Fünf Studierende begaben sich auf die Suche nach Spuren ermordeter Juden aus der Stadt. Dafür erhielten sie den Joseph-Carlebach-Preis.

Die Lehramtsstudentin Özlem Alagöz-Bakan, 25, kann sich noch gut an jenen Sommertag 2014 erinnern. Sie saß in ihrer Hamburger Wohnung und wählte eine Telefonnummer in Israel. 9722 für Jerusalem – und dann den Anschluss von Johanan Flusser, einem Neffen des berühmten Medienphilosophen Vilém Flusser. „Oh Gott, jetzt rufe ich in Israel an“, sagte sich die Hamburgerin mit türkischen Wurzeln. Wie würde der Jude reagieren, wenn sie ihren Namen nennt und ihr Anliegen? Gerade war der Nahost-Konflikt neu entflammt, es gab viele Tote.

Die Tochter muslimischer Einwanderer in Deutschland kam in dem Telefonat schnell auf dem Punkt: „Es geht um ihre Tante Gerda Levy, verheiratete Link. Ich muss mehr über sie erfahren.“

Die Studentin für Deutsch und Geschichte gehörte zu den Teilnehmern eines Projektseminars an der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Hamburg. Das Thema: „Stolpersteine im Grindelviertel – Vom Namen zur Biografie“. Mit 45 anderen Studierenden begab sich die Hamburgerin auf Spurensuche. Sie wollte herausfinden, welche Schicksale sich hinter den Namen der sogenannten Stolpersteine in der Hansestadt verbergen. Rund 4700 solcher Gedenksteine für die von den Nazis ermordeten Menschen gibt es in der Hansestadt – ein international viel beachtetes Erinnerungsprojekt. Bei einigen der Ermordeten ist der Lebensweg bekannt. Bei den meisten aber nicht.

Wie bei Gerda Levy, Jahrgang 1911, ehemals Heinrich-Barth-Straße 21, Rotherbaum. An der Recherche ihrer Biografie seien schon gestandene Historiker gescheitert, sagt Thorsten Logge vom Fachbereich Geschichte/Public History.

Jetzt aber war der Neffe am anderen Ende der Telefonleitung – in Israel, und erzählte. Ein Hinweis der Wissenschaftlerin Beate Meyer hatte Özlem Alagöz-Bakan auf diese Spur geführt.

Es wurde ein langes und vor allem informatives Gespräch zwischen dem jüdischen Pädagogen, Mitte 60, und der jungen Muslima aus Hamburg. Weitere Telefonate folgten, bei der die Lehramtsstudentin neue und erschütternde Details aus dem Leidensweg der deportierten Familie Link erfuhr. Johanan Flusser war von dem Projekt der Stolpersteine und der Biografieforschung so stark beeindruckt, dass er im vergangenen Jahr sogar nach Hamburg reiste. „Ich konnte ihn persönlich kennenlernen. Er lud mich jetzt nach Israel ein“, sagt Özlem Alagöz-Bakan, und zeigt mehrere Druckseiten der von ihr verfassten Kurzbiografie über Gerda Levy. Neulich schrieb der Lehrer aus Jerusalem an die Hamburgerin: „Ich bin so glücklich, dass Sie diesen Preis bekommen.“

Tatsächlich hat die Lehramtsstudentin etwas Herausragendes geleistet: Für ihre Seminararbeit wurde sie gemeinsam mit vier weiteren Studierenden am Dienstagabend mit dem Joseph-Carlebach-Preis der Universität Hamburg ausgezeichnet. „Die Studierenden gaben den Deportierten und Ermordeten eine Kontur, manchmal ein Gesicht“, heißt es in der Laudatio. Aus dem bloßen Namen und einer statistischen Zahl wurde ein konkretes Schicksal.

 Stolperstein
vor der Talmud-Tora-Schule
am Grindelhof
Stolperstein vor der Talmud-Tora-Schule am Grindelhof © Michael Rauhe

Gerda Link, geborene Levy, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie im Grindelviertel. „Sie wohnte mit ihrer Familie in einer Fünfeinhalb-Zimmer-Wohnung. Ein christliches Hausmädchen besorgte die Hausarbeit“, fand Özlem Alagöz-Bakan heraus. Später wurde Gerda jüdische Religionslehrerin in Köln. Als verheiratete Frau zog sie mit ihrem Mann nach Bratislava (Pressburg). 1942 begannen die Nationalsozialisten in der Slowakei mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung. Zunächst seien die Links verschont geblieben, sagt die Studentin. Doch dann wurden die Transporte in die Vernichtungslager wieder aufgenommen. „Vermutlich wurde Gerda Link mit ihren Kindern und ihrem Ehemann am 18. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet.“

Die Studenten Fabian Boehlke, Viktoria Wilke, Nikolas Odinius und Thomas Rost erhielten für ihre Seminararbeit über andere jüdische Schicksale ebenfalls den Carlebach-Preis. All ihre Recherchen begannen im Wandsbeker Staatsarchiv, wo sie alte Steuerkarten, Behördenakten und in einem Fall sogar Strafakten auswerteten. Das intensive Quellenstudium war für sie eine neue Erfahrung. Nach der Archiv-Arbeit folgten Online-Recherchen, Telefonate und E-Mails an die Nachfahren der ermordeten Juden.

Viktoria Wilke, 26, studiert Geschichte und will später eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen. Sie hatte die Aufgabe, die Biografie von Ester Schlesinger zu erforschen. An die Hamburger Jüdin erinnert ein Stolperstein an der Rutschbahn 25. Ester wurde am 8. November 1941 nach Minsk deportiert und ermordet. Ihr Schicksal habe sie besonders bewegt, sagt Viktoria Wilke. „Das Mädchen ist nur 13 Jahre alt geworden.“ Die Deportation nach Minsk sei grauenvoll gewesen.

Weil die Hamburger Juden die ersten sogenannten reichsdeutschen Juden waren, die im Minsker Ghetto eintrafen, stießen sie gleich bei ihrer Ankunft auf Spuren eines Massenmordes, schreibt die Studentin in ihrer Seminararbeit. „Überall war Blut, und auf den Öfen und Tischen stand noch das Essen.“ Der Hintergrund: Vom 6. bis 11. November 1941 hatten SS und Polizei mehr als 6000 weißrussische Juden aus dem Minsker Ghetto liquidiert, um Platz für die so genannten Reichsjuden zu schaffen. Ester und ihre Familie kamen ins „Sonderghetto I“, in dem die Juden aus Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt eingesperrt wurden.

„Viktoria Wilke erarbeitete eine vorbildliche Geschichte der gesamten Familie Schlesinger“, heißt es in der Begründung für den Joseph-Carlebach-Preis, der nach Hamburgs und Altonas letztem Oberrabbiner benannt wurde. Wilke konnte über ein in der Gedenkstätte Yad Vashem hinterlegtes Testimony die in Hebräisch eingetragene Adresse von Ester Schlesingers hochbetagter Schwester in Israel aufspüren. „Zwei Schwestern konnten vor der Deportation emigrieren“, sagt die Studentin. Mit schriftlich geführten Interviews der Angehörigen wurden weitere Mosaiksteine der Biografie zusammengefügt.

„Ich habe mein ganzes Herzblut in diese Seminararbeit gesteckt“, sagt Viktoria Wilke. Kinder, fügt sie hinzu, hinterlassen doch keine Spuren, wenn sie so früh sterben. „Dieses Kind hat nichts hinterlassen.“ Auch die genauen Umstände und das Datum seines Todes seien unbekannt. Ester wurde im Holocaust ermordet – wie insgesamt 1,5 Millionen jüdische Kinder.

„Wirklich tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert“, sagt ein jüdisches Sprichwort.

Die fünf Preisträger mit Dozenten (v. l. n. r.) : Thomas Rost, Fabian Boehlke, Nikolas
Odinius, Özlem Alagöz-Bakan,
Historiker Thorsten Logge und Beate Meyer, Viktoria
Wilke. Vorn: Prof. Miriam Gillis-Carlebach,
Tochter des Obberrabbiners
Die fünf Preisträger mit Dozenten (v. l. n. r.) : Thomas Rost, Fabian Boehlke, Nikolas Odinius, Özlem Alagöz-Bakan, Historiker Thorsten Logge und Beate Meyer, Viktoria Wilke. Vorn: Prof. Miriam Gillis-Carlebach, Tochter des Obberrabbiners © Klaus Bodig

Damit ein Zeichen gegen das Vergessen gesetzt wird, erinnern seit 2002 immer mehr Stolpersteine auf Bürgersteigen und Plätzen an die Opfer der NS-Herrschaft. Getragen wird das Projekt von Geschichtswerkstätten und Initiativen. Wissenschaftler begleiten das Projekt mit intensiven biografischen Forschungen. Thomas Rost, 26. hatte die Aufgabe, den Leidensweg einer verarmten jüdischen Familie herauszufinden. Wie er studierten auch seine Kommilitonen Dokumente in Archiven, internationalen Datenbanken, Gemeinden, Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen.

Nikolas Odinius, 23, begab sich auf die Spuren von Malka Goldberg. An sie erinnert ein Stolperstein an der Rutschbahn 11. Am Anfang seiner Forschungen stand noch nicht einmal der genaue Todesort fest. Bis der Student der anglistischen Literaturwissensschaft belegen konnte, dass die galizische Jüdin 1942 in Auschwitz ermordet wurde. „Ich habe sogar eine E-Mail nach Auschwitz geschrieben“, sagt er.

Bei allem schweren Leid entdeckten die Studenten auch glückliche Umstände. Fabian Boehlke, 22, erforschte die Biografie der polnischstämmigen Jüdin Augusta Szpigiel. Sie überlebte den Holocaust. Bei der Spielberg-Foundation in den USA entdeckte er ein Interview, das sie später gegeben hatte. „Augusta Szpigiel war schon in der Gaskammer gewesen. Doch die Anlage funktionierte nicht.“ Sie habe mehrfach „massives Glück“ gehabt, sagt er.