Hamburg. Von Häftlingen gefertigt und ein Vermögen wert: Das Internationale Maritime Museum zeigt die größte öffentliche Sammlung.
Abgenagte, ausgekochte Tierknochen, Stofffetzen, Haare, Schnitzmesser und winzige Bohrer aus Holz waren die einzigen Materialien und Werkzeuge. Noch spannender als die faszinierenden Schiffsmodelle jedoch ist ihre Entstehungsgeschichte: Französische Gefangene aus der Ära der Napoleonischen Kriege nutzten vor etwa 200 Jahren Langeweile in den Haftanstalten des Vereinigten Königreichs, um aus Tierknochen Kunstwerke zu schaffen.
Von den rund 450 weltweit bekannten Exemplaren befinden sich 38 in der Hansestadt: eines im Hamburg-Museum, fünf im Altonaer Museum sowie 32 im Internationalen Maritimen Museum in der HafenCity. Es ist die größte öffentlich zugängliche Sammlung der Welt. Ein just erschienenes, 408 Seiten und Hunderte Fotos umfassendes, englischsprachiges Buch präsentiert bisher unbekannte Details.
Im Maritimen Museum, neunter Stock – vor Ort Deck genannt – sitzt ein freundlicher Mann mit grauem Bart in einer offenen Werkstatt. In der Regel dienstags ist er dort. Er trägt weiße Handschuhe und arbeitet mit Fingerspitzengefühl an einem Knochenschiff. Das Modell der „Santísima Trinidad“ ist gut und gerne zwei Jahrhunderte alt und hervorragend erhalten. Die einstmals verwendeten Stoffe für Segel und Haare für die Takelage wurden durch moderne, haltbare Materialien ersetzt. Früher verwendeten die Kriegsgefangenen zudem dunkle Barte, eine Art Hornplatten vom Oberkiefer der Walbarte. Knochen und Barte wurden in kleine Streifen gesägt. Für die Löcher schuf man später winzige Bohrer. Es war eine unfassbare Feinstarbeit.
Von außen kiebitzende Besucher werden in den kleinen Raum gebeten. Neugierig folgen sie dieser Einladung. „Herzlich willkommen“, sagt Buchautor Manfred Stein. Der 70 Jahre alte Ozeanograf und Museumsberater ist einer der wenigen Experten. Kurz gibt er den interessierten Gästen Informationen über einen gruseligen Teil der historischen Seefahrt. Darüber hält er im Maritimen Museum auch Vorträge; Der nächste steht am 27. Januar auf dem Programm.
Während der Napoleonischen und Koalitionskriege zwischen 1792 und 1815 sowie der Seeschlachten zwischen Briten und Amerikanern (1812 bis 1815) gerieten Zehntausende in große Lager oder auf Gefangenenschiffe. Mehr als 100 dieser Schiffe mit jeweils bis zu 450 Inhaftierten lagen zumeist in Südengland oder im Umkreis der Themsemündung vor Anker. In erbärmlichen Verhältnissen, auf engstem Raum, fristeten diese Menschen ein entsetzliches Dasein – oft jahrelang.
Dennoch verhielten sich die Briten relativ zivilisiert. Zwangsarbeit oder Hunger gab es wohl kaum. Neben den Platzverhältnissen und mangelnder Hygiene war das eintönige Leben das Hauptproblem. Einige Sträflinge, überwiegend Franzosen, machten im Rahmen der Möglichkeiten aus der Not eine Tugend: In filigraner Fleißarbeit schufen sie in ihren Zellen in bis zu sechsköpfigen Teams kunstvolle Knochenschiffe. Einige sind kaum mehr als zehn Zentimeter, andere weit mehr als einen Meter lang. Manchmal handelte es sich um bezahlte Auftragsarbeiten betuchter Briten, mindestens einmal um ein ungewöhnliches Geschenk. Der Legende nach fertigten es inhaftierte Amerikaner des Kriegsschiffs „USS Chesapeake“ für die Witwe ihres bei der Kaperung getöteten Kapitäns an.
Wie auch immer: Heutzutage steht das prachtvolle, 1,44 Meter lange Modell als Knochenschiff auf Deck 9 des Maritimen Museums in Hamburg. Dessen Mentor Peter Tamm pflegt gerne vom Kauf zu erzählen: Vor Jahrzehnten sei das gewesen, in einem kleinen, verstaubten Antiquariat in London. Mehr als ein paar Hundert Pfund habe er für das abgetakelte Exemplar nicht bezahlt. Aktuell ist der Wert schwer zu beziffern. Da weltweit nur rund 450 Knochenschiffe bekannt sind, werden sie bei Auktionen oder Privatverkäufen mit bis zu 100.000 Euro gehandelt.
Im Falle der „Chesapeake“ kommt neben der Größe die Verwendung von Walknochen als weitere Besonderheit hinzu. „Jedes Knochenschiff hat eine eigene Geschichte“, weiß Manfred Stein, „und oft sind die Wege der Modelle abenteuerlich.“ Finanzstarke Sammler hoffen, dass irgendwo auf der Erde vielleicht doch noch ein bisher unbekanntes Knochenschiff auftaucht.
Peter Tamm, aus dessen Besitz die Exponate im Museum stammen, wurde früh von der Faszination dieser seltenen Schiffe infiziert. Während einer Reportage als Schifffahrtsredakteur des Hamburger Abendblatts besuchte er den griechischen Großreeder Aristoteles Onassis auf dessen Yacht „Christina“. In einem Regal im Schlafzimmer entdeckte der Hamburger Tamm ein Knochenschiff. Diese Begeisterung hielt lebenslang – wie man sehen kann.
Internationales Maritimes Museum, Koreastraße 1, 20457 Hamburg. Geöffnet täglich 10 bis 18 Uhr. Erwachsene 12,50 Euro, Kleinfamilie (ein Erwachsener und bis zu vier Kinder bis 16 Jahre) 14,50 Euro.Die 32 Knochenschiffe stehen in Deck 9