Kann das gut gehen? Als passionierter Segler das Revier zu wechseln und das Meer gegen einen Fluss einzutauschen?

Nach 14 Sommern ließ ich mich auf ein höchst zweifelhaftes Tauschgeschäft ein: Blau gegen Braun. Durchsichtig gegen undurchsichtig. Weit gegen schmal. Kimm gegen Ufer. Kleine Häfen gegen große Stadt. Meer gegen Fluss. Kurzum: Nach 14 Segelsommern auf der Ostsee musste ich mich mit meinem Boot mal eine Saison auf der Elbe rumtreiben. Auf diesem Strom durch Hamburg, wo ich Verpflichtungen eingegangen war, die eine angemessene Segelzeit auf der Ostsee ausschlossen. Auf diesem stark betuckerten Tidentümpel, der einem beim Segeln keine einzige blau gefärbte Welle schenkt. Der stattdessen in allen Matsch- und Modderfarben zwischen heranrückenden Ufern quer durch Norddeutschland fließt, vorbei an Atomkraftwerken, Flugzeugfabriken und Containerbergen. Jede halbwegs vernünftige Seglerseele hätte mich für verrückt erklären müssen. Schon der Hafen: Hamburg-Finkenwerder, mein Liegeplatz für diesen Sommer. Ein hervorragender Hafen, keine Frage, aber ein Ort der Vernunft, nicht nur geografisch weit entfernt von den Kleinodien, wie sie die dänische Südsee aufzuweisen hat.

Das erste Wochenende blieb ich an Bord. Schnappte am Montagmorgen meine Sachen und begab mich ins Büro, in dem ich diesen Sommer gelegentlich weilen würde. Es war Anfang Mai. Der erste Vorteil meines fragwürdigen Tauschhandels wurde mir bereits neun Stunden später klar: Ich hatte nach dem Büro einfach wieder die Fähre auf die südliche Elbseite genommen, war fünf Minuten mit dem alten Klapprad unterwegs und saß nun wieder an Bord. Fuhr noch mal eben raus, zwei Stunden Segeln. Trank ein Bier, während das Boot und ich gemütlich querab Blankenese kreuzten. Brise im Gesicht, klatschendes Kabbelwasser vorm Bug.

Die Kollegen standen jetzt vermutlich irgendwo im Supermarkt, trafen sich in irgendeiner Stadtbar oder hockten zu Hause auf dem Sofa. Interessant, dachte ich, so ein Fluss vor der Haustür. Als Erstes schenkte er mir, womit ich gar nicht gerechnet hatte: Zeit. Genauer gesagt: Bordzeit, Segelzeit. Vom Büro aufs Boot in wenigen Minuten – das war rekordverdächtig. Kann nicht jede Stadt. Hamburg kann’s.

Der nächste Rekord hatte ebenfalls mit Geschwindigkeit zu tun, und er pustete mich schnurstracks Richtung Nordsee. Ein schöner Tag im Mai, strammer Wind aus Ost, dazu ablaufend Wasser. Mit satten zehn Knoten flog das alte Holzboot dahin, das kennt die alte Dame sonst gar nicht. Die Elbe half ordentlich nach, schob, ja trieb uns geradezu durch die Landschaften.

Im Osten, achteraus, thronten nach dem Verlassen des City-Sportboothafens noch die Elbphilharmonie, der Michel, da standen die backsteinernen Häuser und alten Speicher. Ich sah die Landungsbrücken und ein schneeweißes Kreuzfahrtschiff, die Docks von Blohm + Voss, die Containerterminals. Großes Hafenkino, während ich mit meinem Schiffchen mittendurch flog.

Die Airbus-Werke lagen bald im Süden, die fertig lackierten Leitwerke einiger A380 glänzten in der Sonne. Rechts zogen schneeweiße Hanseatenvillen vorüber, versteckt im Grün. Das Blankeneser Treppenviertel hockte lustig in den Hügeln, vertrieb aber bald achteraus. Schön sieht es von der Wasserperspektive aus, verwinkelt, putzig, alt und ein bisschen schief.

Wie viele kleine Villa Kunterbunts lümmeln sich die Häuschen an Hamburgs nahem Rand. Ich sah Strände. Menschen, die badeten oder im Sand joggten oder im Sand knutschten. Neben mir 350-Meter-Frachter, die zu den Terminals wollten. Schlepper, Schuten, Bugsierer. Über mir kreisten Wolken an Möwen, während das Boot nach Westen schoss. Die Ufer ­glitten vorbei, als würde ein Kulissenschieber sich voll ins Zeug legen. So hatte ich Hamburg noch nie erlebt. Mit dem Segelboot auf der Elbe, man sah die Stadt von außen und war doch mittendrin. Eine Postkarte nach der nächsten hätte man schießen können; genau die, die in den Souvenirläden die Ständer füllen.

Mit Macht spülte uns die Ebbe ­weiter nach Westen. Die Elbe wurde bald leerer, die Ufer grüner, die Welt weiter. Mit elf Knoten glitt das Boot am Neßsand vorbei, eine Insel aus Gras, Bäumen und Sand. Zwei Kajakfahrer hatten ihre Boote auf den Strand gezogen, saßen nahe am Matschrand und guckten in den Sommer. Kein Mensch sonst. Schilf bog sich, große Pappeln, dichtes Grün, Wurzeln und Gestrüpp. Das war Mississippi, Wildnis. Huck-Finn-Land, gerade mal ein paar Kilometer vom Stadtgetöse entfernt.

Das konnte die Ostsee in der Tat nicht – einem so viele Eindrücke vor den Bug schmeißen, so schnell wechselnde Szenarien. Auf diesem Fluss ­lagen Stadtgeflüster und Natur Seite an Seite, man merkte es eben nur dann, wenn man hier mal mit dem Boot unterwegs war. Hinterm Neßsand ankerte eine Yacht, einsam und allein. Ein Segelschiff im Flussfrieden, umflossen vom Strom, ein Bild von unvermuteter Exotik.

Wir flogen an Wedel vorbei, am ­Lühesand, am Pagensand. Die Bänke hoben sich schon aus den sinkenden Fluten, zerfurchter Morast, der silbrig in der Sonne schimmerte. Tausende Vögel hockten darin, und ich konnte ihr Konzert hören. Ein gewaltiges Kreischen. Wir passierten Stade, hielten stramm auf Brunsbüttel und St. Margareten zu. Danach kenterte die Tide, aber die Mündung gab schon den Blick auf die offene Nordsee frei. Großes Meer spreizte sich vor dem Stag, da ging es immer weiter raus. Nach England, nach Amerika. Sonst­wohin. Der Elbe steckt das im Blut. Sie fühlt sich an wie ein Förderband in die weite Welt. Wie viele Pötte sind hier über die Jahrhunderte schon gekommen und gegangen? Die frühen Koggen, die Teeklipper, die Auswandererschiffe, die Afrikafrachter, die Bananendampfer, die alten Ewer. Russische U-Boote sind hier schon eingelaufen, Flugzeugträger, die „Queen Mary“ als Stammgast.

Die Elbe ist Seefahrtsgeschichte. Hier mit seinem eigenen Segelbötchen mal langzufahren weckt seltsam erhebende Gefühle. Es gibt einen Punkt, an dem der Segler kurz nostalgisch wird. Und auf einmal ziehen alle Schiffe aller Zeiten vor seinem geistigen Auge dahin. Wirst ganz klein dabei. Die Elbe, diese Lebensader, die Ozean und Menschenwelt verbindet, schenkte dem Boot und mir einen herrlichen Sommer. Wir ankerten in der Stör, hinter der Brammerbank, schmissen uns in den Matsch einer freigelegten Schlickbank und ließen uns an einer Schwimmleine in der Strömung treiben. Badehose, Wasser um 24 Grad. Fuhren die Oste tief hinein, bis ein winzig kleiner Anleger kam. Kein Mensch dort, nur Schilf und Weiden und ein paar schlaue Kühe, die sich ein schönes Leben machten. Weitab von allem im norddeutschen Idyll, seelenruhig ins Gras beißend.

Mit einem Seehund Auge in Auge: Allein dafür hatte sich die Elbsaison gelohnt

Im stillen und wunderbar unaufgeregten Wischhafener Yachtverein lag ich an einem langen, im Wasser tanzenden Anleger, direkt neben einer Koppel. Spätabends waren sechs Pferde mein Geleit, ganz nah kamen sie heran, als ich bald noch rauchend an Deck unterm Mond saß und die Nacht genoss. Ich konnte sie atmen hören, die Pferde, das Pusten durch die Nüstern. Im Dwarsloch fiel bald der Anker. Da, dachte ich, war ich auf einmal im Dschungel gelandet. Meterhohes Schilf, Farne, Gestrüpp. Hätte keinen gewundert, wenn hier auch noch Affen durch die dichten Bäume geturnt wären. Wilde Elbe. Und man musste ja gar nicht weit fahren, um die laute, nüchterne Millionenstadt gegen wahrlich verwunschene Ufer zu tauschen. Leise war es dort, in all den Seitenarmen und Nebenflüssen. Nur Vögel und Wasser, und dein Boot mittendrin.

Vor der Ostemündung fiel der Blick schon auf die offene Nordsee. Es war um Niedrigwasser herum, und ich brauchte eine Pause vor Anker. Ich schwamm mit Flossen rüber zur Sandbank, wo die kleinen Wellen brachen. Zwanzig Robben lagen da vielleicht hundert Meter von mir entfernt und sonnten sich in perfekter Muße. Das konnte selbst die Ostsee nicht: so nah die Seehunde zu präsentieren, ihren grauen Pelz, die kugelrunden Köpfe, die lustigen Barthaare.

Sie gähnten gelangweilt, die Hunde der See, einige von ihnen zuckelten ins Wasser. Beim Schwimmen zurück zum Boot, schräg zur Strömung kraulend, zeigte sich plötzlich ein grauer Kopf neben mir. Ich blickte dem Seehund mitten in die Augen, er blickte mir in die Augen. Für eine Sekunde dachte ich, er hätte sich in mich verknallt. Er kam auf mich zu.

Dieser Moment mit dem Seehund im sommerwarmen Wasser, Seite an Seite, Auge in Auge: Allein dafür hatte sich diese gesamte Elbsaison gelohnt. Aber es gab auch äußerst profane ­Gründe, den Fluss am Ende ziemlich zu mögen. An einem nahezu tropisch warmen Augusttag lag ich wieder mal im City-Sportboothafen – mitten in der Stadt, im Herzen Hamburgs. Die Elbphilharmonie hinter mir, zum Steine­schmeißen nah. Verlagshäuser vor meiner Nase, Geschäfte, Restaurants, Fischläden, Bars. Passanten flanierten, Touristen und eisschmatzende Kinder, derweil ich auf meinem Boot saß. Logenplatz sozusagen, dümpelnd am Steg.

Ich rief spontan ein paar Freunde an. Ob sie nicht mal aufs Boot kommen wollten – war ja so oft schon geplant. Ich hörte die üblichen Antworten, die ewigen Ausreden. „Würde ja gern. Aber nee, sorry. Keine Zeit, bin in der Stadt, hab zu tun, komme hier nicht weg.“ Ich lehnte im Niedergang, nahm einen Schluck Bier. Und sagte: „Ich bin auch in der Stadt. Ihr müsst nur die U-Bahn nehmen bis Baumwall. Und schon ­können wir segeln.“ So geschah es: Wir fuhren mit erhabenem Gefühl auf den Strom hinaus und flanierten auf der ­Elbe durch die Stadt, sahen sie, wie wir sie noch nie gesehen hatten. Ja, es war ein guter Tausch.