Hamburg. Deutschkurse, Haarschnitte und Taxitouren: Ohne die Freiwilligen und ihre Aktionen könnte die Stadt die Zuwanderung nicht meistern.
Es ist Sonntag, eigentlich ein freier Tag für Friseure. Sie könnten ihre Scheren zur Seite legen. Einige Hamburgerinnen und Hamburger wollen aber lieber arbeiten und 120 unbegleiteten Flüchtlingen in einem Klassenraum an der Billwerder Straße die Haare schneiden. „Free haircuts for refugees“ hat der Erste vor Ort bereits an die Tafel geschrieben. Nach und nach trudeln immer mehr Freiwillige ein. Sie gehören zu den „Herzlichen Haarschneidern Hamburgs“, einer Facebook-Gruppe, die inzwischen 330 Mitglieder zählt.
Aus unterschiedlichen Stadtteilen, aus unterschiedlichen Salons, aus unterschiedlichen Gründen kommen sie regelmäßig am Wochenende zusammen. „Für mich hat das etwas mit Wertschätzung zu tun“, sagt Karl Neumann, der sonst bei den Scalphuntern in Eimsbüttel arbeitet. Der Haar- und Bartpflege werde gerade in der arabischen Kultur eine hohe Bedeutung beigemessen, und wenn er dazu beitragen könne, dass sich jemand endlich wieder gepflegt fühlt, dann sei das toll, sagt der 23-Jährige: „Und es ist eine Chance für uns Deutsche, uns mal von einer anderen Seite zu zeigen. Wir gelten ja leider als kalt.“ Dann kommt Neumanns erster Kunde. Ein Übersetzer (ebenfalls freiwillig vor Ort) erklärt dem Friseur die Wünsche des 16-jährigen Syrers, der strahlend auf dem Stuhl Platz nimmt. „Gerne etwas deutscher“ solle es aussehen; Neumann und der Flüchtling lachen.
Durchschnittlich 15 Minuten Zeit nehmen sich die freiwilligen Haarschneider für jeden Kunden, es soll nicht wie eine Abfertigung rüberkommen. Diese Gefahr besteht allerdings kaum, im Gegenteil. Jemand hat extra eine Popcornmaschine besorgt, bei den Warteplätzen wurde ein Büfett aufgebaut, sogar eine Band ist gekommen und spielt. Die Haircut-Aktion klingt wie eine Party, und sie sieht so aus, wenn man in die Gesichter der Leute blickt.
„Ich glaube, solche Aktionen motivieren die Leute“, sagt Miriam Erzuan, eine Friseurin, die jetzt Sozialökonomie studiert: „Ich jedenfalls wäre gewillt, mich in einem fremden Land schnell zu integrieren, wenn ich herzlich empfangen werde.“ Aber es sei keineswegs nur ein Geben, da sind sich die 30 anwesenden Friseure alle einig. Sie bekämen viel zurück. Dankbarkeit natürlich, aber darüber hinaus das gute Gefühl, Teil einer Bewegung zu sein. Einer Community, die begriffen hat, dass der Einzelne nicht ohnmächtig ist, sondern mit Kleinigkeiten etwas bewegen kann. „Wenn der Staat im Chaos versinkt, dann gibt es immer noch uns Bürger“, sagt einer, und die anderen halten ihre Daumen hoch.
Sie waren im Sommer der Anfang von etwas Großem. Die Idee der „Herzlichen Haarschneider“ wurde bereits in 60 andere Städte exportiert. „Es wird im Moment viel nach Hamburg geguckt, um sich Inspirationen zu holen“, sagt Georg E. Moeller. Der 60-Jährige ist kein Friseur, er ist Ideenscout und gehört zu einer Gruppe, die sich „Radical Neighbourhood“ nennt. Diese ist an vielen unterschiedlichen, klugen Aktionen für Flüchtlinge in der Stadt beteiligt – wie eben dem Haareschneiden. Es geht dabei stets darum, Kontakte herzustellen: „Je länger du zusammensitzt, desto weniger bemerkst du, dass der neben dir ein Kopftuch trägt oder einen Granatsplitter in der Hüfte hat oder mit fünf schon keine Mama mehr, weil sie doof stand, als die Kugel kam“, sagt Moeller. Der Hamburger beschäftigt sich schon seit der Lampedusa-Konferenz 2014 mit dem Thema, und er versteht nicht, wie kopflos die Regierung gerade vorgeht. „Der Staat wusste, was auf ihn zukommt. Die Behörden schieben jetzt in ihrer Überforderung Papiere hin und her und organisieren Zahlen, aber Flüchtlinge sind keine Zahlen. Wir fragen die Leute direkt: Was braucht ihr?“
Und dann versuchen Moeller und seine Mitstreiter, es zu organisieren. Über das Internet, über die sozialen Netzwerke, ohne die die aktuelle Hilfswelle niemals diese Dimensionen hätte annehmen können. In den 90er-Jahren, bei den Jugoslawien-Kriegen, gab es viel weniger Unterstützung, was auch mit der simplen Tatsache zusammenhängt: Es gab noch kein Facebook. Das Internet als Hilfsorganisation.
Einen anderen Rückblick wagt Georg E. Moeller. Er vergleicht die derzeitige Packen-wir-es-an-Stimmung in der Stadt mit der nach der großen Sturmflut 1962. Damals zeichneten allerdings Naturgewalten für die Katastrophe verantwortlich, heute sind es Kriege und Vertreibung. Und während man 1962 dem eigenen Nachbarn und Freunden zu Hilfe eilte, handelt es sich heute um Unbekannte. Für Fremde ein Mitgefühl zu entwickeln, fällt wesentlich schwerer. Viele wissenschaftliche Studien haben das bewiesen: Man spürt am ehesten Empathie für jemanden, der einem ähnlich ist. Denn dort stehen die Chancen größer, etwas zurückzubekommen. In der derzeitigen Situation jedoch stehen Berechnungen an letzter Stelle. Die Leute helfen, ohne eine Belohnung zu erwarten. „Die Bürger haben begriffen, worum es wirklich geht: Um Würde. Würde ist das zweite Wort in unserer Verfassung, und wir wollen sie auch denen entgegenbringen, die hier um Asyl bitten“, sagt Moeller.
Eine Belohnung erhalten viele Ehrenamtliche dennoch, etwas, das eigentlich unbezahlbar ist: neue Freunde. Preis und Leistung beim Helfen befinden sich also durchaus auf Augenhöhe. „Ich habe in den letzten drei Wochen mehr tolle Leute kennengelernt als in den letzten drei Jahren in Hamburg“, sagt Florian Riediger. Der Bacardi-Mitarbeiter ist vor Ort, weil seine Frau einen Salon führt und er im Karoviertel-Netzwerk „Refugees Welcome“ mitmacht.
Als nächstes organisiert er gemeinsames Fußballgucken für die unbegleiteten Jugendlichen. Die Fernseher und Sky-Receiver hat er schon besorgt, war kein Problem, es findet sich immer jemand, der gibt, wenn man nur eine Frage auf Facebook postet. „Hamburg ist eine abgrundtief herzliche Stadt“, sagt Riediger. „Man muss sie nur machen lassen.“ Auch andere Berufsbranchen haben sich überlegt, wie sie helfen können. So gibt es beispielsweise inzwischen eine Reihe von Hamburger Taxifahrern, die anstatt Pause zu machen, eine private Fahrt für Flüchtlinge übernehmen. „Es macht Spaß und gehört für mich zur Zivilcourage“, sagt Holger Brandt. Der Unternehmer aus Ottensen fährt Flüchtlingskinder zum Fußballspielen, er hat schon mal 120 gespendete Ranzen an Schulen mit vielen Asylbewerberkindern verteilt. Relativ häufig kutschiert er Kleidung zu den Messehallen. An einem Tag waren es mal 86 Wohnungen, aus denen Spenden für die Kleiderkammer abgeholt werden mussten. Bei Bedarf stellt der 54-Jährige dann auch gleich den Kontakt zu chemischen Reinigungen her, von denen er weiß, dass sie kostenlos Sachen für Flüchtlinge säubern.
Als Taxifahrer ist er nah dran an der Meinung der Bevölkerung, also, wie denken die Menschen derzeit über die Flüchtlingskrise? „Ich habe schon noch sehr viele engagierte Fahrgäste, die erzählen, dass sie abends für eine fremde Familie kochen“, sagt Brandt. „Aber langsam beginnen die Beschwerden. Warum muss die Unterkunft neben dem eigenen Heim gebaut werden, etwa, solche Sachen.“
Beratung in der Berufsschule und Sprechen über Träume
Auf dem roten Flyer steht „Kommen Fragen Reden“ ohne Komma, ohne Punkt, da wird nichts getrennt, da geht das eine in das andere über. Elisabeth Caspersen hat die Flyer in der Berufsschule G 8 in Hamm verteilt. Hier sitzt die 53-Jährige jeden Mittwoch und Donnerstag in der Kantine, lächelt die vorbeigehenden Jugendlichen an, und ohne ein Wort sagt ihre ganze Art: Rede mit mir, ich kann dir helfen bei deinen Problemen. Nach und nach setzen sich die jungen Leute und stellen Fragen: Wie kann ich einen Praktikumsplatz bekommen? Wie ein Zimmer? Wo ist der Rest meiner Familie geblieben? Welche Feste feiern die Christen? „Ich fungiere oft als Kulturvermittlerin“, sagt Elisabeth Caspersen. Doch die häufigste Frage lautet: Wann bekomme ich endlich Aufenthalt? „Die Angst vor der Abschiebung hängt wie ein Damokles-Schwert über den Flüchtlingen“, erzählt Caspersen.
Zwei Afghanen setzen sich zu ihr. Fereidon ist 18, er mag Frau Caspersen, sie hat ihm letztens bei einem Problem mit seiner Versicherung geholfen. Jawad, 19, scheint ebenfalls Fan der Beraterin zu sein, mit ihr könne er viele religiöse Fragen besprechen. Beide Jungs haben einen großen Traum und sie hoffen, Frau Elisabeth, wie sie sie nennen, werde sie dabei unterstützen: Sie wollen Polizisten werden. „Ich liebe mein Heimatland, aber mein Land liebt mich nicht“, sagt Jawad. In Afghanistan gehörten die Polizisten oftmals zu den Bösen, anders als hier in Deutschland, da seien Polizisten die Guten. „Ich würde gerne dabei helfen, dass Recht und Ordnung eingehalten werden.“
Immer wieder konnte Elisabeth Caspersen in ihren vielen Gesprächen mit Flüchtlingen feststellen, dass da keine merkwürdigen Exoten kommen, sondern Menschen, die unsere Gesellschaft teilweise mehr zu schätzen wissen als manch Deutscher. „Wir haben einen Schatz, den in unserer Ego-Gesellschaft manche nicht mehr sehen. Wir dürfen jederzeit unsere Meinung kundtun beispielsweise, jedes Kind geht zur Schule, und wir bekommen eine medizinische Versorgung.“
Die zweifache Mutter aus Othmarschen freut sich, wenn aus traumatisierten Hilfsbedürftigen wieder Menschen mit Hoffnung werden. Dafür opfert sie gern ihre Zeit, aber ihr Antrieb speist sich nicht aus einem Helfersyndrom. Sie will einen Beitrag dazu leisten, die Welt ein bisschen mehr so zu machen, wie sie glaubt, dass sie sein sollte. „Werte wie Frieden, Liebe und Vertrauen finde ich wichtig. Wenn alle die einhalten würden, könnte jeder in seinem Geburtsland bleiben.“
Noch einen anderen Aspekt findet Caspersen erwähnenswert. Sie verweist auf das Grundgesetz: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ „Unser Wohlstand kommt nicht von nichts, uns geht es auch deshalb so gut, weil es anderen schlecht geht“, sagt Caspersen. Diesen Zusammenhang müsse man sich klarmachen. Ein Teil der Flüchtlingswelle sei durch die Globalisierung ausgelöst worden: „Wir liefern Waffen, wir beuten andere Länder aus, wir kaufen günstige Klamotten, weil Kinder in Asien sie für einen Hungerlohn herstellen. Das alles mehrt unseren Reichtum.“ Elisabeth Caspersen, die neben den Beratungsstunden den Verein Bleibe e. V. führt, der sich um minderjährige unbegleitete Flüchtlinge kümmert, glaubt, dass vieles zu schaffen ist. Viele Bürger seien inzwischen aufgeklärter, was die Flüchtlingskrise betrifft. Immer mehr Hamburger melden sich bei Bleibe e. V. und bieten spontan ihre Hilfe an. „Hoffentlich handelt es sich nicht nur um eine Modeerscheinung“, sagt Caspersen. Noch eine andere Sache macht ihr Angst. Caspersen fürchtet, die hohe Hilfsbereitschaft der Bürger könnte dazu führen, dass die Stadt dadurch selbst weniger unternimmt. „Die Politik soll sich bitte nicht auf dem Engagement der freiwilligen Helfer ausruhen. Mit der Größe Ehrenamt darf man nicht langfristig rechnen, damit kann es jederzeit vorbei sein.“
Gemeinsam Stricken und Nähen für ein kleines Stück Gemütlichkeit
Jeden Mittwoch um 15 Uhr öffnet im Gelben Dorf, der Container-Unterkunft in Rahlstedt, die Nähstube. Die elfjährige Shengül aus Mazedonien ist schon vorher da. Rosarote Wolle sucht sie, sehr rosa soll sie sein, so richtig rosa! „Ich möchte eine Jacke stricken für meine kleine Schwester, es ist plötzlich so kalt.“ Tatsächlich hat Edelgard Stüwer, eine der ehrenamtlichen Frauen, die hier Handarbeitsunterricht geben, genau die richtige Wolle parat, und weil aller Anfang schwer ist, strickt sie gleich die ersten Maschen: „So, Mäuse, und nun macht aber mal selbst.“
Edelgard Stüwer ist 69 Jahre alt, das Stricken beherrscht die Hamburgerin im Schlaf. Wenn das Jäckchen für die Schwester nicht rechtzeitig fertig wird, dann wird sie es mal wieder mit nach Hause nehmen. Die Mäuse sollen was zum Anziehen haben. „Für mich sind alle kleinen Mädchen hier Mäuse, ich kann mir die Namen schlecht merken.“ Sie wechseln ja ständig. Wer ehrenamtlich in Flüchtlingsunterkünften arbeitet, weiß nie, wen er in der nächsten Woche noch antrifft. Letztens wurde wieder eine Familie frühmorgens um 4 Uhr abgeholt und abgeschoben.
120 Personen leben im Gelben Dorf, am Anfang hat sich niemand zu den Angeboten der Ehrenamtlichen getraut. Edelgard Stüwer und ihre Kolleginnen sind von Tür zu Tür gegangen und haben die Frauen eingeladen: „Kommt, wir machen was zusammen.“
Inzwischen haben die Flüchtlinge Vertrauen gefasst, sie bringen den Ehrenamtlichen vom Handarbeitsclub sogar Kuchen und arabischen Kaffee mit. „Wir werden hier richtig verwöhnt“, sagt Heike Peemöller. An ihrem Pullover trägt die 67-Jährige einen „Moin, Moin, Refugee“-Anstecker, in ihrem Herzen eine große Portion Demut. „Wenn ich sehe, wie schlecht es manchen geht, dann muss ich was machen.“
Jetzt gerade hilft sie einer Frau aus Afghanistan beim Anfertigen einer Gardine für die Fenster im Container. Ein kleines Stück Gemütlichkeit und Privatheit nähen. Die Peemöllers führen ein Elektrogeschäft, sie bilden einen syrischen Flüchtling aus und engagieren sich schon seit einem Jahr im Gelben Dorf.
Vieles habe sie seitdem gelernt, erzählt Heike Peemöller, vor allem Gelassenheit und Toleranz: „Wir müssen akzeptieren, dass andere Kulturen anders ticken als wir.“ Die deutsche Pünktlichkeit und Gründlichkeit beispielsweise. Peemöller erwartet von den Flüchtlingen nicht, dass sie die sofort annehmen. „Wir können sie nicht umerziehen, da brauchen viele in unserem Land noch ganz viel Verständnis.“ Auch über die arabischen Männer wundert sie sich nicht mehr. Die würden nie zum Nähen kommen, dafür gehen sie vielleicht zur Teestube, die am Donnerstag öffnet – auch eine Aktion von Ehrenamtlichen.
„Momentan haben wir mehr Helfer als wir brauchen“, sagt Regina Heyder vom runden Tisch in Rahlstedt. Sie freut sich über die große Hilfsbereitschaft, sah es doch am Anfang, als die Pläne für die Flüchtlingsunterkunft in Rahlstedt bekannt wurden, ganz anders aus. „Viele hatten Angst vor dem Unbekannten, aber inzwischen helfen sogar ehemalige Kritiker mit“, sagt Regina Heyder, die auch im Kirchengemeinderat aktiv ist.
Für die Kirche stellen die Flüchtlinge eine Chance dar: Sie kann zeigen, dass sie nicht so verstaubt ist, wie viele glauben. „Es macht mich glücklich, dass wir auch mal unbürokratisch anpacken können“, sagt Heyder. Die 47-Jährige glaubt zwar auch, dass die Stadt sich durch die Flüchtlingswelle nachhaltig verändern wird, aber ihrer Ansicht nach nur zum Guten: „Es wird ein neues Miteinander entstehen, das tut es ja gerade schon.“
Heike Peemöller blickt von ihrer Nähmaschine auf: „Ich gebe dir ja Recht, Regina. Aber wir dürfen die anderen nicht vergessen. Im Moment konzentrieren wir uns alle auf die Flüchtlinge. Um die Obdachlosen kümmert sich niemand mehr.“ Alle nicken. Es ist so schwer, an unterschiedlichen Fronten zu kämpfen, und wer weiß, was und wie viele Hilfesuchende die Zukunft noch bringt. Edelgard Stüwer denkt jetzt erst einmal nur bis Weihnachten. Gerade erklärt sie den Mädchen, dass die Deutschen im Dezember an jedem Tag eine Tür aufmachen. Frau Stüwer hat keine Ahnung, ob ihre Mäuse dann noch da sein werden.
Patenschaften und Netzwerke, die auch mitten in der Nacht funktionieren
Stina August hat eine Patenschaft übernommen. Die 26-jährige Immobilienmaklerin trifft sich seit zwei Monaten regelmäßig mit einer Englischlehrerin aus Syrien, die auf dem Flüchtlingsschiff in Harburg wohnt. Noch erhält die Syrerin keine Arbeitsgenehmigung, und auch einen Deutschkursus durfte sie nicht besuchen, aber als Lehrerin hat sie nun einfach angefangen, es sich selbst beizubringen.
Stina August versucht zu helfen, wie sie kann, zurzeit fragt die Patin im Bekanntenkreis nach Winterstiefeln für die Lehrerin. „Es ist ein gutes Gefühl, nicht einfach wegzuschauen, und ich sehe meine Patenschaft auch nicht als Verpflichtung für immer an“, sagt August. Sie selbst habe fast genauso viel von der Verbindung wie die Flüchtlingsfrau. Ihr Englisch werde immer besser und sie habe begonnen, über ihr Leben nachzudenken. „Vielleicht hat man sich früher über Sachen beschwert, die es gar nicht wert waren, denn in Wirklichkeit geht es uns doch extrem gut.“
Die Maklerin engagiert sich beim Verein human@human und informiert sich vor allem über Facebook, wo akut Hilfe benötigt wird. Kürzlich gab es einen Aufruf, dass an der Zentralen Erstaufnahmestelle an der Harburger Poststraße dringend Verpflegung gebraucht würde. Also fuhr sie nach der Arbeit in einen Supermarkt und lud den Einkaufswagen voll. Bananen, Wasser, Babybrei. „Ich war nur eine von vielen. Alle kauften Sachen für die Flüchtlinge. Das ist doch ein tolles Gefühl, zu wissen, man steht nicht allein da.“ In den vergangenen Wochen hat Stina August viele neue Menschen kennengelernt. Unter den Hilfsbereiten hat sich ein Netzwerk gebildet, das es ermöglicht, sogar mitten in der Nacht Unterstützung zu bekommen, wenn nötig. Als die 26-Jährige letztens einer Mutter mit einem kranken Baby helfen wollte, rief sie zuerst eine befreundete Hebamme an. Diese besorgte Medizin, doch weil die Mutter des Säuglings nicht verstand, wie sie die Medizin in den nächsten Tagen verabreichen sollte, klingelte August einen Übersetzer aus dem Bett, den sie bei der Kleiderkammer in den Messehallen kennengelernt hatte. Der erklärte die Dosierung, das Baby wurde wieder gesund.
Deutschunterricht geben, Ausflüge organisieren und Jobs vermitteln
Heimweh ist ein schwieriges Wort. Elahe aus dem Iran versteht es nicht genau, also wird es erklärt: Wenn man viel an zu Hause denkt, wenn man seine Familie vermisst. Ach so, ja, das kennen alle Anwesenden nur zu gut. Jeden Dienstag treffen sich Frauen aus unterschiedlichen Ländern im Flaks, dem Zentrum für Frauen in Altona. Sie wollen Deutsch lernen, und bekommen dabei Unterstützung von Marion Dietel und Beatrix Malsch aus Othmarschen.
Flüchtlinge: Impressionen aus Hamburg und Europa
Die beiden Nachbarinnen wollten sich in der Rente nicht zurücklehnen, sondern ihre beruflichen Erfahrungen (Malsch ist Schulpsychologin, Dietel Therapeutin für Sprachstörungen) nutzen, um etwas für die Integration der Flüchtlinge zu tun. Also meldeten sie sich bei der Sprachbrücke Hamburg und wurden ehrenamtliche Kursleiterinnen von Gesprächskreisen.
„Ich habe gesehen, was bei den Gastarbeitern aus der Türkei falsch gemacht wurde, das darf sich nicht wiederholen“, sagt Malsch. Sprache sei die Brücke zu allem. Weil man sie am besten in einer entspannten Atmosphäre lernt, geht es nicht zu wie in einer Schule, man unterhält sich einfach, das Pauken von Grammatik entfällt, und sollte etwas falsch sein, wird lediglich in der korrekten Fassung wiederholt. „Mein Vater hat gestorben“, sagt eine Frau. „Mein Vater ist gestorben“, korrigiert Dietel.
Die 65-Jährige geht sehr liebevoll mit den Teilnehmerinnen um, gerade bei kritischen Themen, die vorhandene Traumata wieder aufleben lassen könnten. „Da braucht man eine gewisse Ausbildung, um adäquat reagieren zu können“, sagt Dietel, und ihre Kollegin ergänzt: „Ehrenamt braucht Hauptamt.“ Für die Koordination aber vor allem auch dafür, Leute auszusuchen, die mit dem emotionalen Ausnahmezustand umgehen können, in dem sich viele Flüchtlinge befinden. Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.
Die Sprachbrücke hat im Moment die luxuriöse Situation, dass sich mehr qualifizierte Personen melden als benötigt. 120 Namen stehen auf der Warteliste. Marion Dietel kann jedem nur empfehlen, zu helfen, denn man selbst habe auch was davon: „Ich lerne ganz viel. Mein Bild von fremden Kulturen hat sich geändert.“ Nur die Menschen, die sich schon perfekt finden, sollten den Kontakt mit Flüchtlingen meiden. Dietel sagt: „Man muss damit rechnen, sich persönlich zu verändern.“
Und man muss damit rechnen, viele glückliche Gesichter zu sehen. Wenn Michaela Sträßer und ihre Mitstreiter vom Ausflugsdienst Niendorf sonntags Flüchtlingskinder mit dem Bus abholen, um mit ihnen etwas zu unternehmen, dann stehen die Kleinen schon strahlend am Tor der Unterkunft. Endlich passiert was, endlich eine Abwechslung vom tristen Lagerleben. „Das gibt mir das Gefühl, mit ganz wenig ganz viel Freude bereiten zu können“, sagt Sträßer. Die 29-Jährige findet, dass niemand Heldentaten vollbringen müsse, Herzlichkeit allein sei schon genug.
Es gibt jedoch auch Helfer, die bis an die Grenze der Erschöpfung gehen. Sami Khokar beispielsweise bringt nach der Arbeit seine Kinder ins Bett, geht zum Hauptbahnhof und hilft dort manchmal die ganze Nacht den Ankömmlingen. Bis um 4 Uhr morgens, dann schläft er drei Stunden und geht wieder zur Arbeit. Der IT-Sales-Manager kann sich einfach nicht losreißen: „Wenn ich eine Familie sehe mit frierenden Kindern, dann gehe ich doch nicht in mein warmes Bett.“ Der 32-Jährige hilft auch deshalb, weil seine Eltern beide Flüchtlinge waren, sein Vater aus Pakistan, seine Mutter aus Oberschlesien. „Vor dem Hintergrund fällt es mir sehr schwer, loszulassen.“
Die wenigsten verfügen über so viel Zeit, sich zu kümmern. Franziska Jäger hat gezielt nach einem Ehrenamt gesucht, welches sich mit ihrem Job vereinbaren lässt und das von der 29-Jährigen nicht verlangt, zu bestimmten Uhrzeiten an bestimmten Orten zu erscheinen. Also hilft sie nun bei der Jobbörse der Flüchtlingshilfe Harvestehude, das geht abends. Jäger sammelt offene Stellen auf einer Internet-Plattform, die von Flüchtlingspaten eingesehen werden können. Gesucht werde vom Lagerist bis zum Helfer auf dem Weihnachtsmarkt alles, sagt Jäger, und manche Arbeitgeber verlangen nicht einmal Deutschkenntnisse.
„Oder sie sponsern einen Deutschkursus, da sind die Firmen teilweise sehr großzügig“, sagt Jäger. Mindestens die Hälfte ihrer Freunde engagiere sich auf irgendeine Art oder Weise. „Es ist viel einfacher, das Problem zu begreifen, wenn man nah dran ist, alles wird transparenter“, sagt Franziska Jäger, die nicht mehr einfach nur vom Fernseher aus zugucken wollte. Ein Grund für ihre freiwillige Tätigkeit liege auch in ihrer Herkunft. „Ich bin ursprünglich aus Sachsen, das sich in der Flüchtlingskrise nicht mit Ruhm bekleckert. Aber dieses schlechte Bild will ich so nicht stehen lassen.“
Franziska Jäger lebt seit vier Jahren in Hamburg, für sie stellt die Überlastung der Behörden nicht nur ein Problem der Regierung dar. „Die Zivilgesellschaft gehört auch mit zum Staat. Also sollten jetzt so viele wie möglich anpacken, um den Behörden ein wenig Zeit zu verschaffen, vernünftige Strukturen aufzubauen.“ Bei einigen Bekannten stößt sie mit ihrer Meinung auf Widerstand. Wo das denn alles enden solle? Wo die Wohnungen herkommen sollen? „Auf diese Fragen habe ich auch keine Antwort. Aber wir müssen doch an das Gute glauben“, sagt Jäger – und fügt ganz leise hinzu: „Mal gucken, wie lange wir das durchhalten.“