Zwei bekannte Hamburger Pianisten fliegen nach Afghanistan. Sie spielen vor Soldaten und vor Kindern aus der Nachbarschaft.
Zum Leben in der Lage gehören Sprengfallen und Raketenangriffe. Dazu gehört, dass du dir mit Edding deine Blutgruppe auf den Schuh schreibst. Leben in der Lage. Die Soldaten haben diesen Spruch erfunden für einen Alltag im Krieg, der nicht berechenbar ist wie ein Konzert in Franken oder planbar wie eine Show in der Stadthalle von Kiel oder Peine, wo die Zuschauer Abo-Karten haben und verlässlich klatschen. Leben in der Lage ist anders, und das wissen David Harrington und Götz Östlind schon nach den ersten Minuten im Nato-Camp im Norden Afghanistans, als der Offizier die beiden zu dem Platz führt, wo sie auftreten werden. Die Musiker sind jetzt eine „Betreuungsmaßnahme“ der Bundeswehr.
Harrington und Östlind nennen ihren Offizier bald nur Dietmar. Weil hier alle schnell per du sind. Dietmar ist ein markiger Typ mit markigen Sprüchen in breitem Niederrheinisch, ein Organ wie eine Haubitze. Waffen sind „männlich“, wenn sie ordentlich Wumms haben, sagt er. Und zu den beiden: 32 Quadratmeter Bühne, mehr jibbt datt nisch! Den Ton macht der Mechaniker der Hubschrauber-Einheit. Und überhaupt, die „Showpianisten“, der Götz und der David, zwei Musiker an zwei Flügeln, einer glänzend weiß lackiert, einer schwarz, im Wüstenstaub am Fuße des Hindukuschs. Am Ende spielen die womöglich nur Mozart. Watt soll datt denn.
Leben in der Lage, so fing das an für David und Götz. Und jetzt, kurz vor Beginn der Show, ist die Lage ziemlich angespannt. Draußen sind noch immer 35 Grad, ein paar Amerikaner sitzen da in ihren Uniformen, eine Hand voll Holländer, einige deutsche Soldaten mit der P8 am Gürtel. Sonst sind die Reihen leer. „Immerhin, ihr habt in Afghanistan gespielt“, sagt Dietmar. Datt is doch watt. Dann schiebt er die Glastür zu, geht vorbei an den Regalen mit Büchern und Brettspielen zum Sofa. „Wir warten noch zehn Minuten.“
Die Flügel wurden in Decken und Kisten verpackt und per Flieger transportiert
Götz steht vor dem Tisch in dem Büro, David sitzt vor seiner Wasserflasche, Kohletabletten intus gegen den Durchfall, beide tragen ihre Fracks und Lackschuhe in schwarz und weiß, passend zu den Klavieren. Und David sagt, dass er sich eine bessere Kommunikation gewünscht hätte. Dass man schließlich Deutschlands erfolgreichstes Pianisten-Duo sei. Nicht irgendeine Schrammelbude. Letztes Jahr hatte eine Band vor den Soldaten im Camp von Masar-i-Sharif Songs von den Böhsen Onkelz gecovert, verzerrte Gitarren und Proll-Geröhre. Vor Wochen waren Hobby-Rocker aus dem Harz da, die auch was von Rammstein draufhatten. Kam gut an auf den Bierbänken im dem schulhallengroßen Atrium des Camps.
Götz beruhigt, streckt David die Hand entgegen. Alles gut, wir gehen da raus, und wir legen los, sagen sie. Der Krieg ist gerade weit weg. Es geht nur um die Show. Dietmar sagt, ab acht gibt es Bier auf dem Hof. „Dann kommen noch Soldaten.“
War das alles ein Missverständnis?
Ein paar Tage vorher warten sie in der Wartehalle vom Flughafen Kabul auf ihren Flieger in Richtung Masar-i-Sharif: Götz und David, dessen Schwester Leslie Harrington, die auch Managerin der beiden ist, Klavierbauer Matthias Bettich, der zwei seiner Flügel für die beiden nach Afghanistan transportieren ließ, verpackt in Decken und Kisten in einer Antonow 124, Flug über die Ukraine, 560-Kilo-Pakete.
Die ersten Stunden in Afghanistan sind stickig, 13 Stunden Reise liegen hinter ihnen, jetzt Gewusel in der Wartehalle, keine Ansagen auf Englisch, nur Dari oder Paschtu und Männer mit langen Bärten, Jungs mit Trikots, Geschäftsleute mit Anzug. Die Reisenden aus Hamburg passen nicht ins Bild.
Und im Kopf die Nachrichten der vergangenen Woche: Anschlag mit einer Autobombe am Eingang zum Flughafengelände, Angriff auf Polizisten und einen Militärstützpunkt. 50 Tote. Am Tag des Abflugs von Hamburg nach Afghanistan wurde eine deutsche Entwicklungshelferin entführt.
Nach vier Stunden in Kabul geht die Tür der Wartehalle auf, Afghanen drängen aufs Flugfeld, draußen wartet eine alte MD-87, mit der sie nun eine Stunde über Kriegsgebiet fliegen. „Ja, ja, die schöne Glitzerwelt des Showbusiness“, sagte David. Ironie hilft über das nervöse Bauchgefühl.
Aber sie wollten das ja alles, na ja, Götz wollte es, selbst Oberleutnant der Reserve. Und David fand die Idee gut. Sie fliegen nach Afghanistan, ins Kriegsgebiet, spielen vor den Soldaten im Camp, spielen mit Kindern aus der Stadt. Bringen Ablenkung in einen erdrückenden Alltag, tragen Leichtigkeit in Staub, Hitze und Krieg. Auch aus Respekt davor, dass hier Menschen ihr Leben riskieren. Kameraden, sagt Götz.
Und so erzählen es die beiden jetzt den Soldaten, als sie auf der Bühne im Hof des Nato-Camps stehen. 32 Quadratmeter, „mehr nisch“. Offizier Dietmar hatte recht, es sind einige Soldaten mehr da. Nur die Boxen der Bundeswehr sind nicht sehr „männlich“, sie knarzen etwas, wenn David und Götz mit Wumms in die Tasten hauen. Gleich ein Klassik-Medley, dann Chattanooga-Choo-Choo, aus dem Udo Lindenberg seinen Sonderzug nach Pankow machte. Fertig. David und Götz springen auf, tänzeln vor ihren Flügeln, lächeln, rufen: Wir wollen 120 Prozent, Ganzkörperklatschen! Die Soldaten nehmen erst mal nur die Hände. „Okay, das waren so 45 Prozent“, sagt Götz.
Afghanistan ist unabhängig seit 1946, ein Königreich mit einer Verfassung, später eine Republik, mit vielen Sprachen, viel Kultur wie die berühmten Buddha-Statuen. Frauen studierten wie Männer, und Hippies aus Europa tourten durch die Berge. Doch dann kam nur noch Krieg. 1979 marschierten die Sowjets ein, weil sie den Widerstand gegen die neue kommunistische Regierung niederschießen wollten. Mit Hilfe der USA siegten die Mudschaheddin gegen die sowjetische Armee. Doch die Gewalt blieb. Denn die Kämpfe mit den Taliban begannen. Nach den Anschlägen von New York 2001 griffen die Nato-Truppen unter der Führung der USA die Taliban und al-Qaida an.
55 deutsche Soldaten starben, viele Nationen verloren noch mehr Menschen im „Krieg gegen den Terror“, die Amerikaner allein 2361. Mehr als 40.000 Zivilisten starben.
Wie lustig darf eine Show im Krieg sein? Muss sie gerade lustig sein? Das waren die Fragen der Menschen David und Götz, die hinter den Mauern des Camps wenig mitbekommen vom Krieg da draußen. Morgens fahren sie über das Gelände, schauen sich Militär-Hubschrauber an oder eine Trainingshalle, in der beschlagnahmte Sprengsätze der Taliban auf einem Tisch ausgestellt sind. Es ist mehr wie ein Militärmuseum, man stellt sich den Krieg nur vor.
Mit einer großen Mauer ist das Lager gesichert, davor Zäune mit Stacheldraht, dahinter Sandsäcke und Stahlpfeiler. Das Tor bewachen Afghanen und Mongolen. Bei 45 Grad stehen sie unter dem Wellblechdach. Niemand möchte diesen Job gern machen. Aber die Mongolen wachen jeden Tag im Schichtdienst, mit ihren Gewehren und finsterer Miene. Kaum einer von ihnen spricht Englisch. Sie sind die Einzelkämpfer im Kontingent der Vielen.
Abends essen David und Götz in der Kantine im Camp, die Deutschen sitzen meist unter sich, die Dänen und die Holländer auch. Und die Mongolen. Es gibt Geschnetzeltes in Rahmsoße, Pommes oder Reispfanne und zum Nachtisch Vanilleeis. Klatschen auch armenische Soldaten zu deutschen Volksliedern? Wie viel Mozart ist möglich, wie viel Metallica muss sein? Das sind die Fragen der Showpianisten David und Götz.
Im Januar spielen die „Showpianisten“ David und Götz in der Barclaycard-Arena
Bei ihren Auftritten tragen David und Götz schwarze und weiße Fräcke. Ihr Kontrast lebt abseits der Bühne weiter. Götz, 38, kommt in Lederschuhen und brauner Lederjacke zum Flughafen, David, 42, trägt Turnschuhe mit bunter Sohle. Götz studierte privat Klavier, dazu Kulturwissenschaften, trägt einen Doktor der Musikwissenschaft, sein Vater war Soldat. David studierte Musiktheater und Kultursoziologie an der Uni in Berlin, wo alle links waren, er selbst auch irgendwie. Viele Jahre spielte er als Pianist in Musicals wie Cats, war auch Dirigent. Vor der Wehrpflicht habe er sich gedrückt, sagt er.
David redet viel, er stolpert manchmal über seine Sätze, wuselt sich durch Zweifel, an sich selbst, an der Show, an der Branche. Bis er sich wieder hochredet in die Euphorie, ins Glück.
Götz hört viel zu, er sitzt ruhig am Tisch, wenn David gerade wieder die Triebwerke hochfährt und kurz vor dem Auftritt durch die Nato-Kantine tänzelt und die Soldaten bespaßt: Come to our show! Götz dosiert seine Sätze, wiegt sich in Zufriedenheit. Nur wenn es ihm zu viel wird, sagt er zu David, er solle bitte die Batterien runterdrehen.
„Wir sind eigentlich ein Unfall“, sagt David. Götz schiebt hinterher: „Im positiven Sinn.“ Aber beide sagen auch: „Wir kennen uns seit 15 Jahren. Wir sind wie Brüder.“ Sie spielten auf dem Dach der Europapassage an der Alster, sie spielten auf dem Burj Khalifa, dem höchsten Turm der Welt in Dubai und Symbol der Ölscheich-Gigantomanie, 828 Meter hoch. Im Januar treten sie in der Barclaycard-Arena im Volkspark auf. Sie spielten auch in Moskau – und als David den Zuschauern vorschlug, dass russische Politiker mit ihren fulminanten Wahlergebnissen doch mal ihre deutschen Kollegen beraten sollten, ging das Licht auf der Bühne an und die Show war beendet. David hatte wieder zu viel geredet.
Und jetzt Afghanistan. Am Tag vor dem Konzert sitzt Götz noch einmal an seinem Flügel, der neben Bücherregalen und Kaffeemaschine lagert. Da kommt ein junger mongolischer Soldat, er hat einen Freund mitgebracht, der Englisch spricht. Sie haben das Klavier gehört. Erdenebayar heiße er und würde sich gern am Flügel probieren. Götz nickt, lächelt, bittet um ein Lied. Durch den Hof im Nato-Camp hallen mongolische Harmonien.
Jetzt hallt hier Boogie Woogie durch die Reihen, die Soldaten klatschen im Takt. Seit gut einer Stunde stehen David und Götz auf der Bühne. Sie haben Queen, Beethoven und das „Phantom der Oper“ gespielt. Gerade bekommen sie von den jubelnden Soldaten den Marschbefehl für die zweite Zugabe. Danke für ein Stück Kultur hier, sagt ein Deutscher. Man fühlt sich wieder ein bisschen wie ein Mensch, sagt ein Amerikaner. „Datt is schon ne Hausnummer, die Jungs“, sagt Dietmar. Er sitzt im Stuhl vor seinem Büro, der Blick auf den Hof. Läuft doch alles.
An einem Vormittag ihrer Reise sitzen David und Götz in einem Kreis mit 20 Kindern und Jugendlichen um den schwarzen Flügel. Sie alle kommen aus Masar-i-Sharif, die Mädchen tragen Kopftuch, die schmalen Jungs T-Shirts. David und Götz zeigen den Kids, wie schnell sie spielen können. Sie üben gemeinsam ein Lied. Ist dein kleines Herz für mich noch frei, Schatzi? Oder warten drauf schon zwei bis drei, Schatzi? „Schatzi“ singen alle laut mit. Dann hat Götz eine Idee. „Habt ihr Lust, mit mir die afghanische Nationalhymne zu singen?“ Die Dolmetscher verstehen nicht gleich, Götz spricht den Namen der Hymne falsch aus. Dann aber, bevor er überhaupt den ersten Akkord spielt, singen die Kinder los, so laut, dass der Flügel kaum noch zu hören ist. Dieses Land ist Afghanistan, es ist der Stolz aller Afghanen. Das Land des Friedens, das Land des Schwerts. Alle seine Söhne sind tapfer.
Und Götz Östlind, der seine Gefühle sonst mit Professionalität umzäunt, verliert für einen Moment die Kontrolle und weint.
Was wird aus diesem stolzen Land? Niemand weiß, wie lange die internationalen Truppen bleiben werden. 2010 kämpften hier 130.000 ISAF-Soldaten. Jetzt sind es noch etwa 12.000. Im Camp von Masar-i-Sharif säuberte eine Kläranlage das Wasser, es gab ein Wasserwerk, Catering für die Kantine. Das Catering ist geblieben, aber die Zahl der Soldaten ist geschrumpft. Von der Bundeswehr sind es noch 850, von einst mehr als 5000. Die afghanischen Truppen haben den Kampf gegen die Taliban übernommen. Seit 2014 beraten die Nato-Soldaten nur noch. Manche Afghanen sagen: Das Land ist nach mehr als zehn Jahren „Krieg gegen den Terror“ kein Stück weiter. Die fremden Truppen hatten wenig Ahnung von dem Land, als sie ankamen. Die konkurrierenden Clans, der Einfluss der Atommacht Pakistan, die Hitze im Sommer und Schlamm im Winter. Naivität prägte lange die Politik.
12.000 Kilometer Straßen wurden gepflastert, 160.000 Lehrer ausgebildet
Wer mit den Leuten aus Masar-i-Sharif spricht, hört trotzdem Sorge über den Abzug der Nato. Die Militär-Camps wie hier sind Arbeitgeber für viele Afghanen. Seit dem Ende der Taliban-Herrschaft geht jedes zweite Mädchen wieder zur Schule, 12.000 Kilometer Straßen wurden gepflastert und 160.000 Lehrer ausgebildet. Viele sagen, dass die Taliban stärker werden, sobald die fremden Truppen weg sind.
Es ist dunkel geworden über dem Camp. David und Götz unterbrechen ihr Programm. „Ich möchte jetzt Erdenebayar auf die Bühne bitten“, sagt Götz. Und dann schleicht dieser junge Mongole in Uniform an den schwarzen Flügel. Er schaut kurz ins Publikum, lächelt schüchtern. Dann schlägt er die Tasten an. D-Dur, C-Moll, B-Moll. Götz spielt seine Harmonien mit, traurig klingen sie, aber erhaben. Dann steht Erdenebayar auf, nimmt das Mikro in die Hand, breitet seinen Arm aus, singt. Niemand versteht ein Wort, aber der wuchtige Bariton des Mongolen füllt den Hof. Und die Soldaten applaudieren, viele holen ihre Handys aus den Uniformtaschen und filmen. Ein Mongole, der sonst unter Wellblech und im Staub die Autos am Tor zum Lager kontrolliert, steht im Scheinwerferlicht, er hält diesem Krieg für einen Moment etwas Menschlichkeit in Uniform entgegen. Nach dem letzten Ton stehen alle von ihren Bierbänken auf.
Und Dietmar, der stämmige Offizier, kommt gerade wieder raus aus seinem Büro. Er hält ein Taschentuch in der Hand. Als der Reporter um die Ecke biegt, sagt er, er wisse gar nicht, woher jetzt plötzlich dieses Niesen komme.