Das Michel-Geläut wird wieder komplettiert: Die letzten beiden noch fehlenden Klanginstrumente wurden in Hessen gegossen.

Der ohrenbetäubend donnernde Brenner des Schmelzofens ist jetzt ausgestellt worden, denn die Glockenspeise, wie die Bronze-Zinn-Mischung genannt wird, hat die notwendige Temperatur von 1100 Grad Celsius erreicht. Michel-Hauptpastor Alexander Röder und Pastorin Julia Atze sprechen ein kurzes Gebet, dann gibt Fritz-Georg Rincker das Zeichen für den Guss von vier Glocken. Zwei davon sind für den Hamburger Michel bestimmt, die beiden anderen für eine Gemeinde im Spessart. Wie ein Lavastrom ergießt sich nun das feuerfarbene flüssige Metall aus der Tülle des behutsam angekippten Tiegels in den Kanal, der zu den Gussgruben führt. Niemand darf jetzt sprechen, denn die Glockengießer, die mit schwerer Schutzkleidung an den vier Gruben stehen, müssen der fließenden Bronze zuhören, nur so können sie feststellen, wann die in dichten Rauch gehüllten Formen gefüllt sind.

Etwa 15 Minuten dauert es an diesem Freitagmittag, bis die letzte der in den Boden gemauerten Formen gefüllt ist, dann erst löst sich die Spannung, beginnen die etwa 60 Menschen, die den Guss verfolgt haben, wieder zu sprechen. Dorel Reiß atmet tief durch und tritt einen Schritt von dem Geländer zurück, an dem sie die Geburt der beiden letzten Michel-Glocken verfolgt hat. Gemeinsam mit zahlreichen anderen Spendern ist sie am letzten Freitag von Hamburg in den hessischen Ortschaft Sinn gereist, um hier die Entstehung der letzten beiden Glocken mitzuerleben, die dem Michel-Geläut noch fehlten. „Es ist ein wunderbares Gefühl, hier dabei sein zu dürfen. Es kommt mir fast vor, als ob ich schwebe“, sagt die 80-Jährige sichtlich bewegt: „Ich habe dabei wieder diese Geborgenheit gespürt, die mich als Kind in der Michel-Krypta umfangen hat.“ Für Dorel Reiß ist es selbstverständlich, sich für die Michel-Glocken zu engagieren. Dabei geht es ihr vor allem darum, dass die Glocken zum Frieden rufen und dass jetzt endlich eine Wunde geschlossen wird, die der Erste Weltkrieg vor 98 Jahren gerissen hat.

Ein junger Glockengießer im Gespräch
mit Dorel Reiß
Ein junger Glockengießer im Gespräch mit Dorel Reiß © Thomas Lohnes

Am 18. Juni 1917 musste sich auch der Hamburger Michel von einem Großteil seiner Glocken trennen. Sie wurden vom Turm geholt, damit man sie für Kriegszwecke einschmelzen konnte – ein Schicksal, das Tausende Glocken in beiden Weltkriegen ereilte. Nach und nach konnten die Michel-Glocken wieder ersetzt werden, eine Jahrzehnte währende Anstrengung, die erst jetzt vollendet worden ist. Die kleine Glocke wiegt 870 Kilogramm und trägt die Inschrift „Er ändert Zeit und Stunde“, ein Spruch aus dem alttestamentlichen Buch Daniel. Sie wird künftig als Dreiviertelstundenglocke angeschlagen. Die größere Glocke wiegt 1747 Kilogramm und soll zu jedem Vers des Vaterunsers erklingen. „Vater vergib“, heißt die Inschrift, die dem Versöhnungsgebet der Kathedrale von Coventry entnommen ist. Nachdem die deutsche Luftwaffe 1940 die britische Stadt Coventry und deren mittelalterliche Kathedrale zerstört hatte, ließ der dortige Dompropst Richard Howard die Worte „Vater vergib“ in die Chorwand der Ruine meißeln – ein eindringliches Zeichen der Versöhnung.

Für Dorel Reiß ist das besonders wichtig, denn ihre tiefe Verbindung zum Michel begann während des Feuersturms im Juli 1943. „Ich war damals acht Jahre alt und schon daran gewöhnt, nachts aus dem Schlaf gerissen zu werden. Wenn die Sirenen heulten, mussten ich mit der Mutter und den beiden Geschwistern in den Luftschutzkeller eines Bürohauses am Hafen eilen“, erinnert sie sich. Als das Haus in einer dieser Nächte getroffen wurde und auch der Keller einzustürzen drohte, drängten Hunderte von Menschen gleichzeitig auf die Straße. Doch dort tobte der Feuersturm, Phosphor lief über die Straßen, und Schutt und Steine flogen durch die Luft. Binnen Kurzem hatte Dorel die Mutter und die Geschwister aus dem Blick verloren, orientierungslos stolperte sie eine Gasse entlang, während ihre Holzschuhe Feuer fingen. Schließlich entdeckte sie ein Erwachsener, der sie in die nahe gelegene Polizeiwache führte, wo man ihre Brandwunden versorgte.

„Vor der Tür stand ein Sanitätswagen, der die Ausgebombten in die Krypta des Michels bringen sollte. Doch der Wagen war schon überfüllt, sodass für mich kein Platz mehr blieb. Da kam ein Feuerwehmann und sagte zu mir: ,Du bis so leicht, dich kleinen Fips kann ich auch zum Michel tragen.“ Als sie unterwegs waren, sah das Mädchen, wie der Sanitätswagen, in dem sie eigentlich sitzen sollte, auf einen Blindgänger fuhr und in einem Feuerball explodierte. „Siehst Du, mein Deern, Du bist noch nicht dran“, sagte der Feuerwehrmann, der dem Mädchen behutsam übers Haar strich und es wenig später wohlbehalten im Michel ablieferte.

Ob sie ihre Mutter und Geschwister wiedersehen würde, wusste sie nicht. „Trotzdem war ich beruhigt und fühlte mich geborgen, denn hier konnte mir nichts mehr passieren. Von meiner Großmutter wusste ich, dass mein Schutzengel beim lieben Gott war, und der wohnte ja im Michel“, erinnert sie sich. Gleich im Eingangsbereich der Krypta, in der sich zu dieser Zeit etwa 2000 verängstigte Menschen aufhielten, gab es einen Bereich, in dem sich Rot-Kreuz-Schwestern um unbegleitete Kinder kümmerten. Dort entdeckte die Mutter die kleine Dorel, die verrußt, verdeckt und unter ihren Brandverbänden im ersten Moment kaum zu erkennen gewesen war.

Beim Guss der Michelglocken, als außer dem knisterndem Geräusch des fließenden Metalls eine fast meditative Stille herrscht, ist diese wunderbare Rettungsgeschichte für Dorel Reiß wieder ganz gegenwärtig. Aber es ist auch das Gefühl, dass sich hier ein Kreis schließt, etwas geheilt wird, etwas wieder in Ordnung kommt, das durch die Kriege fast 100 Jahre lang gestört war.

Auch die anderen Gäste sind bewegt, denn die Entstehung der Glocken ist nicht nur ein besonderes Erlebnis, sondern ein archaischer Moment. Seit Jahrtausenden werden Glocken gegossen, die mit ihrem Klang zum Frieden mahnen, zum Gebet und zum Gottesdienst rufen. In der Vergangenheit haben sie vor Gefahren gewarnt und dem Leben der Menschen Orientierung gegeben. Und auch heute lässt uns der Klang von Glocken aufmerken, unterbricht unseren Alltag und weist über ihn hinaus.

Kein Wunder, dass der Guss von Glocken auch im 21. Jahrhundert von zahlreichen Traditionen begleitet wird. Er findet grundsätzlich nur an Freitagen statt, stets um die Mittagszeit gegen drei Uhr, um an die Sterbestunde Christi zu erinnern. „Für mich bildet der Guss eine Glocke die Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, sagt Michel-Hauptpastor Alexander Röder, der fasziniert ist vom archaischen wie präzisen Handwerk, das in der Gießerei Rincker schon in der 13. Generation im Familienbetrieb ausgeübt wird. Für Laien ist es schwer vorstellbar, wie der Glockengießer den späteren Klang durch die geometrische Form der Rippe berechnen und festlegen kann, ebenso wie die Tatsache, dass der für uns hörbare Schlagton physikalisch gar nicht messbar ist, sondern sich aus mehreren Teiltönen erst im Gehirn zusammensetzt.

Firmenchef Fritz Georg Rincker hat dennoch eine genaue Vorstellung, wie die beiden neuen Michelglocken klingen werden. „Sie müssen sich nicht nur in das vorhandenen Geläut gut einfügen, sondern auch im Zusammenspiel mit den umliegenden Hamburger Kirchen einen harmonischen Klang ergeben“, sagt er. Wie die Glocken tatsächlich klingen, wird sich aber erst in einigen Tagen erweisen. Bis dahin müssen sie noch in der Lehmform unter der Erde erkalten und aushärten. Erst Anfang September sind sie bereit für die Reise nach Hamburg. Dort werden sie zunächst an Gerüsten aufgehängt und im Kirchenraum ausgestellt, damit jeder sie aus der Nähe betrachten kann. Wird Dorel Reiß dann wieder dabei sein? „Was für eine Frage!“, sagt die alte Dame, die sich schon darauf freut, den Klang zum ersten Mal zu hören.