Hamburg. Flüchtlingsfamilien müssen in der Schnackenburgallee in Zelten schlafen, was vor allem die Jüngsten gesundheitlich stark belastet.

Zu Beginn der Sprechstunde standen schon etwa 20 Kinder vor dem Behandlungscontainer. Sie hielten die Arme umschlungen, ihre Augen waren tiefrote Höhlen, die Körper zuckten unter Hustenschüben. „Mittags war der Vorrat an Fiebersenkern vorerst alle“, sagt ein Insider aus der Erstaufnahmeunterkunft Schnackenburgallee. Die Schnelldiagnosen: Bronchitis, Tonsilitis, Mittelohrentzündung, Verdacht auf Pneumonie. „Wir haben einige zusätzliche Pullover organisiert und viele Kinder zurück in die Zelte geschickt. Es war grausam.“

Vor dem ersten Frost spitzt sich die gesundheitliche Situation in großen Flüchtlingsdörfern zu. Wie Mitarbeiter berichten, sind an der Schnackenburgallee in Bahrenfeld und am Jenfelder Moorpark noch Hunderte Familien in Zelten untergebracht, in Etagenbetten auf erkaltetem Wiesenboden. „Der Großteil der Kinder ist krank, hinzu kommen Krätze und andere Infektionen bei Älteren“, sagt ein Mitarbeiter aus der Schnackenburgallee, der anonym bleiben will. „Die Ärzte geben alles, aber unter diesen Umständen sind die Genesungschancen gleich null“. Auch Schwangere müssten in Zelten leben.

9. Schnackenburgallee

Marjam ab Hasan,35, ist im achten Monat Schwanger und lebt mit ihrem Mann Raaft al Bassous und Tochter Revan in der Schnackenburgallee.
Marjam ab Hasan,35, ist im achten Monat Schwanger und lebt mit ihrem Mann Raaft al Bassous und Tochter Revan in der Schnackenburgallee. "Wir müssen hier raus, bevor das Baby kommt" © Roland Magunia | Roland Magunia
Ali Milhem sagt, im großen Container- und Zeltdorf gebe es
Ali Milhem sagt, im großen Container- und Zeltdorf gebe es "jeden Tag Streit". Meist käme auch die Polizei, um Ordnung zu schaffen © Roland Magunia | Roland Magunia
Flüchtlinge am Abend vor der Erstaufnahme Schnackenburgallee. Wenn die Stimmung dort kippt, habe die Stadt ein Problem, heißt es aus dem Senat
Flüchtlinge am Abend vor der Erstaufnahme Schnackenburgallee. Wenn die Stimmung dort kippt, habe die Stadt ein Problem, heißt es aus dem Senat © SAgten@wmg.loc
Mehrfach protestierten Flüchtlinge gegen die Bedingungen in der größten Erstaufnahme der Stadt
Mehrfach protestierten Flüchtlinge gegen die Bedingungen in der größten Erstaufnahme der Stadt © Michael Arning | Michael Arning
Die Bewohner beklagten die Enge und das Leben in Zelten
Die Bewohner beklagten die Enge und das Leben in Zelten © Michael Arning | Michael Arning
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Mediziner sehen die derzeitige Unterbringung als hochproblematisch an. „Flüchtlinge mit Infektionskrankheiten, die nicht ausheilen, dürfen bei diesen Witterungsbedingungen nicht mehr in Zelten ohne Boden untergebracht sein, schon gar nicht Kinder“, sagte Prof. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, dem Abendblatt. Er forderte die Ärzte vor Ort auf, etwaige Mängel zu melden.

Der städtischen Gesellschaft „Fördern & Wohnen“ ist die prekäre Situation bekannt, seit drei Wochen werde intensiv an einer Umbelegung gearbeitet. „Leider gibt es aber nicht immer für jede Familie sofort einen freien Container“, sagt Geschäftsführer Rembert Vaerst. Bis dahin wird versucht, die Zahl der Erkrankungen mit provisorischen Mitteln gering zu halten. „Wir müssen auch den sozialen Frieden im Blick behalten. Wenn plötzlich nur noch junge Männer in den Zelten wohnen, drohen andere Konflikte“, sagte Vaerst.

370 meldepflichtige Infektionen in drei Monaten – CDU kritisiert Senat

Die Mediziner vor Ort kämpfen nach eigenen Angaben parallel gegen „grassierende Infektionen und die zunehmenden Herbstkrankheiten, wo uns das dicke Ende noch bevorsteht“. Allein zwischen Juli und September wurden 370 Verdachtsfälle von meldepflichtigen Krankheiten wie Hepatitis und Malaria in Unterkünften gemeldet, wie eine Kleine Anfrage der CDU-Abgeordneten Karin Prien ergab. „Wir haben drei Isolierräume, die praktisch ständig belegt sind“, heißt es von Sozialarbeitern in Bahrenfeld. „Wir können glücklich sein, wenn wir die gefährlichsten Fälle rechtzeitig erfassen.“

Die CDU-Abgeordnete Prien vermutet eine höhere Dunkelziffer, will die Zahl der in Zelten verbliebenen Familien mit einer weiteren Anfrage herausfinden. „Die stationären Ärzteteams in den Einrichtungen sind dramatisch unterbesetzt, und insbesondere fehlt es an kinderärztlichen und gynäkologischen Sprechstunden. Bisher hat der Senat in Sachen Gesundheitsversorgung seine Verantwortung nicht wahrgenommen“, sagte Prien. Wie der Senat in der Anwort auf eine weitere Anfrage schreibt, finden Hygieneuntersuchungen teilweise in sehr großem zeitlichem Abstand statt, an der Schnackenburgallee zuletzt im Mai.

Behörde stellt Struktur der Versorgung um – viele Ärzte melden sich freiwillig

Mit einer Umstrukturierung soll die Situation in allen Unterkünften zeitnah verbessert werden. Seit dem 1. Oktober koordiniert das Gesundheitsamt des Bezirks Altona hamburgweit die ärztliche Versorgung in den Unterkünften. Es wird eine „flächendeckende städtische Grundversorgung“ angestrebt, bislang sind auch private Dienstleister in einigen Unterkünften eingesetzt, die hohe Preise forderten und von Ärztekollegen vereinzelt für eine angeblich schlechte Behandlungsqualität gerügt wurden. „Leider ist in der Flüchtlingsversorgung viel Geld und noch mehr Missgunst im Spiel“, heißt es aus dem Senatsumfeld.

Die Bereitschaft der Ärzte zur Mitarbeit in den Unterkünften ist dagegen ungebrochen. Ebenfalls seit Anfang Oktober bietet das Kinderkrankenhaus Altona an der Schnackenburgallee zweimal in der Woche eine Kindersprechstunde an, die Situation entspannte sich in der vergangenen Woche. Die Honorarkräfte des Gesundheitsamtes erhalten eine Entschädigung von 75 Euro pro Stunde, Assistenten erhalten 25 Euro.

Parallel bereitet sich die Stadt mit Hochdruck auf die Grippesaison vor. „Die Enge in den Unterkünften führt zwangsläufig zu einem großen Risiko“, sagt Rico Schmidt, Sprecher der Gesundheitsbehörde. Es wurden demnach bereits 10.000 Impfdosen gegen Grippe für die Flüchtlinge bestellt, nun laufen Besprechungen, in welchem Modus sie an die Bewohner verteilt werden. Die Ärztekammer ist laut Präsident Montgomery im Austausch mit dem Senat.

Die verantwortliche Innenbehörde will alle Zelte in Bahrenfeld, Jenfeld und Wilhelmsburg durch Holzhäuser ersetzen. Auf Nachfrage konnte dafür jedoch kein genauer Zeitrahmen genannt werden, auch die Ausstattung der Hütten ist unklar. Die CDU-Abgeordnete Prien forderte den Senat zu raschem Handeln auf. „Die Situation für die Familien ist nicht mehr tragbar.“