Hamburg . Regisseur Lars Becker hat mit „Nachtschicht“ eine der stärksten deutschen Krimi-Reihen geschaffen. Drehorte sucht er stets abseits.
Es ist ein total verregneter Vormittag, als Lars Becker die Kaffeerösterei Torrefaktum in Altona betritt, die sich auf viele und zum Teil selbst veredelte Kaffeesorten spezialisiert hat. Eine gute Wahl, denn der Regisseur hat im Laufe seiner vielseitigen Laufbahn auch einmal etwas mit Kaffee zu tun gehabt, wie er später erzählen wird. Heute kennt man Becker vor allem von seiner Arbeit für das Fernsehen und das Kino. Das Fachportal „Blickpunkt: Film“ schreibt über ihn: „Kriminalfilme sind seine Spezialität.“ Seit 13 Jahren schreibt und inszeniert er zum Beispiel jedes Jahr eine Folge der ZDF-Reihe „Nachtschicht“ und setzt dabei auch Hamburg als Schauplatz immer wieder in ein neues Licht. Vor wenigen Tagen war die neue Folge „Der letzte Job“ vorab beim Filmfest Hamburg zu sehen. Das ZDF zeigt sie im Januar.
Viele Menschen suchen an diesem Morgen Schutz vor dem Schmuddelwetter. Auf dem Tisch liegt eine Zeitung, die auf mehreren Seiten über die Situation der Flüchtlinge in der Stadt berichtet. Wie passend! Ganz aktuell ist Lars Becker nämlich im Kino mit seinem Beitrag zu diesem Thema vertreten. Sein Spot „Refugees Welcome“ zeigt Flüchtlinge in ihren Unterkünften in Hamburg. Sie nennen ihre Namen, sagen, woher sie kommen und in welchem Beruf sie gearbeitet haben. Es ist ein kleines, aber wichtiges schwarzweißes Zeichen der Menschlichkeit in Zeiten der politischen Kontroversen bis hin zur Panikmache.
„Es hat mich unzufrieden gemacht, wie unkritisch die Bevölkerung mit einigen Äußerungen der Politiker umgegangen ist“, sagt Becker. „Ich habe schon eine starke Resonanz auf den Spot erfahren.“ Seine Frau Fania, die aus Eritrea stammt und oft für seine Filme als Kostümbildnerin arbeitet, hatte in vielen Fällen gedolmetscht. Der Spot lief beim Filmfest vor allen Filmen aus dem Programm. Mittlerweile haben sich Kinobetreiber wie Hans-Joachim Flebbe und Christoph Ott bei Becker gemeldet, weil sie den Spot auch zeigen wollen.
In den 80er-Jahren betrieb er mit fünf Kollegen eine Bar auf St. Pauli
Viele der Flüchtlinge, die in diesen Tagen Europa erreichen, kommen aus Syrien und fliehen vor dem Krieg. Becker kennt das Land aus eigener Erfahrung. In den 70er-Jahren war er im Nahen Osten mit einem VW-Bus auf Urlaubsreise, einige Jahre später hat er dann Autos nach Aleppo überführt und die Stadt in guter Erinnerung behalten. „Es ist ein Jammer, die Stadt ist zu 50 Prozent zerstört. Dabei war sie eine der schönsten in der Region, größer als die Hauptstadt Damaskus“, sagt Becker.
Auch seine aktuelle „Nachtschicht“-Folge beschäftigt sich mit der Flüchtlingsproblematik. In einem Hamburger Parkhaus wird ein Kleinbus gefunden, mit dem afrikanische Flüchtlinge transportiert worden waren. Der Bus hatte auch als Fluchtfahrzeug nach einem Polizistenmord gedient. Der Kriminaldauerdienst (KDD) ermittelt in einer Asylbewerberunterkunft. Wegen der aktuellen Thematik hatte das ZDF versucht, den Film vom geplanten Sendetermin im Januar vorzuverlegen. Bisher vergeblich. Wie kam der Regisseur auf die Idee, hat er etwa prophetische Gaben? „Das Phänomen ist ja nicht neu, aber die aktuellen Ausmaße sind es“, stellt er klar.
In der „Nachtschicht“ ermittelt der KDD, zu dem zurzeit Barbara Auer, Armin Rohde und Minh-Khai Phan-Thi gehören. Der Schauplatz Hamburg spielt auch eine wichtige Rolle. „Die Stadt ist noch lange nicht auserzählt“, findet der Regisseur. Er will Hamburg allerdings nicht als Postkartenkulisse ins Bild setzen. „Der Hafen kommt bei mir zwar auch vor, aber anders. Man muss auch mal in Barmbek, Harburg oder Wilhelmsburg drehen.“
Oder eben auf dem Kiez. Auf St. Pauli kennt sich Becker besonders gut aus, weil er dort in den 80er-Jahren zusammen mit fünf Kollegen die Bar Centrale betrieb. „Das war damals eine wichtige Lebenserfahrung. Wir zählten zu den Ersten, die eine dieser italienischen Kaffeemaschinen hatten. Viele Musiker kamen nach Mitternacht nach ihren Konzerten vorbei. Hamburg stand in den 80er-Jahren bei ihnen hoch im Kurs. Herman Brood war dabei, The Clash, Chaka Khan oder Neue-Deutsche-Welle-Bands wie Fehlfarben. Aber auch viele Kiezgrößen wussten den nächtlichen Espresso zu schätzen.
Von den Kontakten aus der Zeit profitiert Lars Becker noch heute ab und zu, wenn er auf St. Pauli drehen will. „Heute ist zwar eine andere Generation am Ruder, aber es spricht sich schnell herum, wer da kommt.“ Der Stadtteil liegt ihm aber auch in anderer Hinsicht am Herzen. Becker zeigt sich als Bewahrer und macht auf eine bisher paradoxerweise oft übersehene Charakteristik des Viertels aufmerksam, die eigentlich als Blickfang installiert wurde. „Ich würde gern einmal mit Olaf Scholz darüber sprechen, ob man nicht 20.000 oder 30.000 Euro in die Hand nehmen kann, um die historischen Neonreklamen zu sichern. Man muss ja nicht immer alles Geld in den Hafengeburtstag stecken“, sagt er. Teilweise weist die Werbung auf Etablissements hin, die schon lange nicht mehr existieren. Nach Beckers Ansicht sind die leuchtenden Werbemittel „Teil des Weltkulturerbes von Hamburg“.
Am 7. November zeigt das ZDF eine Fortsetzung von „Unter Feinden“
Während des Gesprächs grüßt der Regisseur immer mal wieder andere Gäste in dem Café. Offenbar ist er hier bekannt wie ein bunter Hund. „Bunte Hunde“ hieß auch sein zweiter Spielfilm, der vor 20 Jahren in die Kinos kam. In den Hauptrollen waren zwei junge Wilde zu sehen, die bis heute ganz gut im Geschäft geblieben sind: Til Schweiger und Peter Lohmeyer. Produziert hat den Film damals die Hamburger Wüste Film. Zusammen mit Ralph Schwingel und Stefan Schubert hatte Becker die Produktionsfirma gegründet, war aber später dort ausgestiegen.
Auf den Krimi-Geschmack gekommen ist der Regisseur während eines Paris-Aufenthalts. Dort hat er sich in der Cinémathèque française viele der französischen Polizeifilm-Klassiker angesehen. Film studiert hat er dann in Hamburg an der Hochschule für bildende Künste unter anderem mit seiner heutigen Kollegin Hermine Huntgeburth.
Aber Becker dreht nicht nur Krimis, er hat auch zwei als Bücher veröffentlicht. „Ich hätte auch die Idee für ein drittes.“ Aber die Pläne liegen auf Eis. Das Arbeitspensum, das er als Regisseur derzeit hat, lässt ihm dafür keine Ruhe. Aber natürlich liest er Krimis gern. Der amerikanische Autor Don Winslow ist einer seiner Favoriten.
Krimis mögen die Spezialität des Regisseurs sein, sind aber nur eine Seite seines filmischen Schaffens. Gern dreht er zur Erholung auch mal etwas Komisches. Auch Komödien wie „Schade um das schöne Geld“, und „Das Gelbe vom Ei“ pflastern seinen Weg. Sogar aus der nächsten „Nachtschicht: Ladies First“ will er etwas Lustiges machen – und freut sich schon. „Es passiert zwar ein Mord, aber dann ist man nur noch von Knallköpfen umgeben. Dass Armin Rohde so etwas kann, weiß man. Aber auch in Barbara Auer steckt eine Komödiantin“, verspricht er. Wir werden es sehen.
Gelacht werden durfte auch schon in Beckers „Kanak Attack“ aus dem Jahr 2000, einer Komödie aus dem Kieler Migrantenmilieu. Feridun Zaimoglu gab den jungen, unzufriedenen Mitbürgern mit Migrationshintergrund in seinen frühen Büchern eine Stimme, schrieb die Vorlagen und das Drehbuch. Inzwischen hat der Kieler Autor längst seine eigene gefunden und ist gerade Stadtschreiber in Mainz. „Ich werde in letzter Zeit wieder häufiger auf den Film angesprochen“, sagt der Regisseur. „Vielleicht sollte ich mal mit Feridun über eine Fortsetzung nachdenken.“
Dass Becker einen ausgeprägten Sinn für Humor hat, führt er auch auf seine Jugend zurück. Aufgewachsen ist der heute 61-Jährige, der in Hannover geboren wurde, in der Nähe der Grenze zu Holland. Die belgisch-niederländische Comic-Kultur hat ihn mitgeprägt. Kein Wunder, dass ihn der Eröffnungsfilm des Filmfests, „Das brandneue Testament“ vom Belgier Jaco Van Dormael, mit seinem visuellen Humor so gut gefiel.
Wer jetzt neugierig auf Beckers Filme geworden ist, braucht nicht bis zur nächsten „Nachtschicht“ zu warten. Am 7. November zeigt das ZDF seinen Polizeifilm „Zum Sterben zu früh“ mit Fritz Karl, Nicholas Ofczarek, Jessica Schwarz und Anna Loos. Zwei Ermittler sind darin Drogendealern auf der Spur, geraten aber selbst in jede Menge Schwierigkeiten. Es ist die Fortsetzung und zugleich Vorgeschichte seines Films „Unter Feinden“. Becker gerät ins Schwärmen, wenn er über das Fernsehspiel mit dem Kinoansatz spricht. „Das ist das, was ich eigentlich machen will: down and dirty. Es ist mein Lieblingsfilm. Ich glaube, davon machen wir noch einen dritten Teil.“
Längst hat Becker seinen Cappuccino ausgetrunken. Die Zeitung mit dem langen Bericht über die Flüchtlinge wird an einem Nebentisch gelesen. Filmemacher werden deren Probleme nicht lösen können. Becker hat sie aber immerhin mit seinem kurzen Film aus der Anonymität herausgeholt und dafür gesorgt, dass man sich daran erinnert, dass sie Namen, Gesichter und eine Geschichte haben.