Kennen Sie Salman Khan? Er ist einer der großen Pädagogikstars im Internet. Ein Plädoyer für neue Bildungschancen.
Wie Salman Khan aussieht, wissen nur wenige. Seine Stimme aber kennen Kinder und Jugendliche in aller Welt. Jeden Monat zehn Millionen Nutzer, bis heute rund eine halbe Milliarde Abrufe: Die Lernvideos der Khan Academy sind im Internet ein Hit. Ob Naturwissenschaften, Geschichte oder Mathematik, ob einfaches Addieren oder kompliziertes Integrieren – in mittlerweile mehr als 5500 frei zugänglichen Videos erschließt Salman Khan seinen Zuschauern die Welt des Schulwissens. Er ist ein Meister des Erklärens, der komplexe Sachverhalte in einfachen Worten aufs Wesentliche reduziert. Wenn Khan heute eine Schule besucht, kommt es mitunter zu Szenen wie bei einem Konzert. Hunderte Schüler stürmen auf ihn zu, wollen dem Mann nahekommen, dessen Stimme sie jeden Tag beim Lernen begleitet. Für sie ist Khan ein Idol – der erste Popstar der digitalen Bildungsszene.
Aus dem Einwandererkind Salman Khan hätte ein erfolgreicher Investmentbanker werden können: drei Abschlüsse an der amerikanischen Elite-Uni MIT, ein MBA aus Harvard, ein lukrativer Job bei einem Hedgefonds. Doch dann kommt 2004 seine Cousine Nadia ins Spiel, ein zwölfjähriges Mädchen mit Problemen in Mathematik. Khan beginnt, ihr und ihren Freundinnen Nachhilfe zu geben. Allerdings muss er dazu die Distanz zwischen Lousiana und seiner neuen Heimat in Boston überwinden. Er produziert kleine Erklärvideos und stellt sie auf YouTube ein. Seine kostenlosen Videos verbreiten sich in Windeseile, die Zahl der Nutzer wächst und wächst. Was als Familienhilfe und Hobby begann, wird zu einer Vollzeitaufgabe. Im Jahr 2009 kündigt Salman Khan seinen Job als Investmentbanker, gründet die gemeinnützige Organisation Khan Academy und löst dadurch einen globalen Lern-Boom im Netz aus. Das Erfolgsrezept seiner Videos ist ihre Einfachheit. Kaum eines ist länger als zehn Minuten, man hört nur eine Stimme und sieht handschriftliche Skizzen und Erklärungen auf dem Bildschirm. Wie früher bei den Montagsmalern, nur dass statt „Hund, Katze, Maus“ auf dem Monitor Algebra und Kurvendiskussion erscheinen. Wer eine Aufgabe nachrechnen will oder abgelenkt wird, drückt auf Pause. Wer etwas nicht verstanden hat, schaut das Video einfach noch mal an. So flexibel kann kein Lehrer im Unterricht auf das individuelle Tempo all seiner Schüler eingehen.
Dass Bildung nicht nur allen zugänglich ist, sondern auch auf die Bedürfnisse des Einzelnen eingeht, ist das große Ziel von Arndt Kwiatkowski. Er ist 53 Jahre alt, Vater von vier Kindern, und auf seinem Abschlusszeugnis stand in Mathematik dank privater Unterstützung gerade noch ein befriedigend. Er gehört zu den Menschen, die aus der Not eine Tugend machen – und aus der Tugend dann eine Geschäftsidee. Das ist so, als er 1997 die Internetplattform Immobilienscout24 gründet, weil er nach etlichen Umzügen genau weiß, wie langwierig und kompliziert die Suche nach einer neuen Wohnung ist. Und das ist so, als er 2008 in Berlin das Online-Mathelernsystem Bettermarks an den Start bringt, weil er auch Kindern von Eltern mit weniger Zeit oder Geld für einen Nachhilfelehrer die Chance auf Erfolg geben will. Die Idee dahinter: Ein persönlicher Mathecoach für jeden – in Form einer Lernsoftware. Sie holt jeden Schüler da ab, wo er gerade im Stoff steht, und führt ihn dann nach seinem Können und seinem Tempo auf einem ganz persönlichen Lernpfad durch eine individuelle Auswahl aus über 100.000 Aufgaben. Je nach Lernfortschritt werden die Lektionen anspruchsvoller. Macht der Schüler beim Üben einen Fehler, erklärt das System die einzelnen Rechenschritte, analysiert dabei die Wissenslücken und ermöglicht so systematischen Wissensaufbau. Bettermarks will beides vermeiden: Unter- und Überforderung, Langeweile und Lernstress. Nicht mehr der Schüler muss sich ans Lehrbuch anpassen, sondern das Lernprogramm passt sich an den Schüler an. Und auch Lehrer profitieren von der Software: Bereits bei der Hausaufgabenkontrolle vor der Unterrichtsstunde können sie erkennen, wer noch welche Unterstützung braucht.
Die Geschichten von der Khan Academy und Bettermarks zeigen: Die Digitalisierung versöhnt scheinbar Unversöhnliches. Für jeden zugängliche und persönlich zugeschnittene Bildung ist dank Videos und Lernprogrammen kein Widerspruch mehr. Stars der digitalen Lehre wie Salman Khan erreichen Millionen Menschen. Mittels adaptiver Software und intelligenter Algorithmen ist es möglich, das Lerntempo an die Fähigkeiten jedes Einzelnen abzustimmen. Schwächere und weniger motivierte Schüler finden dadurch leichter Anschluss, stärkere können ihr ganzes Potenzial entfalten. Das bisherige Lehrprinzip – für alle dieselbe Übung zur selben Zeit am selben Ort – hat ausgedient.
Die Zukunft der Schule
Wenn solche digitalen Innovationen ihr pädagogisches Potenzial entfalten, dann verändern sich auch Rollen und Aufgaben der Lehrenden. Sie werden von Wissensvermittlern zu Lernbegleitern und können den Lernprozess stimulieren und orchestrieren. „Mein Unterricht ist wirklich besser geworden, denn statt Vermittlung standardisierten Wissens unterrichte ich jetzt Kinder“, berichtet eine Lehrerin, die mit den Videos der Khan Academy arbeitet.
Abseits von Pilotschulen werden die neuen Möglichkeiten hier kaum genutzt
In den USA treiben vor allem die unabhängigen, aber staatlich geförderten Chartered Schools die Entwicklung voran. Häufig in sozialen Brennpunkten gelegen, in denen die Standardbildung öffentlicher Schulen oft scheitert, experimentieren sie mit neuer Technik und neuen didaktischen Konzepten. Auch in Schwellen- und Entwicklungsländern, wo es an Lehrern, Schulgebäuden und Lernmaterial mangelt, wird aus der Not eine Tugend gemacht: Der massenhafte Bildungshunger ist dort nur durch digitale Medien zu stillen.
In deutschen Klassenzimmern hingegen kommt die digitale Bildungsrevolution allenfalls als schleichende Evolution daher. Abseits von wenigen Pilotschulen werden die neuen Möglichkeiten bisher kaum genutzt. Nicht einmal 400 Schulen, immerhin rund 20 davon in Hamburg, verwenden Bettermarks hierzulande im Unterricht. In Uruguay hingegen ist das Matheprogramm schon ein fester Bestandteil des Bildungssystems: Die Regierung hat beschlossen, dass 500.000 Schüler an allen öffentlichen Schulen mit der Lernsoftware aus Deutschland arbeiten sollen.
Bei uns fehlt das Gefühl der Dringlichkeit. Die Lehrer kämpfen zwar mit mangelnder Disziplin und Konzentration der Schüler, mit großen und immer heterogeneren Klassen. Sie klagen über zeitfressende Verwaltungsaufgaben und wünschen sich mehr Raum für individuelle Förderung. Doch die Erkenntnis, dass digitales Lernen keine zusätzliche Belastung, sondern ein Teil der Lösung ist, hat sich noch nicht durchgesetzt. Im Gegenteil: Deutsche Lehrer sind laut der internationalen Vergleichsstudie ICILS nicht nur schlechter ausgebildet im Umgang mit Computertechnologien, sondern auch deutlich medienskeptischer. Nirgendwo sonst werden die Risiken des digitalen Lernens – wie beispielsweise das Abkupfern von Internetquellen oder die Ablenkung durch die Geräte – so gefürchtet wie in Deutschlands Lehrerzimmern. Dabei gibt es kaum Erfahrungen mit deren Einsatz, denn in keinem anderen der 20 Vergleichsländer werden Computer seltener im Unterricht eingesetzt. An entsprechenden Schulungen haben in den vergangenen zwei Jahren nicht einmal 20 Prozent der Lehrkräfte teilgenommen. Zum Vergleich: In Australien bilden sich fast 60 Prozent der Pädagogen regelmäßig zum Einsatz von neuen Technologien im Unterricht fort.
Auch wenn die digitale Bildungsrevolution gerade erst beginnt: Deutsche Schulen können die Dynamik um sie herum nicht länger ignorieren. Schon heute funktionieren Kommunikation und alltäglicher Wissenserwerb nicht mehr ohne Smartphones und Tablets – das haben vor allem Kinder und Jugendliche verinnerlicht, die mit den digitalen Medien aufwachsen. Der Kontrast zwischen ihrer digitalen Lebenswirklichkeit und dem analogen Schulkosmos ist riesig. Wenn Lehrer den Kontakt zu ihren Schülern nicht verlieren wollen, weil Tafel, Handschrift und Schulbuch zu weit entfernt sind von Touchscreen, Tastatur und eReader, muss neue Technologie in den Unterricht eingebunden werden – und darf nicht länger mit Handyverboten aus Klassenzimmern verbannt werden.
Wir müssen begreifen, dass der digitale Wandel weder Problem noch Selbstzweck, sondern Teil der Lösung für ein chancengerechtes Bildungssystem ist. Beim Umgang mit immer heterogeneren Lerngruppen geht es um gute Inklusion, gute Ganztagsschulen und gute individuelle Förderung in der Schule – und um Ideen, wie die Digitalisierung dabei helfen kann. Veränderungen werden nur dann gelingen, wenn die Technik als Hilfsmittel und nicht als Ersatz für Lehrpersonal verstanden wird. Die Digitalisierung ist keine Einladung, unter dem Deckmantel des technischen Fortschritts Kosten einzusparen; richtig eingesetzt, gibt sie den Lehrern aber mehr Zeit fürs Wesentliche: die individuelle Arbeit mit ihren Schülern.
Jenseits der Initiative einzelner Lehrer ist der Staat gefragt
Ein solch klares politisches Bekenntnis bietet die Möglichkeit, unser Bildungssystem zu einem Ideenlabor zu machen. Jenseits der Initiative einzelner Lehrer ist der Staat gefragt, alternative Modelle des Lehrens und Lernens zu fördern. Zum einen durch flächendeckendes WLAN an deutschen Schulen und wissenschaftlich begleitete Leuchtturmprojekte, die in der öffentlichen Debatte als pädagogische Musterbeispiele dienen können; zum anderen durch eine massive Fortbildungsoffensive für Pädagogen; und nicht zuletzt durch Förderprogramme und einen speziellen Wagniskapitalfonds für Gründer im Bildungsbereich. Denn für chancengerechte Bildung braucht es in Zukunft sowohl mehr kreative Pioniere wie Salman Khan oder Arndt Kwiatkowski als auch viele kompetente Lehrkräfte, die die Chancen digitalisierten Lernens gezielt nutzen können.