Hamburg . Interessierte Bürger können mitmachen . In mehr als 40 Pilotprojekten sollen Wissenschaftler digitale Lehr- und Lernformen erproben.

Es war ein Paukenschlag: Auf der Konferenz „Campus Innovation“ im November 2014 hatte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) überraschend die Gründung einer gemeinsamen Internetplattform aller sechs staatlichen Hamburger Hochschulen angekündigt, die als digitale Ergänzung der traditionellen Lehre gedacht ist. Profitieren sollen davon nicht nur Studierende, sondern auch interessierte Bürger. Der Titel des Mammutprojekts: Hamburg Open Online University (HOOU). Als Anschubfinanzierung versprachen Senatskanzlei und Wissenschaftsbehörde zusätzliche Mittel in Höhe von 3,7 Millionen Euro.

Bereits im ersten Halbjahr 2015, so hieß es damals, könnte eine Probeversion der Lernplattform stehen. Dieser Zeitplan war wohl etwas gewagt: Auf der Startseite der Online-Universität (www.hoou.de) gab es bis zuletzt kaum mehr zu sehen als eine kurze Darstellung des Vorhabens.

„Wir können Wissen besserteilen“

Nun aber nimmt das Vorhaben Gestalt an: Heute will die Steuerungsgruppe der beteiligten Hochschulen auf der diesjährigen „Campus Innovation“ im Curio-Haus ausführlich erläutern, was sich hinter den Kulissen getan hat. Demnach sind bereits 40 Projekte gestartet, in denen „Early Birds“, Pioniere an den Hochschulen, neue Lehr- und Lernformen entwickeln und erproben sollen. Das Spektrum der eingebundenen Fächer reicht von Archäologie, Geschichte und Germanistik über Kunst, Informatik, Ingenieurwissenschaften, Medizin und Musik bis hin zu Physik und Wirtschaft.

„Mithilfe einer solchen Internetplattform können wir verschiedene Gruppen – Forscher, Studierende, Entscheider und Leute vor Ort – viel leichter zusammenbringen, als es an einer Hochschule möglich wäre“, sagt Prof. Sönke Knutzen, Vizepräsident der Technischen Universität Hamburg-Harburg und Mitglied der Steuerungsgruppe. „Wir können mehr Informationen zusammentragen, wir können auch gute Ideen von Menschen nutzen, die keine Wissenschaftler sind, wir können Wissen besser teilen.“

Bei der Konzeption der Online-Projekte sollen Hochschullehrer von den Lernenden her denken und freie Lern- und Lehrmaterialien mit einer offenen Lizenz nutzen, die sich teilweise von den Lernenden verändern ließen, sagt Prof. Kerstin Mayrberger, die an der Universität Hamburg über die Digitalisierung von Lehren und Lernen forscht. Dass die Lernenden mitmachen dürfen, sei ein wichtiger Bestandteil des Konzepts der Online-Uni. „Ich würde nicht von E-Learning sprechen, denn dabei denkt man immer noch an geschlossene Systeme“, sagt Mayrberger. „Wir sagen den Lehrenden: Denken sie lieber an Projekte, an virtuell vernetzte Module.“

In Teams Probleme bearbeiten - Professoren als „Kompetenzförderer“

Insofern soll die Online-Lehre nicht in erster Linie im Stil einer Vorlesung oder eines Kurses erfolgen; nicht das Auswendiglernen von Informationen stehe im Mittelpunkt, sagt Sönke Knutzen. „Vielmehr soll es darum gehen, in Teams ein Problem zu bearbeiten und dadurch zu lernen.“ Hochschullehrer sollten künftig stärker „Kompetenzförderer“ sein – und dabei die Möglichkeiten nutzen, die digitale Medien und das Internet bieten.

Wie das konkret gehen könnte, erproben Hamburger Wissenschaftler nun in den 40 Startprojekten; weitere Vorhaben sollen bald folgen. Die damit verbundenen Geschichten spielen in Hamburg, Deutschland und der Welt.

Ein Team um Prof. Susanne Heise von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) möchte zeigen, welche Verflechtungen von Interessen es in der Region der Tide-Elbe gibt. Das wollen die Forscher unter anderem anhand von Videos, Berichten und Interviews mit Bürgern, Behörden, Fischern und Politikern veranschaulichen – und damit zugleich den Austausch zwischen diesen Gruppen fördern.

Wie man auf die Wasserknappheit und sinkende Ernteerträge in Entwicklungsländern reagieren könnte, ist Gegenstand eines Projekts von Forschern um Prof. Ralf Otterpohl von der Technischen Universität Hamburg-Harburg (TUHH). Es richtet sich nicht nur an Ingenieure und Studierende, sondern auch an Politiker, Entwicklungshelfer und Kleinbauern.

Noch ist das Ganze ein großes Experiment

Andere Forscher verwenden zwar den Begriff „Kurs“, wollen aber dennoch eine digitale Umgebung schaffen, in der die Lernenden ein Stück weit selbst bestimmen, wie sie vorgehen. So wollen etwa Wissenschaftler um Prof. Thomas Ludwig von der Uni Hamburg gemeinsam mit Kollegen von der HAW und von der TUHH einen interaktiven Programmierkurs mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden entwickeln.

Details zu diesen und weiteren Vorhaben werden die beteiligten Wissenschaftler in einem Blog beschreiben, der am Freitag auf der HOOU-Internetseite freigeschaltet werden soll. Darin eingebettet sind Podcasts (Audio- und Videodateien). Jeder Interessierte sei nun eingeladen, die Ideen auf der Seite zu kommentieren und mit den Forschern darüber zu diskutieren, sagt Knutzen. „Wir entwickeln die Plattform auf Basis der Rückmeldungen.“

Das heißt: Noch ist das Ganze ein großes Experiment. Zunächst gelte es, herauszufinden, welche Vorhaben wirklich innovativ und sinnvoll seien, sagt Knutzen. Frühestens 2017 könnte ein Prototyp für die Online-Universität stehen; eine ausgereifte Lehr- und Lernplattform ist noch später zu erwarten. Mitmachen könnten interessierte Bürger aber je nach Projekt schon erheblich früher.

Warum die Planung so lange gedauert hat

Der lang anmutende Vorlauf sei „ganz normal“, sagt Marc Göcks, Geschäftsführer des Multimedia Kontors Hamburg (MMKH), einer Beratungseinrichtung der sechs staatlichen Hamburger Hochschulen. „Die formalen und finanztechnischen Prozesse hinter der Online-Universität sind aufwendig.“ Das Projekt habe überhaupt erst im Sommer richtig starten können, weil die Mittel für die Online-Universität davor nicht zur Verfügung standen; erst vor einigen Monaten habe man sich auf die Suche nach zusätzlichen Fachkräften machen und Stellen ausschreiben können.

Zum Unterstützungsteam gehören nun fünf Medienpädagogen, die Wissenschaftler in puncto Didaktik beraten werden, außerdem fünf Produktionstechniker, die etwa beim Videoschnitt helfen sollen sowie acht Entwickler, die die virtuelle Umgebung der Online-Plattform programmieren sollen.

Die größte Herausforderung im vergangenen Jahr bestand aber wohl darin, dass sich die sechs sehr unterschiedlichen staatlichen Hamburger Hochschulen auf ein gemeinsames Konzept für die Online-Universität einigen mussten. Dass dies gelang, sei etwas „Besonderes in Deutschland“, sagt Prof. Monika Bessenrodt-Weberpals, Vizepräsidentin der HAW und Mitglied der Steuerungsgruppe.

Der Vorsitzende des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) der Uni Hamburg, Moritz Lamparter, erneuerte einen Teil der Kritik, die er vor einem Jahr bei der Ankündigung des Projekts gegenüber Bürgermeister Olaf Scholz geäußert hatte. „Für die Online-Universität ist zusätzliches Geld da ist, für bestehende Einrichtungen aber nicht“, sagt Lamparter. „Aus vielen Fachbereichen bekommen wir Meldungen, wonach etwa Öffnungszeiten von Bibliotheken eingeschränkt und Stellen in Studienbüros abgebaut werden.“ Eine Ergänzung der Lehre durch digitale Angebote sei zwar sinnvoll – jedoch nur, wenn das Präsenzstudium nicht leide.