Ob bei den Esso-Häusern auf St. Pauli oder der Gestaltung des Alten Elbparks: Überall wollen besorgte Bürger mitreden.
Anwohner lieben das Viertel um die Wohlwillstraße in St. Pauli Nord. Mit seiner Altbaustruktur und vielen kleinen Geschäften ist es ein Ruhepool zwischen Reeperbahn und Schanzenviertel. „Eine neue Schanze brauchen wir hier nicht“, meinte Niels Boeing von der Initiative „Wohl oder übel“. Das sehen rund 60 andere Anwohner genauso, die zur Nachbarschaftsversammlung in die Kantine der Gewerbeschule Werft und Hafen gekommen sind. Anlass: Die Schule soll in wenigen Jahren nach Hammerbrook umziehen. Was wird dann mit dem Gebäudekomplex? Auch in der benachbarten Jägerpassage gibt es Sorgen: Demnächst laufen die Mietbindungsfristen für die Bewohner aus, die Stadt will die Häuser an die SAGA verkaufen. Und dann?
In dieser Situation wollen die Wohlwill-Nachbarn eigene Pläne für das Schul-Areal entwickeln. Vor allem mit bezahlbarem Wohnraum, Nachbarschaftsräumen und Wohnungen für Flüchtlinge. Das hier könnte „St. Paulis Next Bürgerbeteiligung“ werden. Der Kompromiss, den Stadtteilinitiative, Bezirk und der Investor Bayerische Hausbau kürzlich für das Esso-Areal auf St. Pauli aushandelten, hat neue Maßstäbe gesetzt. „Jetzt fängt eins an, auf dem anderen aufzubauen“, sagte Niels Boeing. „Einfach zu sagen, ich baue hier was hin und an der Fassade dürft ihr vielleicht noch ein bisschen mitgestalten – das läuft nicht mehr.“
Die Wutbürger-Debatte nach „Stuttgart 21“ ist auch im Norden nicht vergessen
Ein Gespenst geht um in Hamburg, und das heißt „Beteiligung“. Im vergangenen Jahr sind allein im Bezirk Mitte zwei Mitplanungsprojekte von Bürgern erstritten worden: Nicht nur über die Esso-Häuser, sondern auch bei der Neugestaltung des Alten Elbparks reden Anwohner aus Neustadt und St. Pauli in einer organisierten Beteiligung mit; viele von ihnen hatten sich vorher schon in der Initiative „Keine Seilbahn!“ warmgelaufen.
Es gibt noch andere Modelle: Am Bürger-Stadt-Labor Nexthamburg beteiligten sich mehr als 4000 Menschen, die Straßenzüge, Neubausiedlungen, Elbbadestrände und Plätze entwarfen. Das Bürgerforum „Eine Mitte für alle“ hat sich seit Februar 2012 so erfolgreich ins Bauprojekt „Neue Mitte Altona“ eingeschaltet, dass der rot-grüne Senat die Erfahrungen damit zur „weiterzuentwickelnden Grundlage einer zukünftigen inklusiven Stadtentwicklung“ machen will, so die Zusage im Koalitionsvertrag.
Hamburg ist mittlerweile deutscher Meister: Nirgendwo gibt es so viele Instrumente und Methoden der direkten Demokratie – mit Bürgerbegehren, mit neuen Volksinitiativen wie der „Lex Olympia“ und „Rettet den Volksentscheid“ des Vereins „Mehr Demokratie“, mit Quartiersbeiräten, Sanierungsbeiräten und Stadtteilkonferenzen.
Die Wutbürger-Debatte nach „Stuttgart 21“ ist im Norden nicht vergessen. In der Finanzkrise haben viele begriffen: An wichtigen Fronten von Politik und Wirtschaft haben Bürger so gut wie nichts zu sagen; aber bei der Gestaltung ihrer unmittelbaren Lebensquartiere – da wollen sie, und da können sie mitreden.
Juristinnen und Kellnerinnen, Künstler und IT-Fachleute, Bäcker, Grafiker und Pensionäre wollen in Sachen Stadtplanung nicht länger über ihre Köpfe hinweg entscheiden lassen. Was Architekten und Projektplaner entwickeln, wird mit Argusaugen auf Alltags- und Anwohnertauglichkeit überprüft. Und hält der Kritik dann oft nicht stand.
Noch mehr „Leuchtturmprojekte“ aus Beton, Glas, Stahl? Bloß nicht. Das war die zentrale Erkenntnis der Bürgerbefragung über die Esso-Häuser – der „St. Pauli Code“ – und der ist auf viele andere Quartiere übertragbar: Sozialwohnungen und Baugenossenschaften statt Büros, kleine Läden für die Nahversorgung, Platz für soziale Einrichtungen. „Urban Gardening“ und Spielen sind wichtiger als futuristische Architektur oder neue Eventflächen. Mega-Citys mögen aus der Luft imposant aussehen, sie sind häufig in mieterschutzfreien Zonen entstanden. Für ihre Bewohner sind sie teuer, anstrengend, anonym.
Das Misstrauen ist groß. Das merkten auch die Planer des Bauprojekts auf dem Flakbunker am Heiligengeistfeld: Auf dem Dach soll nicht nur ein öffentlicher Dachgarten entstehen, sondern auch ein fünfstöckiger Aufbau mit Kulturräumen und Künstler-Gästehäusern. Die Beteiligung, die der private Erbpächter schon vorbeugend finanziert, bezieht sich aber nur auf den Dachgarten. Das reicht vielen Anwohnern nicht. Publikumsströme, Verkehr, Sicherheitsfragen – alles soll öffentlich erörtert werden, fordern Kritiker.
Bauunternehmen, Stadtplaner und Investoren müssen sich warm anziehen. Manche sehen schon das Ende der Planungsfreiheit gekommen und statt dessen einen „Konservatismus“ von unten: Da darf man ja baulich gar nichts mehr ausprobieren, und Gewinne einfahren soll man auch nicht! Aber es geht eben nicht nur ums reine Wohnen: „Die Stadt sind wir, weil wir hier leben“, sagt ein Nachbar an der Wohlwillstraße. Was in den Augen der Einwohner zur Lebensqualität gehört, hat das Beteiligungsforum „Planbude“ für die Esso-Häuser monatelang erhoben: Es sind die „alten“ bewährten Elemente, nämlich ein Mix aus Alt- und Neubauten, Schulen, Vereinen, Kino, Nachbarschaftskneipen, Kulturräumen, Grün, netten Geschäften.
Protestfilme wie „Buy buy St. Pauli“ schaffen es inzwischen in die Kinos
Ein Treibmittel des Mitsprachebedürfnisses sind die explodierenden Mietpreise, die gewachsene Quartiere umkrempeln. Und sie treffen nicht nur die Wohnbevölkerung. Die Stadt kann Mieter in einigen Quartieren mit einer Sozialen Erhaltungsverordnung schützen, Sanierungsgebiete mit öffentlichen Beiräten einrichten oder die Mietpreisbremse anwenden. Aber den Gewerbetreibenden nützt das nicht viel. Wie man zur Zeit im Schanzenviertel sieht: Allein zwischen Schanzenstraße und Schulterblatt hat der Sanierungsbeirat Sternschanze 14 Gewerbe-Leerstände aufgelistet, in den Seitenstraßen gibt es noch mehr. Ein Grund: Wegen der „Aufwertung“ des Quartiers haben viele Vermieter Dollarzeichen im Auge wie Dagobert Duck. Nach auslaufenden Altverträgen sind Gewerbe-Mietsteigerungen von 65 Prozent keine Seltenheit – für kleine inhabergeführte Geschäfte und Familienbetriebe nicht zu verkraften. Gesetzliche Grenzen oder Eingreifmöglichkeiten dagegen gibt es nicht, sagt Rechtsanwalt Marc Meyer von „Mieter helfen Mietern“.
Deshalb schalten sich in Bürgerbeteiligungen statt der altbekannten Lehrerklientel jetzt auch mal kleine Dienstleister, Gastronomen oder Selbstständige ein. An der Front gegen Gentrifizierung haben sich neue Kräfte gesammelt, die neue Methoden ausprobieren und ihre eigenen Netzwerke einsetzen. Vor Ort gedrehte Anti-Gentrifizierungsfilme wie „Buy buy St. Pauli“ (über die Esso-Häuser) oder „Boomtown St. Georg“ schaffen es heute in die Kinos, Megafon-Ballette und Theaterabende informieren das gesetztere Stadtpublikum.
Junge Hausbesetzer, die sich in tapferer Halbillegalität einigeln, wirken dagegen fast old-school. Sie können zwar im Kampf gegen Mietentreiberei und Leerstände auf eine lange Besetzer-Tradition in Hamburg verweisen – Haynstraße, Schröderstift, Hafenstraße, Feuerwache Billstedt, Passagen an der Wohlwill- und Bernstorffstraße, Flora, Gängeviertel, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Aber heute heißt es: Hausbesetzung ist gut – Bürgerbeteiligung ist besser. Denn die will ganze Quartiere nachhaltiger beeinflussen, mehr Menschen einbeziehen, eigene Experten hinzuziehen, mit Behörden und Unternehmen direkt verhandeln – wenn nötig lange und mit harten Bandagen,
Ein Ponyhof sind Bürgerbeteiligungen nämlich nicht. Auch bei den Verhandlungen um das 6190 Quadratmeter große Esso-Areal hat es hinter den Kulissen gehörig geknirscht, ist von Beteiligten zu erfahren. Rebellische Stadtteilaktivisten und den bayerischen Baukonzern an einen Tisch zu zwingen, war jedenfalls ein Wagnis, dessen Ausgang niemand absehen konnte. Nicht nur die „Planbude“ als Organ der Bürgerbeteiligung musste Kompromisse eingehen und zum Beispiel ein Hotel hinnehmen; auch die Bayerische Hausbau musste einiges schlucken, auf Eigentumswohnungen ganz verzichten und einen Anteil von 60 Prozent geförderter Wohnungen zusagen. Er sei dafür in München nicht „mit Konfetti beworfen und mit Fanfaren begrüßt“ worden, sagte Hausbau-Sprecher Bernhard Taubenberger hinterher. Baudezernent Bodo Hafke soll zwischen den Kontrahenten immer wieder mit messianischer Geduld vermittelt haben.
Bezirk-Mitte-Chef Andy Grote meint: „Das Wagnis hat sich gelohnt“
Auch der Politik gab das bisher umfangreichste Beteiligungsmodell einiges zu schlucken. Bezirk-Mitte-Chef Andy Grote ließ sich darauf ein, weil auf St. Pauli nach Klobürsten-Demonstrationen und nachfolgendem Gefahrengebiet ein Langzeit-Unruheherd drohte. Die Bürgerbefragungen, Workshops, Lego-Bau- und Knetaktionen der „Planbude“ auf St. Pauli ließen sich Stadt und Bezirk bisher knapp unter 100.000 Euro kosten. „Das Wagnis hat sich gelohnt“, sagte Grote. Jetzt wird es noch mal spannend beim Architektenwettbewerb.
Anderen Kommunalpolitikern entlockt „Bürgerbeteiligung“ ein gequältes Lächeln. Das heißt nämlich, zusätzlich Abende lang in zugigen Schulklassen herumzusitzen und sich mit Anwohnern über Parkplatzmanagement, Fahrradwege oder Baumfällverbote zu streiten. Dagegen sein kann man ja nicht gut. Aber insgeheim nervt es. Man ist ja schließlich gewählt worden, und plötzlich ploppen überall Leute auf, die mit Lärmgutachten, Online-Petitionen oder Facebook-Aktionen wedeln, noch bevor man in der Fraktionssitzung „Huch!“ sagen kann. Zu viel Bürgerbeteiligung könnte die Selbstentmachtung der Parlamente beschleunigen, befürchten einige.
Nur: Hamburgs Bezirke sind für sich genommen schon Großstädte (Mitte: rund 279.000, Wandsbek rund 409.000 Einwohner), deren Abgeordnete sich nicht überall auskennen und an einigen Quartieren glatt vorbei entscheiden können. Wenn es um ihren Kiez geht, geben sich die Bürger aber nicht mehr zufrieden mit der paternalistischen Planung von oben nach dem Motto „Wir wissen, was gut für euch ist“. „In unseren Stadtentwicklungsdialogen stoße ich immer wieder auf Menschen mit einem enormen Alltagsexpertenwissen“, sagt Julian Petrin von der Plattform „Nexthamburg“. Menschen, die problematische Veränderungen vor Ort beobachten, würden anders planen als Verwaltungsbeamte.
Ihr Wissen nicht zu nutzen, wäre fahrlässig.