Hamburg. Der Widerstand gegen Generalstaatsanwalt Lutz von Selle im Fall Gysi ist ein einmaliger Vorgang – und hat eine lange Vorgeschichte.

Generalstaatsanwalt Lutz von Selle, von seinen Mitarbeitern so respekt- wie angstvoll der „General“ genannt, hatte seine Behörde bisher fest im Griff. Das mag auch oder vor allem an seinem straffen Führungsstil liegen, über den das Abendblatt bereits ausführlich berichtet hatte. Kritik? Äußern Staatsanwälte an von Selle nur hinter vorgehaltener Hand.

Doch jetzt sorgt ein Eklat innerhalb der Behörde bundesweit für Schlagzeilen: Ein Dezernent weigert sich, trotz gegenteiliger Weisung des „Generals“, Linken-Fraktionschef Gregor Gysi wegen falscher eidesstattlicher Versicherung anzuklagen. Dabei erhält er nach Abendblatt-Informationen Rückendeckung seines Hauptabteilungsleiters – und auch von Behördenleiter Ewald Brandt, der sich damit gegen von Selle stellt. Brandt ist Chef der Staatsanwaltschaft, die formal von der Generalstaatsanwaltschaft getrennt ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat aber die Dienstaufsicht über die Staatsanwaltschaft und damit bestimmte Weisungsrechte.

Lutz von Selle hat den Ruf eines Hardliners und Pedanten

In der Behörde gilt die Weigerung eines Dezernenten gegen eine Weisung des „Generals“ als „sehr ungewöhnlicher Vorgang“, wie es ein Staatsanwalt formuliert. Allerdings ist auch von mehreren Anklägern zu hören, dass man „schon längst mal“ dem autoritären Führungsstil von Selles hätte etwas entgegensetzen müssen.

Der Fall Gysi liegt jetzt in der Behörde von Justizsenator Till Steffen – der Grüne hatte von Selle 2009 zum Generalstaatsanwalt berufen. Zuletzt hatte Steffen vor drei Wochen im Abendblatt-Interview seinen Generalstaatsanwalt in Schutz genommen.

Auslöser des Streits ist ein Ermittlungsverfahren gegen Gregor Gysi. Dem Linken-Politiker wird vorgeworfen, vor vier Jahren vor dem Hamburger Zivilgericht eine falsche eidesstattliche Versicherung im Zusammenhang mit seinen möglichen Stasi-Kontakten abgegeben zu haben. Neue Erkenntnisse und die Strafanzeige eines pensionierten Richters sorgten dafür, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft Ende 2012 Ermittlungen gegen Gysi einleitete, wegen des Verdachts der „falschen eidesstattlichen Versicherung“. Hier droht bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe.

Nach Abendblatt-Informationen hatte der „General“ die Causa Gysi zur Chefsache gemacht und sich wieder und wieder in der Sache von seinen Staatsanwälten Rapport erstatten lassen. Am Ende sah der zuständige Staatsanwalt keinen „hinreichenden Tatverdacht“, wollte deshalb nicht anklagen und schrieb entsprechend einen Bescheid, dass der Fall eingestellt werden solle. Dies wurde von seinen Vorgesetzten gebilligt, so auch von Behördenleiter Brandt. Doch von Selle entschied, dass sehr wohl Anklage erhoben werden müsse, zudem setzte er nach Informationen dieser Zeitung eine Frist, binnen derer dies zu geschehen habe. Seine Weisung habe er „wenig argumentativ“ begründet, heißt es aus Behördenkreisen, sondern „eher abwertend“. In der Folge „remonstrierte“ der Dezernent die Weisung von Selles, wie es im Fachjargon heißt, sprich: Der Vorgang wird zur Chefsache des Justizsenators.

Ob die Weisung von Selles rechtmäßig ist oder nicht, muss nun die Fachabteilung in der Justizbehörde überprüfen. Doch am Ende entscheidet Steffen. Weil solche „Remonstrationen“ extrem selten sind, müsse die Abteilung erst klären, wie so ein Verfahren überhaupt abzulaufen hat, sagt ein Behördensprecher. Wie es heißt, könnte von Selle jetzt vom sogenannten Devolutionsrecht Gebrauch machen, die Sache also komplett an sich ziehen und selber Anklage erheben.

Schon jetzt hat der „Justiz-Skandal“ in Deutschland für Furore gesorgt. Der Vorgang „blamiert die Hamburger Justiz bis auf die Knochen“, schreibt etwa die Frankfurter Rundschau. Sie habe „augenscheinlich nicht bloß Angst vor einem klaren Votum in die eine oder die andere Richtung. Sie ist auch in sich zerstritten und damit, man kann es nicht anders sagen, unfähig.“

Hinzu kommt: Nie zuvor hat ein Beamter von Selle derart die Stirn geboten. Noch nicht einmal „förmliche Beschwerden von Bediensteten der Staatsanwaltschaften“ seien bei der Justizbehörde bisher eingegangen. Dabei gilt der 63-Jährige als Pedant und Hardliner. Einer, der sich selbst bei Verfahren wegen geringer Verstöße gegen eine Einstellung stellt. Der nicht nur einmal seine Staatsanwälte kompromittiert haben soll.

Der Generalstaatsanwalt geht wohl in eineinhalb Jahren in den Ruhestand

So kritisierte er über den Gesamtverteiler der Staatsanwaltschaft heftig die Entscheidung eines Dezernenten, in einem Wirtschaftsverfahren einer vom Richter empfohlenen Einstellung des Verfahrens zuzustimmen – das kommt einem „Abwatschen“ vor versammelter Mannschaft gleich. Nicht wenige Staatsanwälte empfanden dies als „unangemessene Maßregelung“. Die Befürchtung: Junge Beamte könnten sich einschüchtern lassen – mit der Folge, dass sie aus Furcht vor Repressalien ihre Anträge im vorauseilenden Gehorsam stellen. Steffens Vorgängerin Jana Schiedek (SPD) hatte von Selle bereits zu „mehr Konzilianz“ angehalten. Der 63-Jährige könnte am 30. November 2016 in Ruhestand gehen. Von Plänen des „Generals“, über das Datum hinaus im Amt bleiben zu wollen, ist laut Justizbehörde „nichts bekannt“.