Hamburg. Wer sind die Menschen, die in die Hansestadt flüchten? Heute: Der Schneider aus Aleppo. Majd ist seit fünf Monaten in Hamburg.

Majd, 26, kommt mit dem Fahrrad aus dem Containerdorf an der Schnackenburgallee zur Kleiderkammer der Luthergemeinde in der Regerstraße in Bahrenfeld. Der junge Mann mit dem dichten schwarzen Haar, das er glatt nach hinten gekämmt hat, trägt Jeans, Turnschuhe und Kapuzenpulli. Auf seinem Rücken hat er einen kleinen Rucksack. Sein Blick sagt, dass die Erinnerungen, die er mit sich trägt, viel schwerer wiegen.

Majd ist seit fünf Monaten in Hamburg. Mit seinen Gedanken aber ist er Tag und Nacht in Aleppo. Bei seiner Mutter, seinem Vater und seinen vier Brüdern. Sie kämpfen dort jeden Tag ums Überleben.

Diese umkämpfte Stadt im Norden Syriens, erzählt er, hatte einmal knapp drei Millionen Einwohner. 2006 erhielt Aleppo als erster Ort die Bezeichnung Kulturhauptstadt des Islam. Majd glaubt, dass dort jetzt vielleicht noch eine Million Menschen ausharren. Sie werden jeden Tag bombardiert und beschossen. Aleppo, die zweitgrößte Stadt in Syrien, ist zweigeteilt. Eine Seite wird von den Regierungstruppen kon­trolliert, die andere von den Rebellen. Es gibt jeden Tag Tote und Verletzte. Wer kann, der flieht. Für die Kinder und die Alten ist es am schwierigsten, der Hölle zu entkommen.

Majd erlebte den Krieg hautnah, er flüchtete übers Mittelmeer nach Europa

Als Majd sich entschlossen hat, alles, was er hatte, zurückzulassen, stand Aleppo bereits in Flammen. Er sollte in die Armee und das Assad-Regime unterstützen, welches mit Bomben und Gas gegen das eigene Volk vorging. Majd ist Moslem. „Ich töte keine Menschen“, sagt er.

Majd schaffte es von Aleppo nach Damaskus. Die weiteren Stationen seiner abenteuerlichen Flucht waren Algier und Libyen. Von dort ging es mit einem kleinen Boot nach Italien. „Auf dem Schiff waren drei Babys, zwölf Frauen und vielleicht 200 Männer.“ Über Ascona und Mailand kam er mit dem Zug nach Hamburg.

Bei der Ausländerbehörde hat Majd vor vier Monaten einen Antrag auf Asyl gestellt. Er bekam erst einmal eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate. Im März wurde sie für weitere drei Monate verlängert.

Majd ist Schneider. Er möchte in Hamburg in seinem erlernten Beruf arbeiten. Er versteht nicht recht, warum er das nicht darf. Als Sozialarbeiter ins Containerdorf an der Schnackenburgallee kamen und dort Flyer verteilten, auf denen Mitarbeiter für die Kleiderkammer an der Regerstraße gesucht wurden, ist er dort hingegangen. Er wollte irgendetwas tun, um dem Warten zu entkommen.

An der Regerstraße steht ein 200 Quadratmeter großer Container. Auf diesem Gelände, das der Kirche gehört, war bis vor Kurzem eine Gärtnerei. Im Winter wurden hier Tannenbäume verkauft. Jetzt betreibt die Kirchengemeinde auch dank der Förderung durch die Behörde hier eine Kleiderkammer. Ein Projekt, das bundesweit Vorbildcharakter hat. Denn Ehrenamtliche und Flüchtlinge arbeiten hier Hand in Hand. Sortieren Schuhe und Mäntel, T-Shirts und Hosen, Kleider und Pullover, Spielsachen und Süßigkeiten. Majd kommt dreimal in der Woche für fünf, sechs Stunden und packt mit an.

„Er ist immer freundlich und hilfsbereit“, sagt Bettina Buhr, 46, die von Anfang an dabei ist. „Er sieht sofort, wenn eine Frau zu schwere Kartons schleppen muss und nimmt die Sache selbst in die Hand.“

Majd spricht kein Englisch und lernt seit Kurzem einmal in der Woche zusammen mit einem Dutzend Flüchtlingen aus aller Welt Deutsch. „Es ist noch schwer, sich mit ihm zu verständigen“, sagt Bettina Buhr. „Aber ich brauche eigentlich nur die Hände und die Augen, um sagen zu können, dass er ein herzensguter Mensch ist.“

Neulich hat Majd ihre kaputte Handtasche wieder zusammengenäht. Sie hat ihn spontan in den Arm genommen und auf die Wange geküsst. „Da hat er sich ganz schön verjagt“, sagt Bettina Buhr und lacht.

Wenn man Majd nach der Zukunft fragt, übersetzt sein Freund Mohammed, der aus der syrischen Hafenstadt Latakia kommt und ebenfalls auf abenteuerlichen Wegen dem Bürgerkrieg entkommen konnte, Sätze wie: „Ich werde Deutsch lernen und hier Arbeit finden.“ Oder: „Ich werde meiner Familie Geld schicken, damit sie auch hierherkommen kann.“ Und: „Syrien ist am Ende, und die Bevölkerung kann nichts tun. Gar nichts, nur sterben.“

In Syrien spielen sich unfassbare Verbrechen ab, auch an Kindern

Sie erzählen, dass Kriminelle in ihrem Land Kinder entführen und sie töten. Dass sie ihnen Augen oder Organe entnehmen und diese dann verkaufen. Tatsächlich häufen sich die Berichte vom lukrativen Handel mit Organen in Syrien. Sie zeigen Videos auf ihrem Handy von verletzten, weinenden, mal stummen, mal schreienden und auch von getöteten kleinen Kindern in Aleppo, die fast täglich Opfer von Bombenangriffen werden. Sie nennen Internetseiten, auf denen man das Grauen jeden Tag aufs Neue nachlesen und verfolgen kann.

Es werde immer gefährlicher, dort zu bleiben. Und es werde immer teurer, das Land zu verlassen. „Die Flucht von Syrien nach Europa kostet inzwischen 7000 oder 8000 Dollar pro Person“, sagt Mohammed.

So oft wie möglich telefoniert Majd mit seiner Familie. Um zu erfahren, ob seine Eltern und seine Brüder noch leben. Und um ihnen zu sagen, dass es ihm gut geht in seiner knapp sechs Quadratmeter großen Unterkunft. Einem Container mit drei Betten zwischen der Autobahn und der Müllverbrennungsanlage in Stellingen, den er sich mit seinem Onkel und seiner Tante teilt.

Mehr als 1000 Asylbewerber leben hier hinter Zäunen, kontrolliert von einem Sicherheitsdienst. Die Gegenwart hat nicht viel zu bieten für Majd. Aber hier muss er nicht um sein Leben fürchten. Und alles ist besser, als die Vergangenheit.

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