Hamburg. Zwei Jahre nach dem Tod der kleinen Yagmur schlägt PFIFF Alarm. Nur 27 Kinder wurden im Dezember an Familien vermittelt.

Der kleine Mohammed kommt nicht zur Ruhe. Er weint und schreit und weint und schreit. Britta, 52, und Andreas S., 54, versuchen abwechselnd, den kleinen Kerl mit den schwarzen Haaren und den großen dunklen Augen zu beruhigen. Sie nehmen ihn auf den Arm, schaukeln ihn auf den Knien, geben ihm die Flasche, summen ihm ein Liedchen vor.

Es ist kurz nach sechs Uhr abends. Britta und Andreas S. wohnen im Norden Hamburgs, sie haben noch zwei Töchter, zwölf und 19 Jahre alt. Mohammed wurde am 15. September geboren, fünf Tage später kam er zu seinen Pflegeeltern. Die leibliche Mutter ist überfordert. Sie ist nach Deutschland gekommen, um ihre beiden Kinder in der Heimat zu unterstützen. Sie ist wieder schwanger geworden. Jetzt muss sie arbeiten und kann sich nicht um Mohammed kümmern.

„Um diese Zeit ist Mohammed immer unruhig und findet nicht in den Schlaf“, sagt Britta S. Aber irgendwann kriegen sie ihn beruhigt. Dabei tut auch die Fön-App auf dem Smartphone gute Dienste, das Geräusch beruhigt den Kleinen. „Dann schläft er meist durch.“

Nach sechs bis zehn Monaten wird Mohammed die Familie verlassen

Für Mohammed sind seine neuen Eltern ein Geschenk. Britta und An­dreas S. sind Eltern auf Zeit. Sie springen ein, wenn leibliche Eltern mit ihren Kräften am Ende sind. Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von Krankheit und zu großem Verantwortungsdruck bis hin zu Vernachlässigung und Drogenmissbrauch.

Nach sechs Monaten wird Mohammed seine neue Familie wieder verlassen. Oder auch erst nach zehn Monaten. Er hat dann sehr viel mitbekommen. Wärme und Zuneigung, Liebe und Verlässlichkeit, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Und vielleicht ist seine leibliche Mutter bis dahin in einer solchen Lebenssituation, dass sie die Erziehung ihres Kindes wieder übernehmen kann. Oder Mohammed kommt in eine andere Familie. Zu anderen Pflegeeltern, wo er auf Dauer bleiben kann.

Was Britta und Andreas S. leisten, nennt sich Bereitschaftspflege. Sie sind die Lösung, wenn das Jugendamt anruft und Hilfe braucht. Auch für Yagmur, 3, deren Tod vor zwei Jahren die Stadt erschütterte, hat das Jugendamt eine Pflegemutter gesucht, weil die leibliche Mutter überfordert war (s. u).

Hamburg brauch dringend mehr Breitschaftspflegefamilien

Rund 1300 Hamburger Kinder leben in Pflegefamilien. In Hamburg gibt es etwa 1100 Pflegefamilien, aber nur 27 davon sind Bereitschaftspflege­familien. „Der Bedarf an Bereitschaftspflegefamilien ist sehr groß“, sagt Ralf Portugall von PFIFF, dem ersten freien Träger in Hamburg, der sich 1996 auf die Vermittlung und Begleitung von Kindern in Dauerpflege spezialisiert hat. „Mitte Dezember gab es 170 Anfragen von Jugendämtern nach Plätzen in Bereitschaftspflege, aber nur 27 Kinder konnten wir in entsprechende Familien vermitteln.“ Die Stadt sucht dringend nach Pflegeeltern.

Was müssen diese unbedingt mitbringen? „Sie müssen vor allem flexibel sein“, sagt Andreas S. Und belastbar? „Ja auch.“ Eine intakte Familie könne auch nicht schaden. „Und es ist sicher auch gut, wenn man eigene Kinder hat“, sagt Britta S. Die sollten mindestens fünf Jahre älter sein als das Pflegekind. Damit das neue Familienmitglied, das so viel Zeit und Aufmerksamkeit brauche, nicht zu Streit und Eifersucht führe. „Eher ungünstig ist es, wenn die Pflegeeltern sich einen Kinderwunsch erfüllen wollen“, sagen sie.

Das müssen Pflegeeltern mitbringen

Die wichtigsten VoraussetzungenDie wichtigsten Voraussetzung: „Das Einverständnis aller Familienangehörigen“, sagt Ralf Portugall von PFIFF. „Die Hauptbetreuungsperson sollte zudem in der Regel nicht berufs­tätig und die eigenen Kinder älter als zwei Jahre sein.“

Zum Schutz der Kinder müssten alle Haushaltsangehörigen ab 18 Jahren ein erweitertes Führungszeugnis, einen Gesundheitstest und einen Drogentest beibringen.

Nächster Infoabend der Pflegeelternschule: 21.1.2016. Anmeldungen über www.pfiff-hamburg.de oder 040/41 09 84-60. Nach einem Erstgespräch mit Fachkräften folgt eine Ausbildung von 30 Wochenstunden. Das Jugendamt bescheinigt die Eignung. haa

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Etwa 1200 Euro bekommen Pflegeeltern für den Unterhalt

Britta S. hat sich vor zwei Jahren entschieden, Pflegekinder auf Zeit bei sich aufzunehmen. „Ich habe eine neue Aufgabe gesucht.“ Sie hat das zuerst mit ihrer Familie besprochen. „Und die hat Ja gesagt.“ Neben einer sinnvollen und eigenständigen Tätigkeit, sagt sie, sei es ihr auch wichtig gewesen, wieder über eigenes Geld zu verfügen.

Rund 1200 Euro bekommen Pflegeeltern für den Unterhalt. „Der finanzielle Anreiz besteht aber eigentlich nur auf dem Papier“, sagen beide. „Wer sich für eine Bereitschaftspflege nur deshalb entscheidet, um seinen Unterhalt zu finanzieren, wird scheitern.“

Es geht Britta und Andreas S. auch darum, etwas zurückzugeben. „Man muss nicht immer für Afrika spenden, um Gutes zu tun“, sagt Andreas S. „Schwierige Verhältnisse gibt es auch in unserer unmittelbaren Umgebung.“

Mit Liebe und Geduld könne auch in ein paar Monaten viel repariert werden

Natürlich gebe es auch die harten Tage. Zum Beispiel letztes Jahr Heiligabend, als Andreas S. mit dem kleinen Yasin im Auto um die Häuser gefahren sei, damit der schreiende Junge in den Schlaf finde. „Das sind anstrengende Stunden, aber irgendwann findet man den Schlüssel, um das Kind zur Ruhe zu bringen.“ In solchen Momenten, die sehr lang werden können, sei man zwar „relativ allein unterwegs“, aber stolz, wenn die Situation gemeistert sei.

Mohammed ist das dritte Pflegekind, das Britta und Andreas S. bei sich aufgenommen haben. Wenn der Anruf vom Jugendamt kommt, lassen sie sich über Alter und Lebensumstände des Kindes und der leiblichen Eltern informieren. Und überlegen dann, ob sie sich die Bereitschaftspflege zutrauen.

Bisher haben sie nur positive Erfahrungen gemacht. „Zu unserem ersten Kind, einem damals drei Tage alten Jungen, haben wir noch heute ein enges Verhältnis.“ Zehn Monate war er bei ihnen. Und danach war die leibliche Mutter wieder in der Lage, ihn zu sich zu nehmen. Heute ist der Junge zwei Jahre alt. Auch zu seiner Mutter und zur Oma bestehe weiter guter Kontakt. „Beide sagen uns heute noch, wie froh sie gewesen sind, dass wir für eine gewisse Zeit an ihrer Seite waren.“

Und wenn ihnen irgendwann ein Kind so sehr ans Herz wächst, dass sie es nicht mehr hergeben möchten? „Dagegen spricht schon unser Alter, wir können kein Kind mehr großziehen. Deswegen haben wir uns ja dafür entschieden, die Kleinen nur auf einem Stück ihres Weges zu begleiten.“ An­dreas S. sagt, man könne mit Liebe und Geduld selbst in ein paar Monaten viel reparieren. Die Kinder ein bisschen stärker machen und ihnen vielleicht ein paar Ängste nehmen. „Den kleinen verletzten Seelen helfen“, sagt er.