Valentinskamp 46 am Rand des Gängeviertels – bis sie am 11. Juli 1942 zusammen mit ihrer Mutter und der Schwester nach Auschwitz deportiert wurde. Bernhard, der Vater, war schon 1941 nach Minsk deportiert worden.

In Auschwitz, dem größten nationalsozialistischen Vernichtungslager, schickten SS-Leute die Mutter und ihre beiden Töchter nach der üblichen Selektion wohl direkt in die Gaskammer. Bela wurde – kaum 18 Monate alt – aus dem Leben gerissen, bevor sie darin Spuren hinterlassen konnte.

Ob die Eltern je erwogen hatten, aus Deutschland zu fliehen? Dafür fehlten ihnen wohl die Mittel. Das Paar stammte aus ärmlichen Verhältnissen, war auf die Fürsorge angewiesen. Als Ella Feldheim im Februar 1933 in Hamburg ihre erste Tochter zur Welt brachte, war Adolf Hitler gerade zum Reichskanzler ernannt worden. Damals wohnte die junge Familie noch zur Untermiete an der Winkelstraße.

Erst 1936 konnten die Feldheims ihren eigenen Haushalt gründen. Zu dieser Zeit wurden die deutschen Juden durch die Nürnberger Gesetze „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ zunehmend geächtet. Als fünf Jahre später Bela geboren wurde, stand die systematische Massendeportation der Juden in den Osten kurz bevor.

Der 5000. Hamburger Stolperstein erinnert an ein ermordetes Baby

Die Adresse Valentinskamp 46 existiert heute nicht mehr. Die Hausnummern 45 und 47 gehören zu einem fünfstöckigen, weiß verputzten Neubau, in dessen Erdgeschoss ein thailändisches Restaurant, ein Fahrradgeschäft und ein Friseur- und Nagelsalon untergebracht sind.

An das Schicksal der Feldheims erinnerte hier bisher nichts. Das soll sich am Dienstag ändern: Am Vormittag wird der Kölner Künstler Gunter Demnig in den Gehweg vor dem Gebäude vier Betonwürfel einsetzen, deren Oberseiten mit Gedenktafeln aus Messing versehen sind. Darin eingraviert sind Namen, Geburts- und Todesdaten der Familie. Stolpersteine nennt der 68-Jährige sein 1993 begonnenes Projekt, das er den Opfern des Nazi­regimes widmet. Wer eine der Gedenktafeln auf dem Boden erblickt, soll innehalten, sinnbildlich hängen bleiben an einem Schicksal, „mit dem Kopf und dem Herzen stolpern“, zitierte Demnig einmal die Worte eines Schülers.

Die Präsidentin der Bürgerschaft, Carola Veit (SPD), wird die neuen Stolpersteine an diesem Dienstag um 12 Uhr bei einer öffentlichen Zeremonie einweihen. Der Stein, der der kleinen Bela gewidmet ist, wird der 5000. Stolperstein in Hamburg sein.

„Vielen Menschen ist ja nicht bewusst, dass auch Schwangere und Babys in den Konzentrationslagern ermordet wurden“, sagt Peter Hess, Koordinator des Stolperstein-Projekts in Hamburg. Der 72-Jährige entstammt einer Hamburger Unternehmerfamilie. Nach dem Verkauf des Betriebs betätigte er sich unter anderem als Kunstsammler – bis er 2001 von Gunter Demnigs Projekt erfuhr und beschloss, die Stolpersteine in die Hansestadt zu holen.

Aufgewachsen in der Nachkriegszeit, habe er auf Fragen an seine Eltern und Verwandte, ob sie während der Nazizeit Juden gesehen hätten, die immer gleiche Antwort erhalten: „Nein, es gab hier keine Juden.“ Hess forschte nach, stellte fest, dass etwa im Hamburger Grindelviertel sehr viele Juden gelebt hatten. „Wenn hier Stolpersteine liegen würden“, habe er gedacht, „könnte niemand leugnen, dass diese ermordeten Juden hier gelebt haben.“

Es dauerte allerdings fast ein Jahr, bis er die behördliche Genehmigung erhalten habe, erzählt Hess. Vom Tiefbauamt Hamburg-Eimsbüttel hieß es zunächst, er müsse die Rutschfestigkeit der Steine nachweisen. In Gang gekommen sei die Sache erst durch den Bezirksbürgermeister Jürgen Mantell, der für das Projekt plädierte – trotz der Proteste einiger Abgeordneter der Schill-Partei. „Die sagten: Macht doch lieber was für Deutsche, für Soldaten, für Bombenopfer“, erzählt Hess. Nach und nach habe er dann die Genehmigungen für die anderen Hamburger Bezirke eingeholt. Als Schirmherrin gewann er Bischöfin Maria Jepsen.

Die Stolpersteine haben neben Befürwortern auch etliche Kritiker

Nicht nur in Hamburg, auch bundesweit und international ist das Projekt sehr erfolgreich. Nach Angaben von Gunter Demnig liegen inzwischen 57.000 Stolpersteine in mehr als 1000 Orten Deutschlands und in 20 Ländern Europas. Viele jüdische Gemeinden und prominente Juden wie der Vizepräsident des Zentralrats, Salomon Korn, befürworten das Projekt. Es gibt allerdings auch etliche Gegner.

In München wird seit Jahren das Für und Wider der Mahnmale diskutiert. Im vergangenen Jahr bestätigte der Stadtrat mit großer Mehrheit ein Verbot, das bereits seit 2004 besteht. Einfluss darauf hatten wohl vor allem die Israelitische Kultusgemeinde München und deren Präsidentin Charlotte Knobloch, die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Knobloch hält es für „unerträglich“, dass Namen ermordeter Juden auf Tafeln im Boden eingelassen sind, auf denen mit Füßen „herumgetreten“ werde. Das Stolperstein-Projekt sei zwar gut gemeint. Ihrer Ansicht nach wird das Gedenken an die Opfer aber auf diese Weise „geschändet und beschmutzt“.

Einige Städte in Bayern und Nordrhein-Westfalen beriefen sich ebenfalls auf Knoblochs Argumentation. Tatsächlich kommt es immer wieder vor – auch in Hamburg – dass Stolpersteine etwa mit schwarzer Farbe besprüht, dass sie beschmiert oder beschädigt werden, zum Teil von Rechtsextremen. Allerdings gibt es auch viele Bürger und Schülergruppen, die die Messingplatten regelmäßig reinigen.

Die zweite große Kontroverse dreht sich darum, wie Gunter Demnig einige Stolpersteine beschriftet. Diese sind nicht nur ermordeten Juden gewidmet, sondern allen Opfern des Nationalsozialismus, auch Prostituierten, Bettlern und Kleinkriminellen, die von den Nazis als „Gewohnheitsverbrecher“ oder als „Volksschädling“ bezeichnet und verurteilt wurden. Diese Menschen waren Opfer der NS-Justiz, nicht der NS-Rassenideologie. Demnig will diesen Unterschied auf den Stolpersteinen zeigen. Dazu setzte er den Verurteilungsgrund zunächst nur in Anführungszeichen. So kam es, dass etwa auf dem Hamburger Stein für Erna Lieske „Gewohnheitsverbrecherin“ stand. „Als ich das sah, war ich total geschockt“, sagte Enkelin Liane der „taz“, die 2014 über den Fall berichtete. „Wie kann man ausgerechnet auf einem Gedenkstein die Sprache der Täter verwenden?“ Peter Hess sorgte dann dafür, dass der Stein ausgetauscht wurde.

Demnig fand lange, die Parenthesen seien ausreichend; der Betrachter verstehe schon, wie das gemeint sei. Nachdem allerdings auch Zentralratspräsident Josef Schuster vorsichtige Kritik an der Kennzeichnung äußerte, setzt Demnig nun ein „sogenannt“ bzw. „sog.“ vor solche Begriffe. Ganz weglassen möchte er sie aber nicht.

„Ich persönlich könnte auf die Begriffe verzichten“, sagt Peter Hess. Auch die Forscher des Projekts „Biografische Spurensuche“ in Hamburg betonen, sie seien für die Inschriften auf den Stolpersteinen nicht verantwortlich und hätten „oftmals andere Begrifflichkeiten gewählt“ oder „auf einzelne Verfolgungstatbestände in der Inschrift verzichtet“. Aber der Künstler sei in seiner Gestaltung autonom.

Für die dritte große Kontroverse sorgte 2014 der Publizist Daniel Killy mit einem Kommentar in der „Jüdischen Allgemeinen“. Darin warf er Demnig vor, „Millionenumsätze mit den Opfern des millionenfachen Mordens“ zu machen, weil ein Stolperstein 120 Euro koste und Demnig zu dieser Zeit schon 48.000 der Betonwürfel verlegt hatte. Das sei „Opfergedenken als politisch korrekt ummantelter Businessplan“. Demnig ist nach Ansicht von Killy „ein prägnantes Beispiel für eine spezielle Form bundesrepublikanischen Gedenkmonopols“. Dieses zeichne sich dadurch aus, dass nicht jüdische Menschen wie Lea Rosh, die Vorsitzende des Förderkreises Denkmal für die ermordeten Juden Europas, darüber befänden, welches Shoa-Gedenken adäquat sei.

Kritiker Killy legt nach und spricht vom „Gedenkmonopol der Täterkinder“

Im Gespräch mit dem Abendblatt legt Killy nach, spricht von einer „Hehlerei mit der Erinnerung“. Ihn störe, dass es ein „Gedenkmonopol der Täterkinder“ gebe. „Die Haltung der Opferkinder kommt deutlich zu kurz.“ Der Publizist, der ehrenamtlich als Sprecher der jüdischen Gemeinde in Hamburg arbeitet, aber Wert darauf legt, sich hier nicht in dieser Funktion zu äußern, erntete für seine Form der Deutung scharfe Kritik: Er sei ein „armseliger Wicht“, schrieb Lea Rosh. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hamburg, Bernhard Effertz, sagt, der Artikel sei Killys persönliche Meinung. „Der Vorstand und die jüdische Gemeinde unterstützen die Aktion mit den Stolpersteinen schon seit Jahr und Tag.“

Gunter Demnig atmet tief aus, als es um Killys Einlassungen geht. „Ein Künstler darf also kein Geld verdienen? Ich verstehe diesen Vorwurf einfach nicht. Dieselbe Kritik kommt auch von Neonazis.“ Demnig sagt, er treffe immer wieder Angehörige, „die sich genau diese Form des Gedenkens wünschen“.

Der Künstler hat erst von August an wieder Termine für Verlegungen frei. „Die Verlegungen sind keine Routine“, schreiben er und sein Team auf der Internetseite. „Jedes Schicksal bewegt uns und soll bewegen.“