Hamburg . Er legte den Grundstein für die Olympiabewerbung. Trotz schwerer Krankheit engagiert Beyer sich weiter für seine Vision.

Wieder über das Wasser gleiten, angetrieben nur von der eigenen Muskelkraft. Oft hat er davon geträumt auf der Krebsstation im UKE, als er nach einer schweren Chemotherapie vier Wochen wie in Quarantäne leben musste. „Ich war so geschwächt, dass ich kaum etwas lesen konnte“, sagt Thomas Beyer, 62, und schaut auf die Alster zu den Ruderern. Genau an diesem Steg der Ruder-Gesellschaft Hansa an der Schönen Aussicht war er über Jahre dreimal pro Woche gegen sechs Uhr ins Boot gestiegen, um sich zehn Kilometer in die Riemen zu legen. Erst der Tumor stoppte seine Leidenschaft.

Sein schon immer asketisches Gesicht ist noch schmaler geworden, der rote Pulli schlackert über den Schultern. „Ja, ich bin klapperdürr geworden“, sagt er und zieht die helle Schirmmütze noch tiefer über die hohe Stirn zum Schutz gegen die Sonnenstrahlen, die sich an diesem Morgen den Weg durch die dichte Wolkendecke brechen.

Kaum ein anderes gesundheitliches Schicksal hat die Hamburger Sportszene so bewegt wie der Leidensweg Beyers. Für viele ist Beyer der wichtigste Netzwerker im Sport der Metropolregion. Langjähriger Chef des Hochschulsports, Sprecher der Spitzensportvereine, Macher der Universiade-Bewerbung, Mit-Erfinder der Dekadenstrategie für den Hamburger Sport, Leiter des Sportamts – mehr geht kaum. Vor allem hatte Beyer mit seinem Vertrauten Christian Hinzpeter die Idee für den Olympiaempfang nach den Londoner Spielen 2012, als die Athleten bei strahlendem Sonnenschein auf der MS „Deutschland“ in den Hafen schipperten. „Der Grundstein für Hamburgs erfolgreiche nationale Bewerbung um Olympische und Paralympische Spiele“, sagt Innen- und Sportsenator Michael Neumann. Wohl keiner bedauert das Ausscheiden Beyers so sehr wie er. Ausgerechnet jetzt, ausgerechnet in der heißen Phase der Olympiabewerbung, musste Neumann seinen Netzwerker aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand schicken.

Beyers Traum von der Universiade zerschellte an der Kostendiskussion

Der Auflösungsvertrag, der in dürren Worten „das Ende des Arbeitsverhältnisses wegen der Beantragung einer Rente für schwerbehinderte Menschen“ dokumentiert, liegt auf der Vitrine im Wohnzimmer. Für den Besuch der Reporter in seiner Altbauwohnung auf der Uhlenhorst hat Beyer Erdbeerkuchen gekauft. Sein Stück wird er in den folgenden 90 Minuten nicht anrühren, so sehr nimmt ihn der Streifzug durch sein Leben gefangen.

Fast wäre dies schon als kleines Kind tragisch geendet. Ein LKW überfuhr den damals Fünfjährigen am Wiesendamm in Barmbek, als der unbedingt einer flügellahmen Amsel hinterher spurten wollte. „Da habe ich wahnsinniges Glück gehabt“, sagt Beyer. Ärzte retten sein Leben – und auch das mehrfach gebrochene linke Bein. Nur an Fußballspielen war fortan an nicht mehr zu denken, zu sehr schmerzte das malträtierte Knie bei jedem Schuss.

„So wurde ich zum Marathonmann“, sagt Beyer. Laufen wurde seine Passion. Als Sportstudent trainierte er Jahre später Langstreckenläufer. Beim Friedenslauf 1987 von Flensburg bis zur Zugspitze rannte Beyer drei Wochen jeden Tag 50 bis 60 Kilometer – Marathonarbeit im Akkord.

Vielleicht hat ihn genau diese Schinderei auf dem Asphalt für das Bohren dicker Bretter im Büro prädestiniert. Dem damaligen Uni-Präsidenten Peter Fischer-Appelt stieg er 1979 bei einer akademischen Senatssitzung sogar auf den Tisch im Kampf um 100.000 Mark für den Hochschulsport. Es war die Geburtsstunde des Breitensports an der Uni – als er 2008 nach fast 30 Jahren vom Hochschulsport in die Leitung der Universiade-Bewerbung wechselte, war aus einer anfangs belächelten Hobbytruppe eine Massenbewegung geworden.

Und dann also die Universiade, die Studentenspiele, das größte Sportereignis der Welt nach den Olympischen Spielen. Beyer gönnt sich einen Schluck Tee, kerzengerade richtet sich sein Oberkörper in dem roten Sessel auf. „Stellen Sie sich bitte vor, jetzt wäre hier in Hamburg die Eröffnungsfeier. Was hätte das für einen Schub für die Olympiabewerbung bedeutet!“ Stattdessen stieg die große Studentenparty am gestrigen Freitag im südkoreanischen Gwangju, der Universiade-Traum wurde für Beyer zum Trauma.

Dabei hatte der Netzwerker mit Erfolg an allen Strippen gezogen, das Konzept des Studentendorfs mit mobilen Holzhäusern auf dem Heiligengeistfeld – anschließend sollten sie in Entwicklungsländer verschifft werden – galt als innovativ, der Zuschlag für Hamburg als fast sicher. Doch die Bewerbung zerschellte auch an den explodierenden Kosten der Elbphilharmonie, der damalige Bürgermeister Ole von Beust wollte sparen. Beyers erste Reaktion? „Ich habe laut ,Scheiße‘ geschrien.“

Kontrollierter Abbruch statt Feinschliff war fortan der Auftrag. „Ich musste alles daran setzen, den Schaden für den Ruf der Sportstadt Hamburg zu begrenzen“, sagt Beyer. Sportfunktionäre können nachtragend sein, schrecklich nachtragend. Beyer machte auch diesen Job offenbar gut. So gut jedenfalls, dass er zum Chef des Sportamts aufstieg – der Marsch durch die Institutionen schien perfekt.

Von seiner schweren Krankheit wussten nur Eingeweihte. Es war Heiligabend 2011, ein Sonnabend, als Beyer der Magen schmerzte. Die Notaufnahme schickte ihn mit einem Abführmittel nach Hause. Nein, nichts Ernstes, Herr Beyer, nur eine Verstopfung. Der nach dem Fest konsultierte Hausarzt untersuchte gründlicher und tastete ein Geschwür im Bauchraum. „Herr Beyer“ sagte er, „da ist etwas, was Ihr Leben verändern wird“.

Fortan erlebte Beyer das Schicksal vieler Krebspatienten. Kleine Siege, große Rückschläge. Nach der schweren Operation stürzte sich Beyer voller Elan in seinen neuen Job als Sportamtschef, „ich war schließlich immer ein Workaholic“. Doch der Tumor schlug zurück, es folgten Bestrahlungen, Chemotherapien, schließlich die Knochenmarkspende. „Vorher“, sagt Beyer, „musste mein Immunsystem über eine besonders harte Chemo platt gemacht werden.“ Besuchen durften ihn in dieser Zeit nur seine Frau und seine Tochter, Überdruck im Zimmer sollte jeden potenziell tödlichen Keim herausfiltern. 40 Tabletten musste Thomas Beyer täglich gegen Abstoßungsreaktionen schlucken, er hat jetzt die Blutgruppe des Spenders. Doch ob der Tumor wirklich ausgeschaltet ist, weiß niemand.

Die Krankheit hat den ewig Rastlosen entschleunigt und entspannt

„Wenn die Therapie angeschlagen hat, habe ich, wie die Ärzte sagen, wieder eine offene Lebenssituation“, sagt Beyer. Und wenn nicht? „Nun, sterben müssen wir alle. Bei mir wird es dann allerdings eher früher sein.“ Dass er den Weg überhaupt bis hierhin noch gehen konnte, schreibt er vor allem seiner einst so guten Konstitution zu: „Meinen Krebssport habe ich vor meiner Krankheit gemacht.“ Umso mehr nervt es ihn, den Marathonmann, dass er jetzt schon nach ein paar Treppen aus der Puste ist. Aber das muss ja nicht so bleiben. Sein Rudertrainer, längst ein guter Freund, hat ihm schon prophezeit: „Thomas, das kriegen wir hin. Wir gehen wieder aufs Wasser.“

Viele Schwerst-Krebskranke zerbrechen am ständigen Balanceakt zwischen Leben und Tod. Auch Beyer hat sich verändert, alles andere wäre ja auch ein Wunder. Doch die Krankheit hat den ewig Rastlosen, der schon als Student bei einem Schulpraktikum erkannte, dass er mangels Geduld zum Lehrer nicht taugt, entschleunigt. „Thomas ist ruhiger geworden“, bestätigt sein Weggefährte Christian Hinzpeter, „Ich genieße den Luxus, dass ich mir meine Gesprächspartner jetzt aussuchen kann“, sagt Beyer. Der Netzwerker wurde zum Nestwerker. Er hat seine Jazzrockplatten aus dem Keller geholt, genießt die Sonnenstunden im Garten mit Blick auf den Hofwegkanal.

Dennoch lässt ihn der olympische Traum nicht los. Vor allem die Paralympics sind sein Ding – was übrigens nichts damit zu tun hat, dass er nun selbst einen Schwerbehinderten-Ausweis hat. Schon vor Jahren schrieb er einen Brandbrief an die Jury der Hamburger Sportgala, schimpfte, dass Behinderte bei der Wahl zum „Sportler des Jahres“ unterrepräsentiert seien. Jeden Tag ärgert er sich über die Treppe vor seinem Haus, „diese in Beton gegossene Barriere“, die ihn darin hindere, Freunde, die im Rollstuhl sitzen, öfter einzuladen.

Der Marathonmann wird weiter kämpfen, wenn die Krankheit ihn denn lässt. Für Feuer und Flamme, für die Ringe. „Als tattriger Funktionär im Kuchenblock 2024 die Eröffnungsfeier erleben, das wäre scharf“, sagt er. Und wenn der Krebs am Ende doch stärker sein sollte? „Dann hoffe ich, dass ich auf einer rosa Wolke zuschauen darf.“