Der Michel hat zwei neue Glocken. Der Eppendorfer Paul Gerhard Scharf hat sie mit einem Vers in vier Sprachen kunstvoll verziert.

Gäbe es im Beruf noch Noten, hätte Paul Gerhard Scharf eine Eins in Schönschrift sowie eine Eins in Religion. Der 77-Jährige ist im Michel für die Schriften zuständig, seine Arbeit wird also von ganz oben bewacht. „Die Hand Gottes“ könnte man Scharf nennen, aber anders als Diego Maradona 1986 bei der WM spielt Scharf stets korrekt. Schummeleien könnte er nicht ertragen, auch wenn es keiner merken würde.

„Schauen Sie hier!“, sagt er und zeigt auf den Nebenaltar in der Krypta des Michel. Dort sind die Namen der Jünger Jesu kunstvoll von Scharf in den Stein gemeißelt worden. Die Buchstaben stehen so harmonisch neben­einander, als würden die Namen Händchen halten. „War aber alles total falsch!“, sagt Scharf und erzählt, wie er die ganze Arbeit noch einmal machen musste, weil er eine veraltete Vorlage zur Anfertigung der Schrift gewählt hatte.

Er hatte die Namen aus seiner eigenen Konfirmationsbibel entnommen, die ist jedoch schon 60 Jahre alt. Die Schreibweisen haben sich durch Lautverschiebungen inzwischen geändert. Scharf lacht. Wäre niemandem aufgefallen. Aber die Kirche kann man nicht bescheißen. Zumindest diese nicht.

Eine ruhige Hand und ein selbstgemachter Stift

Paul Gerhard Scharf wurde im Michel getauft, und wenn er heute durch das Mittelschiff geht, zwischen den Bänken hindurch und runter in die Krypta, dann sieht man, dass er diese Wege selbst im Schlaf finden würde. Eigentlich ist Scharf Architekt, aber als er 50 Jahre alt wurde, zogen die kunstvollen Buchstaben ihn immer mehr in seinen Bann. Er liebt es, alte Urkunden zu studieren, Inschriften auf Statuen anzuschauen, kunstvolle Bücher zu sammeln. „Bei uns zu Hause wurde allerdings leider ein Bücherkauf-Verbot verhängt“, sagt Scharf. Seine Frau habe als Lehrerin ebenfalls einen Hang zu Büchern, Neuanschaffungen seien einfach nicht mehr drin.

Die Wohnung in Eppendorf am Mühlenteich würde sonst bald aus allen Nähten platzen. Deshalb lagert der Kalligraf seine Schätze in einer Büro­gemeinschaft. Die jungen Leute dort schauen ihn und seine Arbeiten, die er in großen Mappen umherträgt, häufig mit großen Augen an. Im Internet sehen alle Buchstaben gleich und nach Massenproduktion aus, auf Scharfs Papieren scheinen sie zu tanzen.

Er bindet die Schürze um („Nie ohne Schürze! Sonst versaue ich mir jede Hose!“), öffnet seine Werkzeugkoffer und breitet die Arbeitsmaterialien aus: verschiedene Federn, ein 200 Jahre alter Proportionszirkel, ein Dreieck, ein Zollstock und ein Stift, mit dem ihm runde Buchstaben am besten gelingen. Diesen Stift hat sich Scharf aus einem vom Chinesen geklauten Stäbchen und dem Mundstück einer Klarinette zusammengebaut. („Ich spiele aber lieber Trompete!“) Sobald der Michel-Mitarbeiter mit dem Zeichnen beginnt, wird seine Hand so ruhig, als hätte sie ein Schweigegelübde abgelegt. „Nur durch schlechten Wein würde sie zitterig, aber den trinke ich ja nicht“, sagt Scharf.

Zwei neue Glocken für den Hamburger Michel

Der Hauptpastor Alexander Röder
Der Hauptpastor Alexander Röder © Andreas Laible | Andreas Laible
Mit einem Kran wurden die Glocken in die Kirche gehievt
Mit einem Kran wurden die Glocken in die Kirche gehievt © Andreas Laible | Andreas Laible
Der Turm muss für ihre Aufhängung noch eigens verstärkt werden
Der Turm muss für ihre Aufhängung noch eigens verstärkt werden © Andreas Laible | Andreas Laible
Finanziert wurde das Geläut komplett aus Spenden
Finanziert wurde das Geläut komplett aus Spenden © Andreas Laible | Andreas Laible
Dafür kamen in den vergangenen zehn Monaten etwa 350.000 Euro zusammen
Dafür kamen in den vergangenen zehn Monaten etwa 350.000 Euro zusammen © Andreas Laible | Andreas Laible
Wenn die beiden neuen Glocken installiert sind, werden im Michel-Turm zum ersten Mal seit fast 100 Jahren wieder vier Glocken erklingen
Wenn die beiden neuen Glocken installiert sind, werden im Michel-Turm zum ersten Mal seit fast 100 Jahren wieder vier Glocken erklingen © Andreas Laible | Andreas Laible
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„Jede Abweichung verändert den Klang“

Der Künstler hätte allerdings Grund zum Anstoßen, denn er hatte die große Ehre, die beiden neuen Schlagglocken zu verzieren, die Mittwochmittag am Michel ankamen und am 27. September mit einem großen Fest geweiht werden. Es war ein langer Schaffensprozess für Scharf: Die Schrift und die Verzierungen mussten ausgesucht, an Größe, Stärke und Krümmung des Glockenkörpers angepasst und der gewünschte Vers in vier verschiedenen Sprachen geschrieben werden.

Die Kirchengemeinde hatte sich als Text für die Vaterunser-Glocke den Vers aus dem Coventry-Gebet gewünscht. Also schrieb Paul Gerhard Scharf „Vater vergib“ in Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch nieder.

Weil die Glocke so groß ist, zeichnete Scharf alle Buchstaben und Verzierungen auf den Knien liegend mit Bleistift auf einen riesigen Bogen Packpapier und übertrug sie dann auf eine dünne Wachsfläche. Mit einem speziellen Messer schnitt er die Elemente aus und übertrug sie vorsichtig auf den Glockenkörper. Eine filigrane Arbeit, bei der jeder Millimeter zählt. „Jede Abweichung verändert den Klang“, sagt Scharf.

Im sogenannten Ausschmelzverfahren wurden die Elemente schließlich ausgehärtet, was bedeutet, dass der Wachs schmilzt und die Verzierungen erhalten bleiben. „Das war eine wundervolle Aufgabe“, sagt Scharf, der auch schon die Jahrtausendglocke verzierte. „So viele große Glocken gibt es nicht.“

Bei der Anlieferung vor dem Michel am Mittwoch leuchteten die Schriften, sie waren extra noch mit Blattgold überzogen, die Glocken selbst mit Tannengrün geschmückt worden. Ein großer Moment für Scharf, der sich mit seinen Initialen auf den Glocken hätte verewigen können, aber das wäre nichts für ihn. Die Buchstaben spart er sich für Wichtigeres. Sein Applaus wird dennoch nie verebben. Er hört ihn mit jedem Glockenspiel. Trotz seiner Liebe zum Michel gibt es eine Glocke, die der Hamburger noch lieber hört: die der Kirche auf der Anscharhöhe in Eppendorf. „Wenn ich die morgens um 6 Uhr höre, dann weiß ich, dass ich mich noch mal umdrehen kann.“