Hamburg. Gibt es einen Werteverfall? In einem Brandbrief gehen die Schiedsrichter gegen die Gewalt im Hamburger Amateurfußball in die Offensive.
Alexander Teuscher will an diesem Sonnabend wieder seinem Hobby nachgehen. Er soll als Fußballschiedsrichter das Landesligaspiel zwischen dem SC Poppenbüttel und dem FC Bergedorf 85 leiten, und er ist gewillt, das auch zu tun. Wenn das Spiel denn stattfindet.
Am vergangenen Sonntag hatte sein Kollege Stephan Prado Muñoz das Spiel der Bergedorfer gegen den SV Altengamme nach 79 Minuten beim Stand von 0:0 abgebrochen. Mehrere Bergedorfer Spieler und auch Zuschauer hatten ihn nach einer strittigen Entscheidung bedrängt. Prado Muñoz und seine Kollegen schlossen sich daraufhin in der Kabine ein und mussten von der Polizei zu ihrem Fahrzeug geleitet werden. Mato Mitrovic, der Trainer und Vorsitzende der Bergedorfer, trat daraufhin zurück.
Es war innerhalb kurzer Zeit der dritte Vorfall dieser Art in der zweithöchsten Hamburger Spielklasse. Jetzt sind die Schiedsrichter des Hamburger Fußball-Verbandes (HFV) mit einem offenen Brief selbst in die Offensive gegangen. „Vielfach werden wir ehrenamtlichen Schiedsrichter respektlos behandelt. In einigen Fällen werden wir beleidigt, bedroht oder gar körperlich attackiert“, heißt es in dem Schreiben, das von Aktivensprecher Michael Ehrenfort und seinem Stellvertreter Murat Yilmaz unterzeichnet ist.
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Die Hamburger Unparteiischen seien „schockiert“ über die Vorkommnisse. Es gelte festzustellen, „dass einige Vereinsoffizielle ein Werteproblem haben. Wir Schiedsrichter sind nicht das Ventil für gesellschaftliche Probleme, schlechte Erziehung und unkontrollierte Emotionen.“
Angriffe auf Schiedsrichter im Amateurfußball sind nicht neu. Bundesweit werden jährlich etwa 600 Partien abgebrochen. Meistens sind unterklassige Ligen betroffen. „Je tiefer man kommt, umso schlimmer ist es“, sagt Teuscher, 36. In Kreisklasse und Kreisliga kommt es fast wöchentlich zu Spielabbrüchen. „Dass auch die höheren Klassen betroffen sind, ist ein neues Phänomen“, sagt Wilfred Diekert, Vorsitzender des Verbands-Schiedsrichterausschusses im HFV.
Schiedsrichter beklagen mangelnden Respekt
In der Vorwoche war es bei der Partie zwischen dem FC Elazig Spor und dem SC Schwarzenbek zum Eklat gekommen: Ein Offizieller von Elazig Spor soll den Schiedsrichter bedrängt haben, nachdem der die Partie nach fünf Platzverweisen gegen die Hausherren beim Stand von 0:10 abgebrochen hatte. Wieder eine Woche zuvor soll der Schiedsrichter der Partie Bramfeld gegen Dersimspor beim Stand von 2:1 durch einen Fan der Gäste so brutal niedergeschlagen worden sein, dass er um sein Augenlicht bangen musste.
„Die Schiedsrichter sind nicht ausreichend geschützt“, klagt Diekert. Die Folge: Die Tätigkeit, ohnehin nur mit einem Taschengeld entlohnt – für ein Landesligaspiel gibt es 22 Euro –, verliert an Attraktivität. Jedes Jahr werden im Bereich des HFV 450 Schiedsrichter ausgebildet. „Aber das reicht nicht, um die Zahl der Abgänge zu kompensieren“, sagt Diekert. Rund 6000 Schiedsrichter hat der Verband in den letzten zwölf Jahren geschult, aktiv sind nur etwa 3000. „Die Hälfte der neuen Schiedsrichter hört innerhalb des ersten Jahres wieder auf“, weiß Norbert Grudzinski.
Der 38-Jährige vom TSV Wandsetal ist seit 1999 DFB-Schiedsrichter und in der Zweiten Liga aktiv. In Hamburg ist er als Schiedsrichterbeobachter tätig. Er hat den offenen Brief formuliert. „Wir sehen die Entwicklung schon länger kritisch, die Ereignisse haben sich in den letzten Wochen leider überschlagen“, sagt er, „wir sehen insgesamt eine Verrohung der Sitten. Der Respekt ist komplett verloren gegangen.“
"Hemmschwelle vor Gewalt ist gesunken"
Für Diekert ist das Problem ein gesamtgesellschaftliches: „Die Hemmschwelle vor Gewalt ist gesunken. Fußball ist nur ein Ausdruck davon.“ Der Hamburger Zweitliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich, 36, bestätigte diese Einschätzung in einem Abendblatt-Interview: „Ich bin seit 15 Jahren Polizeibeamter. Als ich mit der Ausbildung angefangen habe, war der Respekt noch ganz anders. Die Zeit ist anders, die Sprache ist anders, es geht viel rauer zu.“ Schiedsrichter Ralph Vollmers hat ebenfalls einen „allgemeinen Werteverfall“ beobachtet: „Das respektlose Verhalten fängt schon auf dem Schulhof gegenüber Lehrern an. Es hakt erziehungstechnisch.“ Schon in den Jugendklassen schlagen so viele übermotivierte Eltern verbal über die Stränge, dass 20 Meter Abstand von Zuschauern zum Spielfeldrand Pflicht ist.
Wenn sich dazu noch, massenmedial verbreitet, die Vorbilder aus den hohen Ligen alles andere als vorbildlich verhalten, senkt das nach Meinung der Hamburger Unparteiischen die Hemmschwelle noch weiter. „Ich kann mich nicht erinnern, dass Jupp Heynckes tobend an der Seitenlinie auf und ab rannte“, sagt Grudzinski, „und die Wortwahl ,Betrug´ nach einer Fehlentscheidung ist nicht angemessen.“
Was also tun? „Miteinander reden, Spieler und Trainer besser über die Regeln aufklären“, wünscht sich Vollmers. „Wir Schiedsrichter hoffen, dass in den Vereinen die Obleute mit Trainern, Betreuern und Zuschauern über das Thema sprechen“, erklärt Grudzinski. Damit es doch noch eine Umkehr zu einem sportlich fairen Umgang miteinander gibt. Damit weiter gelten kann, was Alexander Teuscher sagt: „Wir lieben den Fußball und das, was wir tun.“