Hamburg verliert mit Detlef Scheele einen ungewöhnlichen Politiker, der klare Worte nicht scheut. Das große Abschieds-Interview.
Etwas mehr als ein halbes Jahrzehnt ist es her, dass Hamburg ein politisches Erdbeben erschütterte. Mit Bürgermeister Ole von Beust (CDU), Axel Gedaschko (CDU) und Karin von Welck (parteilos) traten drei Senatsmitglieder gleichzeitig mitten in der laufenden Wahlperiode zurück. Kurz darauf gab auch Finanzsenator Carsten Frigge (CDU) auf. Seitdem hat es diesen Fall in Hamburg nicht mehr gegeben. Wen Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) 2011 in seinen Senat berief, der hielt auch bis zur nächsten Wahl durch. Das galt bis heute.
An diesem Mittwoch hat Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) seinen letzten Arbeitstag. Am Vormittag erhält er von Scholz seine Entlassungsurkunde, und schon morgen wird die Bürgerschaftsabgeordnete Melanie Leonhard, bislang Familienexpertin der SPD-Fraktion, zu seiner Nachfolgerin gewählt. Am 15. Oktober tritt Scheele dann seinen neuen Job im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg an. Damit kehrt der bundesweit profilierte Arbeitsmarktexperte zu seinen Wurzeln zurück.
Mit dem Mann, der heute passenderweise auch seinen 59. Geburtstag feiert, geht nicht irgendein Senator. Scheele war als Staatssekretär schon Scholz’ rechte Hand im Bundesarbeitsministerium, er hat mehr als vier Jahre lang die Mammutbehörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) in Hamburg geführt und dabei ebenso wichtige wie brisante Themen verantwortet: vom massiven Ausbau des Kita-Systems über die Probleme in der Jugendhilfe mit den spektakulären Todesfällen Chantal und Yagmur bis hin zur Unterbringung der Flüchtlinge – dem alles beherrschenden Thema der vergangenen zwei Jahre.
Flüchtlinge: Impressionen aus Hamburg und Europa
Und Scheele hat es wie kein zweites Senatsmitglied immer wieder geschafft, mit einem einzigen Satz große Debatten zu beeinflussen – womit er sich nicht immer Freunde gemacht hat. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Fest angelehnt“, sagte er im Sommer 2014 über den Flüchtlingsansturm. Wenn er geahnt hätte, dass die richtig große Welle erst noch kommt, hätte er den Satz damals wohl nicht gesagt. Aber die Wirkung der Worte war durchaus beabsichtigt – sie öffneten vielen Hamburgern erst die Augen, wie groß die Herausforderung wirklich ist und vielen Bundespolitikern, dass die Stadtstaaten latent überfordert sind.
„Tja, jetzt ist Schluss“, sagt Scheele, als er das Abendblatt zum Abschiedsgespräch empfängt. Sein Büro im zehnten Stock der Behörde an der Hamburger Straße hat er schon aufgeräumt. Wobei sich das „Aufräumen“ im Wesentlichen darauf beschränkte, vier persönliche Bilder abzunehmen. Zumindest eines davon, ein gewagtes Kunstwerk in Rot und Gold, zieht mit nach Nürnberg um. Die Möbel? Übernimmt seine Nachfolgerin. Und die Bücher im Schrank? Bleiben stehen, die stammen noch aus Zeiten seines Vorgängers Dietrich Wersich (CDU). Seine Stimmungslage? „Gut“, sagt Scheele. „Gut deswegen, weil ich – wenn man mal das Thema Flüchtlinge ausklammert – keine offenen Felder hinterlasse. Wenn Frau Leonhard kommt, dann findet sie eine geordnete Behörde vor.“
Es ist parteiintern kein Geheimnis, dass sich Scheele für die 38-Jährige als seine Nachfolgerin ausgesprochen hat. Mit Melanie Leonhard habe er in der Familienpolitik viele harte Phasen gemeinsam durchgestanden, etwa nach dem Tod von Chantal und Yagmur oder nach den Ausbrüchen von Jugendlichen aus dem Haasenburg-Heim in Brandenburg. „Und das hat Frau Leonhard alles klasse gemanagt“, sagt Scheele. „Sie kann das und ist in der dieser Situation die allerbeste Lösung.“
Schnell sind wir beim Thema Flüchtlinge. Ein schlechtes Gewissen, weil er seiner Nachfolgerin große Probleme hinterlässt, habe er nicht, sagt Scheele. Die Behörde funktioniere ja und habe getan, was sie konnte. Aber einige Fragen stellen sich natürlich:
Hamburger Abendblatt : Kann die Verwaltung diese Aufgabe überhaupt bewältigen?
Detlef Scheele : Noch ja. Grundsätzlich gilt aber: Das Problem ist nicht die Hamburger Sozialbehörde, die steht am Ende der Nahrungskette und sucht leere Baumärkte. Das Problem ist die Schwäche der internationalen Organisationen und der EU, die zu wenig gegen die Fluchtursachen tun und die Flüchtlingsströme nicht in den Griff bekommen.
Sehen Sie die Gefahr, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippt?
Scheele: Erstens: Solange die Wirtschaft prosperiert, die Arbeitslosigkeit niedrig ist und jedes Jahr eine fünfstellige Zahl neuer Jobs entsteht, darf man optimistisch sein. Zweitens müssen die auf dem Flüchtlingsgipfel beschlossenen Maßnahmen jetzt auch dazu führen, dass die Zugangszahlen aus den Ländern des westlichen Balkans zurückgehen, damit die große Hilfsbereitschaft gegenüber Kriegsflüchtlingen aus Syrien oder dem Irak anhält. Und drittens ist es wichtig, dass wir nicht an anderen für die Bevölkerung wichtigen Dingen sparen müssen, dass etwa Schulturnhallen belegt werden und dann nicht mehr für Schul- und Breitensport zur Verfügung stehen. Das darf nicht passieren. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann die positive Stimmung gegenüber den Flüchtlingen noch eine ganze Zeit anhalten.
Waren Zelte im Winter und Beschlagnahmung von Gebäuden nicht mal tabu?
Scheele: Das stimmt. Aber bei dem neuen Gesetz, das auch Beschlagnahmungen ermöglicht, geht es uns nur um leer stehende Gewerbehallen. Wir wollen keinem Bürger seine Wohnung wegnehmen.
Es war Detlef Scheele, der im Herbst 2014 immer wieder betonte hatte, dass kein Flüchtling im Winter in Zelten schlafen solle – was damals gelang, im kommenden Winter aber wohl nicht mehr. Und es war Scheele, der der verdutzten Öffentlichkeit zeitgleich mitteilte, dass neue Unterkünfte ab sofort notfalls auch nach „Polizeirecht“ geschaffen würden – also unter Umgehung normaler Verwaltungswege.
Erst vor Kurzem sorgte der Sozialsenator für Aufsehen, als er AfD-Abgeordnete, die Rot-Grün „Pro-Asyl-Propaganda“ vorwarfen, in der Bürgerschaft anherrschte: „Machen Sie die Augen auf, Himmel, Arsch und Zwirn!“ Die Menschen kämen „aus blanker Not“.
Gab es für Ihre deutlichen Aussagen mal einen Rüffel vom Bürgermeister?
Scheele: Nein. Nie.
Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Olaf Scholz beschreiben?
Scheele: Wir verstehen uns, was die politischen Themen angeht, ziemlich blind. Wir müssen gar nicht viel reden. Wenn wir uns dann mal treffen oder telefonieren, sind wir uns inhaltlich schnell einig.
Ist die mitunter sehr direkte und unverblümte Ausdrucksweise einfach Teil Ihrer Art, Politik zu machen?
Scheele: Das unterstellt, dass dahinter Strategie steckt, aber das tut es nicht. Wenn meine Reden manchmal anders klingen, als man das von Politikern gewohnt ist, dann bin das einfach ich. Ich kann nicht anders.
Er bereue in Wirklichkeit nur, dass er mal auf einer Betriebsversammlung des städtischen Kita-Trägers Elbkinder den Erzieherinnen ins Stammbuch schrieb, sie mögen doch nicht immer über ihre Situation jammern. Damals war er genervt, weil aus seiner Sicht nicht ausreichend gewürdigt wurde, dass Hamburg eine kostenlose Fünf-Stunden-Betreuung eingeführt habe und die Erzieherinnen schon überdurchschnittlich bezahle. Die jetzt erneut von Ver.di angekündigten Streiks hält er für „unangemessen“. Umgekehrt gilt: Dass Scheele sich lange unter Hinweis auf die Kosten gegen Verbesserungen der Betreuungsqualität gesperrt hatte, sorgte für mächtig Verstimmung. Letztlich vermittelte die SPD-Fraktion einen Kompromiss.
Das Thema Kinder hat den dreifachen Familienvater auf andere Weise betroffen: Chantal, 11, und Yagmur, 3, sind in seiner Amtszeit gestorben, obwohl sie in staatlicher Obhut waren.
Wie sehr hat Ihnen das zugesetzt?
Scheele: Sehr. Es berührt einen persönlich, wenn ein Kind stirbt. Und man ahnt, wie das folgende Jahr wird. Egal, wer formal zuständig oder verantwortlich ist: Als Senator gerät man immer in den Mittelpunkt. Und man denkt an die Mitarbeiter der Jugendämter, weil es dort nur noch darum geht, nach Fehlern, Fehlern, Fehlern zu suchen.
Sind Sie eigentlich erleichtert, für diesen krisenanfälligen Bereich Jugendhilfe nicht mehr verantwortlich zu sein?
Scheele: Dass man Haasenburg und Jugendhilfe nicht vermisst, wird einem keiner übelnehmen. Wobei man immer im Blick haben muss, dass da 449 Mitarbeiter tätig sind, die einen guten und verantwortungsvollen Job machen. Trotzdem: Wenn man nicht mehr verantwortlich ist, ist man eine Last los.
Vor den Abendblatt-Reportern sitzt ein entspannt wirkender Politiker, der mit sich und seinem Wirken in der Sozialbehörde im Reinen zu sein scheint. Typ: zupackender Pragmatiker mit Charme. Wer Scheele so erlebt, der übersieht leicht, dass er früher keinem Streit aus dem Weg ging, schon gar keinem parteiinternen. Scheele war einer der führenden Exponenten des einst existierenden linken Flügels der Hamburger SPD.
Die Entscheidung, Politik zu seinem beruflichen Schwerpunkt zu machen, fiel früh. Nach dem ersten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien (Politik, Sport) schmiss Scheele das Referendariat nach vier Wochen, um 1985 persönlicher Referent des damaligen SPD-Landesvorsitzenden Ortwin Runde zu werden. Mit dem späteren Ersten Bürgermeister teilte Scheele die politische Heimat: den linken Kreisverband SPD Nord, dessen Kreisvorsitzender Scheele lange war.
Ende der 80er-Jahre wechselte er zum städtischen Zentrum zur beruflichen Qualifizierung (Zebra) – damals durchaus typisch für eine „linke“ Parteikarriere. Genauso wie die nächste Station bei der Hamburger Arbeit Beschäftigungsgesellschaft, deren Alleingeschäftsführer er 1995 wurde. Scheele blieb bemerkenswerterweise auch nach dem Regierungswechsel 2001 im Amt, als Ole von Beust (CDU) Bürgermeister wurde. Der SPD-Linke arrangierte sich mit CDU, Schill-Partei und FDP – und umgekehrt. Der Schritt zur pragmatischen Läuterung des Lagerpolitikers war vollzogen.
Als beamteter Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, wohin ihn der damalige Arbeitsminister Olaf Scholz 2008 geholt hatte, blieb Scheele dem Thema Arbeitsmarktpolitik treu. So gesehen, kehrt der 59-Jährige mit dem neuen Job in Nürnberg zu seinen Wurzeln zurück. „Ich werde jetzt einen Vertrag unterschreiben, der bis 2020 reicht“, sagt Scheele. „Dann bin ich 64 Jahre alt. Ich würde die dann amtierende Bundesarbeitsministerin fragen, ob ich noch ein oder auch zwei Jahre dranhängen kann. Meine Frau ist jünger, ich muss ein bisschen länger arbeiten, damit wir uns in der Mitte treffen.“ Also wieder Arbeitsmarkt.
Gehen Sie mit einem bestimmten Ziel nach Nürnberg? Wie damals Gerhard Schröder, der sich an sinkenden Arbeitslosenzahlen messen lassen wollte?
Scheele: Nein. (Lacht.) Ich halte auch nichts von solchen Messlatten. Es kommen Zigtausende von Flüchtlingen auf den Arbeitsmarkt, die vermutlich zum überwiegenden Teil zunächst nicht vermittlungsfähig sind. Insofern wird die Arbeitslosigkeit über eine längere Zeit erst einmal steigen. Das ist überhaupt gar keine Frage.
Olaf Scholz betont, dass eine der Hauptaufgaben angesichts der Flüchtlingsströme darin besteht, jetzt Jobs zu schaffen.
Scheele: Ja, das stimmt. Es hilft alles nichts, wir werden mehr Wohnungen bauen und mehr Arbeitsplätze schaffen müssen. Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen, damit die einheimische Bevölkerung die Zuversicht behält, dass eine Konkurrenzsituation ausbleibt.
Wenn Hamburg die schönste Stadt der Welt ist, wo rangiert dann Nürnberg?
Scheele: (Längere Pause.) Da ich mit dem Nürnberger Bürgermeister mal essen gehen will, bin ich ganz zurückhaltend. (Längere Pause, dann ein Stoßseufzer.) Nicht dicht dran. Franken ist schön, da sind wir früher viel radgefahren.