Hamburg. Teil 12: Die spannendsten Kriminalfälle des Hamburger Professors Klaus Püschel. Heute: Der Fall Yagmur.
Das kleine Mädchen tanzt. Ein paar vorsichtige Bewegungen zunächst, dann wird das Kind etwas lebhafter. Doch wahre Freude, blitzende Augen und ein vergnügtes Lächeln sieht man nicht bei der Dreijährigen. Kein Wunder, denn wahrscheinlich hat da schon fast jeder Teil ihres Körpers geschmerzt, teilweise sogar schwere Qualen verursacht. Nur knapp drei Wochen, nachdem die Videoaufnahmen von dem tanzenden Kind entstanden sind, ist das Mädchen tot. Geschunden von der Mutter, immer wieder malträtiert, bis der kleine Körper von Yagmur aufgab. „Zum Schluss ist das Kind einfach zusammengebrochen. Und es hat sehr, sehr gelitten“, sagt Prof. Dr. Klaus Püschel über das Mädchen, das viel zu früh starb, chancenlos, kraftlos, wehrlos, schutzlos.
In seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Rechtsmediziner hat Püschel schon Tausende Gewaltopfer untersucht, auch sehr viele Kinder waren dabei. Im grellen Licht des Sektionsraums hat er auch Yagmurs Verletzungen genau vermessen, protokolliert, analysiert und gezählt, konzentriert und mit der üblichen Professionalität, die jede Untersuchung erfordert. „Persönliches muss in diesen Momenten grundsätzlich zurückstehen“, sagt er. Doch später, wenn die Arbeit erledigt ist, sind Emotionen erlaubt. „Ich bin total sauer, dass ein nettes, fröhliches und liebenswertes Kind das Opfer des Ärgers und der Unzufriedenheit der Eltern wurde“, sagt der Rechtsmediziner mit Nachdruck. „Kinder werden benutzt, um Dampf abzulassen. Ich bin wütend, dass junge Menschen, die eine tolle Entwicklung nehmen könnten, stattdessen als Fußabtreter missbraucht werden und dass Erwachsene so brutal sein können. Und dass ich das nicht verhindern konnte“, sagt der 63-Jährige, der sich selber als „begeisterten Vater und Großvater“ bezeichnet.
Die in einem als Dunkelzelle hergerichteten Zimmer eingekerkerte und schließlich verhungerte Jessica; der vielfach misshandelte Kevin, der später tot in einem Kühlschrank gefunden wurde; die vollkommen vernachlässigte Michelle, die, eingeschlossen in ihrem Kinderzimmer, an den Folgen eines schweren Infekts verstarb und deren Eltern ihren Tod erst einen Tag später überhaupt bemerkten; die extrem unterernährte Lara-Mia, deren ausgemergelter Körper aufgab; die totgeprügelte Yagmur – diese Fälle sind nur einige der extremen Fälle von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. „Die Dunkelziffer ist hoch“, weiß Püschel. Und doch ist der Tod von Yagmur „ein sehr ungewöhnlicher und außergewöhnlich schwer wiegender Fall. In Bezug auf Anzahl und Art der Gewalteinwirkungen ist das extrem, diese sehr, sehr zahlreichen Verletzungen an Kopf und Körperkern, die massive, wiederholte stumpfe äußere Gewalteinwirkung. Dieses Kind hat immer wieder erhebliche Schmerzen davongetragen.“
Im vergangenen November ist die Mutter der zu Tode geprügelten Dreijährigen, Melek Y., 27. vom Hamburger Schwurgericht zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes verurteilt worden.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Gegen den Vater, Hüseyin Y., 26, verhängte das Schwurgericht viereinhalb Jahre Haft unter anderem wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen. Das Gericht ist überzeugt, dass es ausschließlich Melek Y. war, die die Tochter mit Schlägen, Kniffen und Tritten quälte, mit zunehmender Gewalt, und ihr damit unermessliches Leid zufügte, letztlich ein Mord aus Grausamkeit. Äußerlich teilnahmslos nahm Melek Y. das Urteil auf. Fast ebenso regungslos wie damals, im Dezember 2013, als der Tod ihrer Tochter festgestellt wurde. Melek Y. „weinte ein bisschen“ und sei zum Rauchen auf den Balkon getreten, gab die Notärztin später zu Protokoll. Der Vorsitzende Richter sagte es in der Urteilsbegründung noch deutlicher: „Melek Y. stand dem Tod Yagmurs gleichgültig gegenüber.“ Der Psychiatrische Sachverständige hatte angegeben, dass die Mutter ihr Kind für alles Schlechte in ihrem Leben verantwortlich gemacht habe.
Keine Stelle der Dreijährigen war von Misshandlungen frei
Yagmur, dieses kleine Mädchen, war wegen der fortgesetzten Misshandlungen in seinen letzten Wochen keinen Augenblick schmerzfrei und musste beständig in der Angst leben, dass die Mutter wieder zuschlagen könnte. „Das Prügeln ist irgendwann vertraut, und die Kinder sind dadurch in bestimmter Weise ‚dressiert‘, sagt Püschel. „Die Eltern sind trotz vielfältiger Gewalt die wichtigsten Bezugspersonen.“ Zwar hatten mehrere Menschen in Yagmurs Umfeld gemerkt, dass das Mädchen insbesondere in Gegenwart seiner Mutter ungewöhnlich still war und erstaunlich oft Hämatome und zuletzt einen bandagierten Arm hatte. Doch die Mutter hatte stets scheinbar plausible Erklärungen dafür. Als das Kind wegen schwerster Bauch- und Kopfverletzungen im Krankenhaus behandelt werden musste, hatte Püschel Anzeige gegen unbekannt erstattet. Und doch kam Yagmur, nachdem Ermittlungen eingestellt wurden, in die Obhut der Eltern zurück.
Nachdem die Dreijährige kurz vor Weihnachten 2013 in der Wohnung ihrer Eltern zusammengebrochen und gestorben war, wurde das unvorstellbare Ausmaß der Misshandlungen offenbar. Ganz gleich ob Beine, Arme, Brust, Rücken, Hals oder Kopf: Keine Stelle von Yagmurs Körper war von Misshandlungen frei. Überall ältere oder frische Hämatome, insgesamt zählte Püschel bei der Obduktion des Kindes 83 äußere Verletzungen, darunter auch Narben, die so aussahen, als könnten sie mit glühenden Zigaretten verursacht worden sein, und Flecken an Yagmurs Hals vom Zudrücken. Außerdem hatte das Mädchen einen gebrochenen Ellbogen, darüber hinaus war fast jedes Organ des Mädchens schwer geschädigt. „Im Bauch fand sich ein Viertelliter Blut“, so Püschel. „Gezielte mikroskopische Untersuchungen zeigten im Bereich der Verletzungen der inneren Organe frische Einblutungen und auch Vernarbungen“, erzählt der Rechtsmediziner. Auch das Gehirn war verletzt, von einem länger zurückliegenden Schütteltrauma.
Letztlich war Yagmurs Organismus durch die Folgen der massiven Gewalt zusammengebrochen, ein Zusammenwirken der Verletzungen hatte zum Tod geführt. „Anhand des Verletzungsmusters konnten wir feststellen, dass sich die Art und Weise, wie auf das Kind eingeschlagen wurde, mit der Zeit immer weiter gesteigert hat“, so Püschel. Demzufolge verstärkten sich die Schmerzen des Mädchens immer mehr. Zuletzt war Yagmur in einem dauerhaft lebensbedrohlichen Zustand. „Sie hat massiv Schmerzen erlitten und sicherlich immer wieder geweint. Das musste man merken, zumindest in den letzten Wochen“, so Püschel. „Dass Lebensgefahr bestand, ist eindeutig.“ Bis zuletzt hatte die Mutter versucht, Yagmurs Verle tzungen zu überschminken.
Dabei hatten sich über Jahre unterschiedliche Stellen bei Jugendamt, Gericht und Polizei mit der Familie befasst. Und doch war das Kind durch Lücken des sozialen Netzes gefallen. Nach dem Tod von Yagmur hätten vonseiten der Behörden „Versäumnisse und Fehlentscheidungen“ vorgelegen, hatte der Vorsitzende Richter im Prozess gesagt, zudem seien „Unzulänglichkeiten zutage getreten“. Rechtsmediziner Püschel meint: „Mit der lebenslangen Haft für die Mutter und der viereinhalbjährigen Freiheitsstrafe für den Vater wird dem formalen Recht vielleicht Genüge getan. Aber viel wichtiger ist, welche Schlüsse wir, die Ärzteschaft, die Politik, aber auch die Gesellschaft und die behördlichen Institutionen daraus ziehen, und dass wir uns der Verantwortung stellen.“ Und er zitiert die beiden Berliner Rechtsmediziner Saskia Guddat und Michael Tsokos, die in ihrem Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ drastisch formulieren: „Schuldig macht sich auch jeder, der wegsieht.“