Hamburg. Heute beginnt der Prozess gegen die 30 Jahre alte Mutter, die ihren Sohn offenbar bewusst krank machte.

Die anderen Mütter in ihrer Umgebung hatten fast schon ein schlechtes Gewissen. Wenn sie sahen, wie Tanja K. (alle Namen geändert) mit ihren Kindern umging, so ex­trem liebevoll, so sanft, so vernünftig: die Übermutter schlechthin. Umso größer war das Entsetzen, als bekannt wurde, was die 30-Jährige ihrem kleinen Sohn angetan haben soll. Dass sie im Verdacht steht, den Dreijährigen bewusst vergiftet und damit beinahe getötet zu haben. „Um Himmels willen! Ausgerechnet sie!“ hieß es im Umfeld der Familie in der norddeutschen Kleinstadt fassungslos. „Wie konnte diese Frau ihrem Kind und ihrer Familie das antun!“

Auch Martina G., eine Bekannte der Familie aus demselben Ort, ist erschüttert über den Fall des kleinen Tim, der so lange so schwer krank war. „Das arme Kind. Alle haben sich Sorgen gemacht. Die ganze Familie war beeinträchtigt“, erzählt die Frau, selber Mutter zweier Kinder. „Und die Mutter hat den Vater ein halbes Jahr lang so schlimm belogen! Dabei hätte sie jederzeit die Stopptaste drücken und das aufklären können und so mithelfen, dass ihr Sohn wieder gesund wird.“ Denn die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass Tanja K. dem Dreijährigen im Jahr 2013 mit Speichel, Fäkalien, Blumenwasser oder anderen Fremdstoffen versetzte Substanzen gespritzt hat, um den Jungen krank zu machen.

Vom heutigen Montag an muss sich die 30-Jährige deshalb wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen vor dem Landgericht verantworten. Das Kind musste unter anderem mehrfach auf der Intensivstation behandelt werden, sogar eine Knochenmarktransplantation war geplant. Bis bei den Ärzten der Verdacht aufkam, die Mutter könnte das Kind krank gemacht haben. Die Angeklagte leidet offenbar am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einer seltenen Form der Kindesmisshandlung, bei der meist auffallend fürsorgliche Mütter Krankheiten erfinden oder selbst verursachen, um Aufmerksamkeit zu erzwingen.

Die Mutter darf bis heute keinen Kontakt zu Tim und seinen Schwestern haben

„Ich muss schnell los. Der Kleine ist wieder krank.“ Diesen Satz hat Martina G. häufig von Tanja K. gehört, wenn diese Tims beiden älteren Schwestern in der Kita ablieferte. „Und später erfuhren wir, dass der Junge im Krankenhaus lag, insgesamt rund sechs Monate. Und die Mutter war Tag und Nacht immer bei ihm in der Klinik“, erinnert sich die Bekannte. „Es bestand der Verdacht auf Leukämie, keine Behandlung schlug wirklich an, und der Vater des Jungen war vollkommen verzweifelt.“ Doch plötzlich, Anfang Dezember 2013, sei Tim mit seinem Vater wieder zu Hause gewesen. „Alle wunderten sich. Und dann gab es ein Schreiben in der Kita, dass die Mutter wohl nie wieder dort auftauchen werde.“

Schließlich wurde der furchtbare Verdacht bekannt, dass die Mutter ihr Kind selbst gequält und so in Lebens­gefahr gebracht habe. „Ausgerechnet die Frau, die sich immer so intensiv und liebevoll um ihre Kinder gekümmert hat“, sagt Martina G. „Sie, die zum Beispiel darauf bestanden hatte, dass ihre Kinder nichts Zuckerhaltiges trinken. Darauf achtet sie, aber dann misshandelt sie ihren Sohn!“ Der Vater habe, als sich der Verdacht gegen die Mutter konkretisierte, sofort die Scheidung eingereicht.

Tanja K., die zeitweise in einer psychiatrischen Klinik untergebracht war, darf bis heute weder zu Tim noch zu ihren beiden Töchtern Kontakt haben. „Der Vater hat Angst um die Kinder.“ Genau ein Jahr, nachdem er seinen Sohn aus der Klinik abholen konnte, schrieb der Mann in einem sozialen Netzwerk, dass er diesen Tag wie einen Geburtstag des Jungen gefeiert habe. „Und jetzt warten wir nur noch auf Gerechtigkeit.“