Seine politische Karriere endet abrupt: Danach wird er Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Teil 9 der Abendblatt-Serie.
Man soll die Leser einer ehrbaren Tageszeitung ja nicht zum Wetten verführen, doch wird es auf der Welt nicht viele Regierungschefs geben, die namentlich und mit kompletter Privatadresse im öffentlichen Telefonbuch stehen. Wie Helmut Schmidt. Aus Prinzip handhabte er es so – als Bundeskanzler und in der Zeit danach. Immer schon. Nachzulesen ist, was ohnehin jeder weiß: Neubergerweg 80-82 in 22419 Hamburg. Helmut Schmidt steht da geschrieben, nicht mehr, nicht weniger. Auch die Telefonnummer ist angegeben.
Wer den Staatsmann persönlich an den Hörer – des sehr altmodischen – Telefonapparats in seinem Arbeitszimmer kriegen wollte, musste allerdings schon eine Geheimnummer wählen. Karl Klasen hatte sie.
Zur Erinnerung: In Diensten der Norddeutschen Bank gab der spätere Bundesbankpräsident Klasen dem aufstrebenden Jungpolitiker Schmidt vor mehr als sechs Jahrzehnten einen Privatkredit über 5000 Mark. Davon kaufte sich der Autonarr einen Mercedes 170 Diesel. Natürlich wurden die Raten akkurat zurückgezahlt. Nicht nur deswegen konnten die beiden Hanseaten prima miteinander. Im Herbst 1982 also wählte Klasen die Geheimnummer seines Weggefährten. Im Auftrag des „Zeit“-Verlegers und früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Gerd Bucerius sollte er diskret anklopfen, ob der scheidende Bundeskanzler Interesse an einem Neubeginn im fremden Metier hätte. „Kann ich mir vorstellen“, habe Schmidt zu Klasens Verblüffung in den Hörer gemurmelt. Einzige Bedingung: Geheimstufe eins. Es folgten mehrere Gespräche mit Bucerius unter vier Augen, zum Beispiel auf einem gemeinsamen Tokio-Flug, sowie ein langer Koberbrief in Schmidts Arbeitsurlaubsort auf Gran Canaria. Dann war der Coup perfekt.
Mit allem hatte die Öffentlichkeit gerechnet, aber nicht mit einem Wechsel vom Kanzleramt ins Zimmer 605 des „Zeit“-Hauses am Speersort in der Hamburger Innenstadt. Hatte Schmidt seine Hassliebe zur Journaille bisher doch stets inbrünstig gepflegt und Medienvertreter als „Indiskretins“, „Wegelagerer“ und – nicht immer nur augenzwinkernd – „Schwerverbrecher“ verhöhnt. Und nun das!
Über Geld wurde nicht gesprochen. Angeblich sollen jährlich rund 300.000 Mark überwiesen worden sein, gut 150.000 Euro. Anderswo hätte einer wie Schmidt ein Mehrfaches verdienen können. Doch interessierte ihm Materielles zuletzt ohnehin nicht mehr. Und die Vereinbarung wurde per Handschlag geschlossen. Ein schriftlicher Vertrag existierte nicht. Bis zum Schluss nicht.
Am 9. Mai 1983 war es so weit. Schmidts beruflicher Neustart glich dem Einzug eines Triumphators. Auf dem Flur standen Redakteure vor ihren Büros und applaudierten. Der Neuling hatte ausdrücklich auf einem schlichten Umfeld bestanden. Sein Wunsch war Bucerius Befehl: Die Butze umfasste gerade einmal 16 Quadratmeter, bot dafür einen grandiosen Blick über die Keimzelle der Hansestadt. Der Rest passte ins Bild: Palisander-Schreibtisch, eine Lampe mit kreisrundem Glasaufsatz, eine kleine Sitzecke, brauner Teppich, natürlich ein Silberdöschen mit stapelweise Reyno White.
Kleiner Einschub in diesem vorletzten Serienteil: Auf die Vorliebe für parfümierte Glimmstängel kam Schmidt, der seit seiner Konfirmation bis zum Ende vor elf Tagen wie ein Schlot paffte, Mitte der 1960er-Jahre. Im Rahmen der Kohlekrise besuchte der Politiker damals mehrfach Grubenarbeiter unter Tage. Da dort das Rauchen wegen Explosionsgefahr verboten war, verwendeten viele der Bergleute Schnupftabak. Dessen Mentholgeschmack gefiel Helmut Schmidt – fortan blieb er bei Schnupftabak Marke „Gletscherprise“ und auch bei entsprechend aromatisierten Zigaretten.
Schmidt frotzelte, Journalist würde er nie, er könne das Arbeiten nicht lassen
Zurück ins „Zeit“-Büro. Anfangs hingen nur zwei Fotos an den Wänden: Nordlicht Schmidt an Bord einer Segelyacht sowie ein signiertes Bild des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Zur Erbauung spendierte Gerd Bucerius seinem neuen Mitarbeiter zudem ein Gemälde des von ihm so geschätzten Henry Moore.
Bevor der neue Mitherausgeber Schmidt seinen noch ungewohnten Arbeitsplatz besetzte, war eine unvermeidliche Prozedur zu überstehen, die der Novize überhaupt nicht mochte: Sektempfang mit Redaktion und Verlag. „Dummschwätzerei“ nannte er solche Zusammenkünfte knurrend. Schmidt schüttelte artig Hände und macht muntere Miene zum lockeren Beisammensein.
Der Mann malochte lieber. In einer kurzen, launigen Ansprache kokettierte Schmidt mit seinen inbrünstig gepflegten Vorurteilen. Letztlich, frotzelte er, werde aus ihm niemals ein richtiger Journalist, weil er sich das Arbeiten nicht abgewöhnen könne. Beifall, Gelächter.
Der Premierenartikel aus seiner Feder (sic!) des damals 64 Jahre alten Jungjournalisten Schmidt beschäftigte sich mit fehlenden Gemeinsamkeiten in der Sicherheits- und Europapolitik. Der Kanzler a.D. lieferte damit Diskussionsstoff und frönte parallel seinem Hobby, die Regierung zu piesacken. Er war in seinem Element. Er konnte seiner Meinung Gehör verschaffen, durchaus auch schulmeistern, gut bezahlte Vorträge in aller Welt halten. Vor allem blieb er wichtig, nur anders.
Im Verlag schrieb er wie ein Weltmeister Memoranden, bis zu 30 Seiten lang. „Zeit“-Chefredakteur Theo Sommer erinnert sich an einen 29 Seiten langen Brief von seinem Freund und Mitstreiter Schmidt. Handschriftliche Anrede: „Lieber Theo“. Ausklang „Stets Ihr Helmut“. Natürlich duzten sich fast alle Genossen in der SPD, eigentlich jedoch hasste Schmidt diesen Usus. Und tatsächlich: Schmidt besuchte Konferenzen. Und er hörte zu. Ein Wunder! Im Kanzleramt zuvor hatte er eher in Feldherren-Manier kommandiert.
Immer wieder beobachteten die Redakteure mit großer Faszination, wie Helmut Schmidt mit Hilfe seines Krückstocks nach dem Sahnekännchen und der Zuckerdose auf dem Konferenztisch angelte, diese nach und nach behutsam in seine Richtung dirigierte und dann zugriff. Er schaffte es. Immer. Andere zählten mit: Bei 13 Zigaretten lag Schmidts Rekord – während einer Sitzung von der Dauer eines Fußballspiels.
Trauer um Helmut Schmidt
1995, nach dem Tod des Verlegers Bucerius, bezog der frühere Staatsmann dessen Eckbüro. Mehr Luxus gab es auch dort nicht. Mindestens dreimal in der Woche ließ Schmidt sich von seinem Chauffeur aus Langenhorn in die Innenstadt fahren. Auch noch kurz vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus St. Georg wegen eines Gefäßverschlusses am 17. September blieb er preußisch-hanseatisch pflichtbewusst. Der Schreibtischsessel war sein Thron.
Mails nutzte er zwar beruflich für internationale Kontakte, zog aber – trotz Hörgerätes – ein speziell präpariertes Telefon vor. So pflegte er auch den Draht zu der in England lebenden Tochter Susanne. Dass die promovierte Volkswirtin nicht im geliebten Norddeutschland blieb, war dem RAF-Terror geschuldet.
Nach ihrem Studium und ersten Berufserfahrungen bei der Deutschen Bank bot sich die Chance, eine Filiale in Lüneburg zu übernehmen. Ein erstklassiger Job nicht weit von ihrer Geburtsstadt in einem schnuckeligen Städtchen, das wäre etwas Feines gewesen. Wäre. Denn die sicherheitsgefährdete Kanzlertochter hätte vor Ort mit Personenschutz leben müssen. Mit Umwegen über ein österreichisches Kreditinstitut und eine japanische Investmentbank wechselte Frau Dr. Kennedy-Schmidt als Moderatorin zum Fernsehsender Bloomberg TV nach London. Sie schrieb Bücher, hielt Vorträge, fand beruflich wie privat ihr Glück.
Nach dem Tod ihrer Mutter Hannelore vor fünf Jahren wird Susanne am Montag erneut in der ersten Reihe des Michel sitzen – beim letzten Geleit für ihren Vater, wenn ein Kapitel deutscher Geschichte auf den Tag einen Monat vor Helmut Schmidts 97. Geburtstag würdevoll ausklingt.
Letzte Ruhe in einem bewusst schlicht gehaltenen Familiengrab neben Loki
Auf dem Ohlsdorfer Friedhof soll der verstorbene Staatsmann neben Ehefrau Loki und seinen Eltern ewige Ruhe finden. Es ist ein bewusst schlicht gehaltenes Familiengrab: ein verwitterter Stein, eingerahmt von zwei Rhododendren, davor ein hellgrauer Marmorquader mit blaugrauer Schrift. Die letzte Ruhestätte passt zu beider Einstellung und zu ihrem Werdegang. In der Friedhofsverwaltung wird die Grabstätte nahe der Mittelallee unter der Nummer U 33 244249 geführt.
Erinnerungen und gute Gedanken bleiben. So wie ein Beitrag von Helmut Schmidt in der „Zeit“ aus dem Oktober 2005. Die Überschrift sagt mehr als tausend Worte: „Mein Hamburg“. In dieser ganz persönlichen Liebeserklärung blickt der Hanseat aus Prinzip auf die mehr als zwölf Jahrhunderte währende Geschichte seiner Heimatstadt. Er preist das Selbstbewusstsein der Bürger und die Schönheit der Stadt. Gegen Ende des Beitrags macht Helmut Schmidt kein Hehl aus der Gunst seines Herzens: „Ich will meine Stadt nicht idealisieren. Wohl aber bekenne ich gern meine Treue zu ihr und meinen Stolz, den ich immer wieder empfinde, wenn ich von der Lombardsbrücke auf die Kirchtürme Hamburgs schaue, auf den Michel und den Rathausturm und auf die Kupferdächer rings um die Binnenalster.“
Ja, er hat sie inniglich geliebt, auf seine Art: Loki, Susanne und Hamburg, seine Stadt.
Im letzten Teil am Montag lesen Sie: „Moin!“ sagt Helmut Schmidt daheim in Langenhorn. Er trägt Trainingshose, Wollpulli, Badelatschen und reicht die Hand. Dann greift er zur Zigarette und beginnt zu erzählen ...