Hamburg. Kommen Tausende Menschen mit Bagatell-Erkrankungen in die Hamburger Krankenhäuser? Die wichtigsten Antworten zur Notfall-Debatte.
Die Ärzte mahnen, die Patienten klagen, die Notaufnahmen der Hamburger Krankenhäuser füllen sich weiter über das erträgliche Maß hinaus. Nach den Abendblatt-Berichten über Tausende Patienten, die sich mit mutmaßlichen Bagatell-Erkrankungen selbst in die Kliniken einweisen, ist eine heftige Debatte entbrannt. Im Mittelpunkt stehen natürlich die Patienten. Sie sind mit ihren Beschwerden konfrontiert und suchen schnelle Hilfe. Im Fokus sind aber auch die Ärzte, die niedergelassenen und die Krankenhaus-Mediziner. Ihnen wird vorgeworfen, „Patienten-Bashing“ zu betreiben.
Dabei, so sagte der Vize-Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung, Stephan Hofmeister, war genau das nicht die Absicht. Die Geschäftsführerin der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft, Claudia Brase, warnte sogar davor, eine neue Notfall-Gebühr wie früher die Praxisgebühr einzuführen. Das könne unter Umständen schwer erkrankte Menschen davon abhalten, eine dringend benötigte Behandlung zu bekommen. Das Hamburger Abendblatt fasst die wichtigsten Fragen zur Notfall-Debatte zusammen.
Warum kommen so viele Hamburger in die Notaufnahmen?
Die Notaufnahmen von Asklepios, Albertinen, UKE und anderen Häusern sind schnell erreichbar und bieten trotz langer Wartezeiten auch meistens Soforthilfe. Ärzte unken oft, dass vor allem sonntags die Schwarzarbeiter und Hobby-Fußballer mit ihren Verletzungen kommen. Tatsächlich aber kommen am Wochenende auch deshalb so viele Patienten, weil manche Arbeitnehmer nicht in der Woche zum Arzt gehen (können).
Leserin Anke Petersen gibt zu bedenken: „Der Druck auf die Arbeitnehmer hat sich verstärkt, und daraus resultieren auch Ängste, durch krankheitsbedingtes Fehlen, berufliche Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. So gehen viele Patienten eben am Wochenende in die Notaufnahmen, um am Montag hoffentlich einigermaßen fit am Arbeitsplatz erscheinen zu können und sich nicht dem Vorwurf aussetzen zu müssen „der bzw. die macht Montag blau'.“
Gleichzeitig gibt es nach Auskunft von Experten einen regelrechten „Party-Druck“ am Wochenende, der mitunter in gesteigertem Unwohlsein mündet. Aber, sagt Leser Gerd Weldert: „Niemand setzt sich stundenlang in die wenig ansprechenden Notaufnahmen mit gestresstem und dementsprechend eher unfreundlichem Personal, wenn nicht individuelle Ängste vorhanden sind oder um sich einen Hausarztbesuch am Montag zu ersparen. Wie soll ein medizinisch ungeschulter Patient feststellen, ob seine Krankheitssymptome ungefährlich sind und eine spätere Behandlung problemlos möglich ist?“ Der Leser sieht einen Zusammenhang zwischen den „anachronistischen“ Öffnungszeiten der Arztpraxen und dem „Run“ auf die Notaufnahmen.
Gibt es einen Google-Effekt?
Ja. Patienten kommen mit vorgefertigten „Diagnosen“ aus dem Internet in die Sprechstunden, sagen Ärzte. Ein „verändertes Körperbewusstsein“ bei Jüngeren hat KV-Vize Hofmeister festgestellt. Die Allverfügbarkeit von medizinischen Informationen und Experten- sowie Betroffenen-Foren führt zu einer Verunsicherung, die viele Patienten gerne in der Notaufnahme abklären wollen.
Was ist mit den Notfallambulanzen der Kassenärztlichen Vereinigung?
Die KV bietet einen mobilen Notarzt an, der unter der bundesweiten Telefonnummer 116 117 oder in Hamburg unter 040 22 80 22 zu erreichen ist. Dieser Notarzt macht Haus- und Heimbesuche. Wochentags 19 bis 24 Uhr (mittwochs ab 13 Uhr) sowie am Wochenende von 7 bis 24 Uhr sind die Notfallambulanzen in Altona (Stresemannstraße 54 und Farmsen (Berner Heerweg 124) geöffnet. Diesen Notdienst will die KV jetzt bekannter machen.
Leser Rolf Schmidt meint, das sei zu wenig für 1,8 Millionen Hamburger. „Auf dem Weg zu diesen Ambulanzen fährt man vermutlich an mindestens drei Krankenhäusern vorbei und kann während der Fahrt in der U-Bahn in Ruhe die Werbung des Marienkrankenhauses lesen: ,Kommen Sie zu uns. Wir sind 24 Stunden am Tag für Sie da.'“
Warum öffnen Praxisärzte nicht jeden Tag von 8 bis 18 Uhr?
Anders als angenommen, verdienen Ärzte nicht automatisch mehr, wenn sie mehr Patienten behandeln. Das Budget ist gedeckelt. Niedergelassene Ärzte haben oft mindestens eine 60-Stunden-Woche. Die Zeit, in denen sie nicht behandeln, widmen sie unter anderem der Bürokratie, der Abrechnung, Gutachten für ihre Patienten, der Fortbildung. Leserin Susanne Adrian bemängelt: „Keiner unserer Ärzte hat Freitagnachmittag geöffnet! Warum eigentlich nicht? Warum ist es nicht möglich, dass sich mehrere Praxen in Ärztehäusern zusammentun und umschichtig eine Notfall-Sprechstunde anbieten? Vielleicht sogar zusätzlich am Sonnabend?“
Was sagen Verbraucherschützer?
Beschwerden über die Notaufnahmen gibt es zumindest bei der Verbraucherzentrale Hamburg selten. Genau acht habe man in den vergangenen zweieinhalb Jahren notiert, so Verbraucherschützer Christoph Kranich.
Können die neuen Terminservicestellen Abhilfe schaffen?
Dieser neue Service der Kassenärztlichen Vereinigungen soll Patienten binnen vier Wochen einen Termin bei einem Facharzt besorgen, wenn sie selbst bei ihrem Wunscharzt in dieser Frist keinen erhalten. Die Terminservicestellen sind Gesetz – bringen nach Expertenmeinung aber gar nichts. Patientenschützer Wolfram-Arnim Candidus (Bürger Initiative Gesundheit) spricht von „bürokratischem Irrsinn“ und „Verdummung“ der Bürger. Außerdem würden die Ärzte diffamiert: „Die Patienten die mit akuten Erkrankungen eine Arztpraxis besuchen, werden in der Regel auch sofort behandelt. Dagegen kann es zu Terminverzögerungen kommen, wenn die Erkrankung keinen sofortigen und/oder dringlichen Behandlungstermin erfordert.“
Verbraucherschützer Kranich hat dagegen Beschwerden über Neurologen und Orthopäden festgestellt, bei denen man wochenlang keinen Termin bekomme. Leser Wolfgang Schulz schreibt sogar: „Meine Frau und ich suchen in Bergedorf einen neuen Hausarzt. Ich habe mindestens fünf verschiedene Praxen angerufen bzw. aufgesucht. Jedesmal wurde ich mit der Auskunft abgewiesen, dass zurzeit keine neuen Patienten aufgenommen würden.“
Wie lässt sich der Patientenstrom lenken?
Eine „Eintrittsgebühr“ für die Notaufnahme lässt sich kaum durchsetzen. Leser Rolf Schmidt schlägt vor: Wer als Notfall ins Krankenhaus komme, solle zunächst selbst bezahlen und das Geld von der Krankenkasse erst erstattet bekommen, wenn das Krankenhaus den Notfall bestätigt. „Da diese Regelung für die Krankenhäuser die Gefahr beinhaltet auf den Kosten sitzen zu bleiben, wird es die Diagnostik auch auf ein vernünftiges Maß reduzieren.“ Hier liegt ein Streitpunkt: Kritiker sagen: Die Krankenhäuser machen zu viele kostspielige Untersuchungen an ihren Notfällen. Das liege auch daran, dass in den Notaufnahmen oft junge, unerfahrene Ärzte seien. Sie wollten mithilfe von High-Tech Risiken ausschließen.
„Manche Kollegen können nicht mal richtig sonographieren“, bemängelt ein Arzt. Doch beispielsweise im UKE trifft man nach Auskunft von Beobachtern und Patienten auf erfahrene Fachärzte.
Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, ließ dem Abendblatt mitteilen: Vor allem das neue Krankenhausgesetz stelle die Krankenhäuser mit Notaufnahme finanziell besser. Und die Praxisärzte müssten enger mit den Kliniken zusammenarbeiten. „Es kommt jetzt darauf an, dass die gesetzlichen Vorgaben von der Selbstverwaltung konsequent und schnell umgesetzt werden, damit es künftig nicht mehr zu den von Ihnen beschriebenen Situationen kommt.“
Verbraucherschützer Kranich sagt über die Krankenhauswerbung, das seien Anreize für Patienten, die deutlich teurere Krankenhausbehandlung der Arztpraxis vorzuziehen: "Da zeigt sich der für Patienten völlig unverständliche, aber politisch bisher leider unüberbrückbare Graben zwischen der ambulanten und stationären Medizin. Ein Gesundheitssystem, das an den Patientenbedürfnissen orientiert ist, würde beide Bereiche einheitlich managen. So aber wollen beide im Kampf gegen das andere Vorteile herausholen, und die Patienten dürfen verwirrt zuschauen.“
Am Hamburger Marienkrankenhaus gibt es aber auch eine hausärztliche Notfallversorgung. Hier ist dieser Graben bereits zugeschüttet.