Hamburg. Infektionen sind in Unterkünften häufig. Mediziner machen auch Vitaminmangel und unausgewogenes Essen dafür verantwortlich.
Trotz zahlreicher Änderungen bei der Versorgung bleibt die gesundheitliche Situation in den Flüchtlingsunterkünften teilweise angespannt. In den vergangenen Wochen habe es in Erstaufnahmen eine starke Häufung von Infektionskrankheiten gegeben, berichteten mehrere Ärzte und Ehrenamtliche. „Zuletzt war fast ein Drittel der Kinder erkrankt“, sagte eine Medizinerin, die in mehreren Einrichtungen praktiziert und anonym bleiben möchte, dem Abendblatt.
Der überwiegende Teil litt an Atemwegserkrankungen, darunter häufig Bronchitis und vereinzelt Lungenentzündungen. Die zuständige Gesundheitsbehörde bestätigte, dass sich Krankheiten in den vergangenen Monaten in einigen Unterkünften teils rasant ausbreiteten: „Dies ist einerseits der räumlichen Beschaffenheit etwa in einer Halle, andererseits der Enge darin geschuldet“, sagte Behördensprecher Rico Schmidt. Durch die Koordination der Sprechstunden, die seit Oktober vom Gesundheitsamt Altona übernommen wird, sei aber „eine gute Grundversorgung“ gesichert.
Ärzte und Assistenten sprechen dagegen von einer großen Bandbreite an Problemen, insbesondere bei der Behandlung von Kindern. „Was die Kollegen vor Ort machen, ist lediglich der Versuch eines geordneten Chaos“, sagt Stefan Renz, Vorsitzender des Hamburger Landesverbands der Kinder- und Jugendärzte. „Es gibt unter den Ärzten eine große Bereitschaft zu helfen, aber die Arbeit gestaltet sich in der Praxis vor Ort oft schwierig.“
Nach Abendblatt-Informationen richteten mehrere Ärzte in den vergangenen Wochen Beschwerdemails an die städtischen Stellen. Sie machten darin auch die unausgewogene Ernährung für die Häufigkeit von Infektionen mitverantwortlich. „Das Essen ist überhaupt nicht auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet“, sagt eine Medizinerin, die unter anderem in Unterkünften des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) arbeitet. Auch sie will anonym bleiben.
„Wir haben jeweils mehr als zehn Kinder in der Sprechstunde, die einen klaren Vitaminmangel haben“, sagt die Insiderin. „Jedes Mal auch drei, vier stark untergewichtige Kinder, für die wir irgendwie zusätzliches Essen organisieren und sie aufpäppeln. Das ist richtige Mangelernährung, die durch das System verfestigt wird.“
In allen Erstaufnahmeunterkünften der Stadt gibt es drei feste Mahlzeiten am Tag, das Essen stammt von externen Cateringfirmen. „Unsere Freiwilligen stellen seit Monaten immer wieder fest, dass es vor Ort oft weder Obst noch Fruchtsäfte gibt“, sagt eine Mitinitiatorin der Initiative „Kinderprogramm Erstaufnahmen“, die an zehn Standorten in Hamburg aktiv ist. „In Einzelfällen durften keine Bananen und Äpfel ausgegeben werden, wegen angeblich möglicher Allergien. So einen Blödsinn habe ich selten zuvor gehört.“ Zeitgleich gebe es praktisch keine hauptamtliche Zahnfürsorge, stattdessen häufig Tee mit Zucker zu trinken. Infektionen würden durch verbreitete Karies so noch weiter begünstigt.
Von der städtischen Gesellschaft „Fördern & Wohnen“ heißt es, dass Obst inzwischen flächendeckend auf den Speiseplan genommen wurde. „Wir nehmen die Vorschläge der Freiwilligen auf und stellen über die Zulieferer sicher, dass Kinder die nötigen Nährstoffe bekommen“, sagte die Sprecherin Susanne Schwendtke. Der Sprecher der Gesundheitsbehörde erklärte, die Ernährung sei bislang kein Faktor für die Häufigkeit von Infektionen.
Nach Ansicht von Kinderarzt Stefan Renz müsste die Häufigkeit der Mahlzeiten dringend aufgestockt werden. „Für Kinder, die noch nicht im Schulalter sind, reichen drei Mahlzeiten definitiv nicht aus.“ Ehrenamtliche berichten, dass die Kinder das Essen der Caterer entweder komplett ablehnten oder sich gern einen Teil für den Nachmittag aufsparten. Meist ist es jedoch verboten, Nahrung mit in die Wohnbereiche zu nehmen. „Die hygienischen Folgen würden erst recht zu Infektionen führen“, sagt der Behördensprecher Schmidt. Aus der Verwaltung heißt es , „dass mit jeder Erfüllung ein neuer Anspruch entsteht“.
Um nach dem Tod des syrischen Mädchens Rana (siehe unten) einen Überblick über die Zahl der erkrankten Kinder und ihrer Behandlung zu gewinnen, hat die CDU-Abgeordnete Karin Prien eine Kleine Anfrage an den Senat gestellt: „Es gibt den starken Eindruck, dass die Versorgung in vielen Bereichen weiterhin unzureichend oder unkoordiniert ist“, sagte Prien. In einem Antrag fordert ihre Fraktion unter anderem, jedes Kind eingehend von einem Kinderarzt untersuchen zu lassen. Für den Verbandsvorsitzenden Renz ist die bisherige Versorgung nicht ausreichend: „Es muss in jeder Unterkunft einen Kinderarzt geben. Kinder einfach wie kleine Erwachsene zu behandeln ist ein großer Fehler.“
Der Senat sieht derzeit keinen Handlungsbedarf. „Wir stellen allgemein sicher, dass ab 500 Bewohnern vier Stunden Kinderarztsprechstunde pro Woche stattfinden“, sagt Schmidt. „Das ist verglichen mit der Gesamtbevölkerung ein hervorragender Wert.“