Hamburg. Menschen auf der Straße haben Angst, dass sie zu Hilfsbedürftigen zweiter Klasse werden könnten. Aber es gibt auch Solidarität.

Sie hat selbst so wenig und will trotzdem helfen: Eine „Hinz&Kunzt“-Verkäuferin fragt die Organisatoren des Straßenmagazins, wo sie Spenden für Flüchtlinge abgeben kann. Es gibt obdachlose Menschen in Hamburg, die Mitgefühl zeigen für Migranten aus den Kriegsgebieten. Wer selbst täglich den Mangel erlebt, weiß, wie es sich anfühlt, auf sich gestellt zu sein und nichts mehr zu besitzen – außer vielleicht einen Ausweis, der die Identität dokumentiert. Einerseits.

Doch andererseits gibt es auch besorgte Stimmen unter den rund 2000 Hamburger Obdachlosen. „Was wird aus uns, wenn der Winter kommt und die Plätze mit Flüchtlingen belegt sind?“, fragen sie. Stephan Karrenbauer, politischer Sprecher und Sozialarbeiter bei „Hinz&Kunzt“, kennt diese Sorgen aus den Gesprächen auf der Straße. „Obdachlose sind verbittert, weil sie sich jetzt noch weniger Chancen ausrechnen als vorher.“ Zwar versuchten die Sozialarbeiter, dieser Befürchtung entgegenzutreten. „Aber wer nichts hat, kann oft auch nichts geben – ob Spenden oder Mitgefühl.“

Die Angst der Obdachlosen, dass sie in diesem Winter zu Hilfsbedürftigen zweiter Klasse werden könnten, nährt sich auch aus einer kürzlich verbreiteten Nachricht: Zwei Monate vor Beginn des Winternotprogramms würden in der Hansestadt mehr als 500 Schlafplätze für Obdachlose fehlen, warnte das Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“. Zwei große Unterkünfte, die im vergangenen Winter noch von den Obdachlosen genutzt werden konnten, beherbergten jetzt Flüchtlinge. Die Stadt müsse jetzt schleunigst handeln, forderte „Hinz&Kunzt“.

Tatsächlich legte der rot-grüne Senat jetzt noch einmal nach und teilte in dieser Woche mit: Im Rahmen des Winternotprogramms vom 1. November bis 31. März stellen die Stadt Hamburg und die Kirchengemeinden 850 zusätzliche Schlafplätze zur Verfügung. „Auch wenn die Zahl der in Hamburg unterzubringenden geflüchteten Menschen sprunghaft zugenommen hat: Wir verlieren die Obdachlosen nicht aus dem Blick“, versicherte Sozialsenator Detlef Scheele (SPD). Die Unterbringung der Flüchtlinge stelle die Stadt vor eine große Herausforderung. Dennoch sei es gelungen, neue Standorte für die Obdachlosen zu finden. „Damit können wir den Erfrierungsschutz bieten, wie es ihn auch im vergangenen Winter gab“, sagte Scheele.

Sozialexperten bezweifeln jedoch, dass 850 Schlafplätze ausreichen werden. Darüber hinaus wurden die Kapazitäten in den Dauerunterkünften aufgrund der angespannten Lage bei der Unterbringung der Flüchtlinge reduziert. Schon jetzt sind Obdachloseneinrichtungen wie das Pik As hoffnungslos überfüllt. Wie prekär die Lage ist, bringt Diakoniesprecher Steffen Becker so auf den Punkt: „Zwar sollen Notlagen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber es ist faktisch so, dass die bezirklichen Fachstellen für Wohnungsnotfälle in der jetzigen Situation kaum noch Obdachlose unterbringen können.“

Andreas Bischke, Leiter der Tagesaufenthaltsstätte Herz As, nennt ein praktisches Beispiel für die Überlastung der Hilfseinrichtungen: „Es gibt in Hamburg nur 20 Duschen für alle Wohnungslosen. Statistisch gesehen müssen zurzeit Obdachlose drei Wochen warten, um wieder warm duschen zu können.“

Derweil bezweifelt die CDU-Fraktion, ob das aufgelegte Winternotprogramm wirklich effizient ist. „Die vom Senat angekündigte Einrichtung von 850 Plätzen reicht gerade einmal knapp dafür aus, um wieder auf die Zahl vom letzten Jahr zu kommen“, kritisiert Franziska Grunwaldt, sozialpolitische Sprecherin der CDU-Bürgerschaftsfraktion. Aber nicht einmal das sei klar. „Bei rund 100 angekündigten Plätzen ist noch gar nicht sicher, ob sie überhaupt gebaut werden.“

Im letzten Winternotprogramm 2014/15 war der Bedarf an Schlafplätzen trotz des milden Winters sehr hoch. So benötigten beispielsweise am Stichtag 5. März 941 Obdachlose einen Übernachtungsplatz. Zur Verfügung standen aber nur 926 Plätze. Mit 850 Plätzen käme man da im kommenden Winter nicht weit. Wohlfahrtsverbände und Politiker warnen angesichts dieser Lage ausdrücklich davor, die Interessen von Obdachlosen und Flüchtlingen gegeneinander auszuspielen. „In der Haushaltspolitik darf es keine Kürzungen und Verschiebungen in anderen sozialen Bereichen geben, die ein Nährboden für das Ausspielen von Flüchtlingen und Obdachlosen bieten würden“, sagt Cansu Özdemir, Vorsitzende der Linksfraktion in der Bürgerschaft. Die Defizite im Bereich der Obdachlosigkeit müssten vielmehr durch eine „massive Erhöhung der Ressourcen“ beseitigt werden. Dass beide Gruppen unterstützt werden müssten, betont auch die CDU-Parlamentarierin Grunwaldt: „Flüchtlinge und Obdachlose werden dann nicht gegeneinander ausgespielt, wenn beide Gruppen bestmöglich untergebracht und ihnen gleichermaßen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Hilfestellungen zuteilwerden.“

Seit Langem herrscht in Hamburg allerdings Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Die Diakonie hat den Senat deshalb aufgefordert, die Situation der Obdachlosen und Wohnungslosen stärker in den Blick zu nehmen. Das städtische Wohnungsunternehmen Saga GWG solle künftig deutlich mehr Wohnungslose versorgen, sagt Diakonie-Landespastor Dirk Ahrens. Freie Wohlfahrtspflege und Diakonie fordern deshalb: Jede zweite Neuvermietung von Saga GWG müsse an vordringlich Wohnungsuchende gehen.

Am Ende bleibt die Hoffnung, dass beiden sozialen Gruppen Gerechtigkeit widerfährt. „Was der Senat mit der Unterbringung von 20.000 Flüchtlingen schafft, muss auch bei Obdachlosen gelingen“, appelliert Stephan Karrenbauer von „Hinz&Kunzt“.