Er schreibt und unterhält, inszeniert und initiiert. Alexander Schuller über einen Schwaben, der am Kiez heimisch wurde.
Ulrich Waller gesteht gleich zur Begrüßung, dass er ein wenig müde sei. Genauer gesagt: urlaubsreif. Weil ihm neben dem üblichen Verwaltungskram, den er als Intendant des ältesten deutschen Privattheaters zu bewältigen hat, drei Premieren nebst Feiern innerhalb weniger Wochen in den Knochen stecken.
Ende September brachte das St. Pauli Theater das schräge Hanseaten-Musical „Hamburg-Royal“ auf die Bühne, das er inszeniert hat. Anfang Oktober gab es die Eröffnung der neuen Spielzeit des Hansa Varieté Theaters am Steindamm, das er mit seinem Geschäftspartner Thomas Collien (dem auch das denkmalgeschützte, knapp 175 Jahre alte St. Pauli Theater gehört) vor acht Jahren aus dem Dornröschenschlaf holte. Und nur zwei Tage später feierte man auf dem Filmfest die Premiere seines Dokumentarfilms über sein italienisch-deutsches Theaterprojekt „Blutige Aprikosen“. Gemeinsam mit den Bewohnern des Toskana-Dorfes San Gusmè hat er ein vergessenes Massaker der Division „Hermann Göring“ am 4. Juli 1944 aufgearbeitet, das als Racheakt für einen Partisanenüberfall auf deutsche Soldaten an Frauen und Kindern verübt wurde – und seit damals das ganze Dorf entzweit.
Dazu muss man wissen, dass Ulrich Waller und seine zweite Frau, die Schauspielerin und Regisseurin Dania Hohmann in San Gusmè mitten in den Weinbergen ein kleines Haus haben. Und dass ihn diese Geschichte, seit er sie gehört hatte, nicht mehr losließ. So wie vermutlich alles, was er anpackt. Immer ein wenig ruhelos, rastlos, aber von manischer Besessenheit weit entfernt. „Ich neige tatsächlich dazu, alle möglichen Dinge parallel zu machen. Jetzt versuche ich, allmählich mal den Fuß vom Gas zu nehmen.“
So haben Sie Theater- und Opernbühnen noch nie gesehen
Doch dann stürmt Waller, der am 1. Januar seinen 60. Geburtstag feiern wird, die steilen Treppen im Verwaltungstrakt des St. Pauli Theaters hoch. Seine langen, etwas fisseligen Nackenhaare, die man durchaus als sein äußeres Markenzeichen bezeichnen kann, fliegen. Er nimmt im Konferenzraum unterm Dach Platz, wirft einen kurzen, prüfenden Blick über die „Meile“, nippt an einem Latte Macchiato, beginnt zu reden – und hört dann so schnell nicht wieder auf. Eigentlich gar nicht.
Waller spricht leise. Es ist ein leichter Singsang, süddeutsch gefärbt. Im hessischen Marburg wurde er geboren; in Tübingen jedoch verbrachte er seine prägenden Jahre, das älteste von insgesamt fünf Geschwistern. Sein Vater war der Internist Hans Dierck Waller, der auf dem Gebiet der Hämatologie und Onkologie zu den führenden deutschen Forschern zählte. Wallers drei Brüder sind ebenfalls Mediziner geworden, seine Schwester Architektin, aber als schwarzes Schaf der Familie fühlte er sich dennoch nie, „auch wenn meine Eltern anfangs doch schlucken mussten, als ich ihnen mit 20 Jahren verkündete, meine Universitätskarriere abzubrechen, um dem Ruf des Frankfurter Schauspiels zu folgen, das mir einen Vertrag als Regieassistent gegeben hatte.“ Der sei mit 1800 Mark im Monat dotiert gewesen, 1976 ein ziemlich gutes Anfangsgehalt für einen Quereinsteiger wie ihn – der aber immer nur Theater machen wollte. „Ich hatte schon als Schüler Theaterkritiken für die Lokalzeitung geschrieben und wollte unbedingt herausfinden, wie Theater wirklich funktioniert.“
In Tübingen verärgerte er das Ensemble so sehr, dass es sich weigerte zu proben
Nach dem Abitur auf einem altsprachlichen Gymnasium hatte Waller sich für Germanistik und Geschichte entschieden, im Nebenfach Philosophie, aber das nur, weil er unbedingt Ernst Bloch kennenlernen wollte, der in Tübingen lehrte. „Seine Vorlesungen empfand ich allerdings als äußerst komplex und kompliziert“, sagt Waller, „doch was mir dann wirklich gut gefiel, war, dass Bloch als ausgewiesener Karl May-Kenner eine diebische Freude daran hatte, seine Assistenten immer wieder mit erfundenen Pferdenamen zu foppen. Die mussten dann immer alle Karl-May-Bände von vorne bis hinten durchsuchen, aber gefunden haben sie natürlich nie etwas.“
Bevor Waller für drei Semester auf die Münchner Uni wechselte, wo er Theaterwissenschaften studieren wollte, schob er 1975 eine Regie-Hospitanz am Landestheater in Tübingen ein. Doch nun, lacht er, sei das passiert, was vermutlich immer passiert, wenn man direkt von der Uni kommt – und sich selbst als legitime Nachhut der Studentenbewegung empfindet, „obwohl die APO-Demos in Tübingen, die ich als Schüler mitbekommen habe, eher gemütlich abliefen“. Waller fand die Schauspieler „erstmal unheimlich blöd, weil die sich, meiner Meinung nach, weder mit dem Stück, noch mit der Zeit auseinandergesetzt hatten, in der das Stück angesiedelt war“. Also zettelte er lange Diskussionen an, bis das Ensemble sich weigerte, weiter in seiner Anwesenheit zu proben. „Später habe ich dann begriffen, was es bedeutet, sich selbst – also seinen Körper – auf eine hell erleuchtete Bühne zu stellen, vor einen dunklen Zuschauerraum.“
Mit „später“ meint er in Frankfurt das Schauspiel, wo er nun für Regisseure wie Christof Nel und Wilfried Minks arbeitete. Dann wechselte er zu Jürgen Flimm ans Kölner Schauspielhaus, von dort ging Waller 1980 für drei Jahre ans Hamburger Schauspielhaus, wo man damals mit einer „Leitungsgruppe“ experimentierte, „was leider schnell zu solch großen Zerwürfnissen führte, dass einige Schauspieler und Regisseure überhaupt nicht mehr miteinander sprachen“, erinnert er sich.
Danach tingelte Waller mehrere Jahre durch Deutschland, machte Filme und Theater, sammelte Erfahrung und noch mehr Erfahrung, inszenierte auch am Tübinger Landestheater. „Ich wollte dort wenigstens einmal durch die Vordertür gehen“, sagt er, „und außerdem habe ich mich sehr gefreut, meinem alten Deutschlehrer wieder zu begegnen, der meinen Funken fürs Theater letztlich entfacht hatte.“
Tja, und dann habe eben Ulrich Tukur eines Tages angerufen, der ein Projekt mit den Hamburger Stadtmusikatzen, einem Frauenorchester, am Laufen hatte. „Uli fragte, ob er die nicht auf der Bühne einfach alle umbringen könnte“, erzählt Waller, „und da haben wir dann gemeinsam ‚Blaubarts Orchester’ erfunden.“ Eigentlich wollten sie diese leichte wie auch mörderische Revue im St. Pauli Theater aufführen, aber sie konnten die Familie Collien von diesem Stoff nicht überzeugen. Corny Littmann griff zu, sodass die „Blaubart“-Premiere 1993 im Schmidt-Theater stattfand und von dort aus nach vielen ausverkauften Vorstellungen einen umjubelten Siegeszug durch Deutschland antrat.
Das St. Pauli Theater verstehtWaller als Gemischtwarenladen
„Jetzt war ich in Hamburg bekannt“, sagt Waller. Das führte dazu, dass Jürgen Hunke, inzwischen Besitzer der Hamburger Kammerspiele, ihm die Intendanz für sein Haus antrug. Waller sagte unter der Bedingung zu, dass er Tukur mit an Bord nehmen konnte. „Plötzlich stand da auch Peter Zadek vor der Tür und wollte bei uns arbeiten. Von ihm habe ich gelernt, Demut vor dem Text zu entwickeln, und dass im Zentrum des Theaters immer die Schauspieler stehen.“
Dass Waller und das St. Pauli Theater schließlich doch zueinander fanden, lag an den erbitterten Fehden, die er sich im Laufe der folgenden Jahre immer wieder mit dem umtriebigen Jürgen Hunke lieferte. „Ich war der Ansicht, dass die jüdische Geschichte der Kammerspiele zerstört werden sollte“, sagt Waller. „Als Hunke und ich während einer öffentlichen Sitzung des Kulturausschusses wie zwei Boxkämpfer aufeinander zugingen, wusste ich: Das war es jetzt endgültig.“
Gleichzeitig war dies der Beginn einer Freundschaft mit Thomas Collien, „die auch ernsthafte Krisensituationen bisher immer überstanden hat“, sagt Waller. „Thomas ist natürlich erstmal Kaufmann, aber er ist auch für neue Ideen und gewisse Wagnisse entflammbar.“ Zwar würden sie jetzt seit sechs Jahren von der Stadt „ein bisschen“ subventioniert, aber so bequem wie die staatlichen Bühnen, denen es ja praktisch egal sein könne, wie viele Einnahmen sie generierten, lebten sie keineswegs. „Unser Theater ist ein Gemischtwarenladen – und das muss es auch sein. Wir stellen uns immer die Frage: Wie intelligent kann und darf Unterhaltung sein auf der Meile? Das Publikum ist nämlich viel klüger als viele gemeinhin glauben ...“
So gebe es immer Programmschwerpunkte, etwa die großen amerikanischen Erzähler, die sich am Unterhaltungstheater des Broadways oder Londoner Westends orientierten, aber vor allem auch alle Stücke der französischen Autorin Yasmina Reza („Der Gott des Gemetzels“). „Ihr neues Stück ‚Bella Figura’ wird im Januar Premiere haben“, freut sich Waller, „aber wir müssen uns bis dahin überlegen, wie wir ein Auto auf unsere doch etwas kleinere Bühne bringen. Ein ganzes Auto! Aber unser Bühnenbildner wird es schaffen. Wir werden es schaffen!“ Dies treibe ihn immer wieder an: „Das machen zu können, was man machen will, es dann auch zu machen und die Menschen, die man schätzt, dazu einzuladen, mit zu tun. Intendant sein verstehe ich so: ein guter Gastgeber zu sein.“