Mit dem Rückkauf der Roten Flora will Bürgermeister Olaf Scholz ein potenzielles Wahlkampfthema beseitigen. Die Ironie der Geschichte: Scholz hat sich die Suppe, die er jetzt auslöffeln muss, selbst eingebrockt.
Altona. Manchmal wiederholt Geschichte sich doch. Der gestern besiegelte „Rückkauf“ des linksalternativen Kulturzentrums „Rote Flora“ erinnert an die Ereignisse um die Hamburger Hafenstraße Ende der 80er-Jahre. Heute wie damals lässt der Senat sich in letzter Instanz auf einen Handel mit Besetzern einer Immobilie ein. Die Kosten für den Deal muss die Allgemeinheit übernehmen.
Bürgermeister Olaf Scholz und seine Sozialdemokraten ziehen mit ihrer Entscheidung dreieinhalb Monate vor der Bürgerschaftswahl am 15. Februar 2015 die Reißleine. Zu groß dürfte die Sorge in der SPD gewesen sein, dass von der Roten Flora ausgehende Proteste die Partei in die Bredouille bringen könnte. Außerdem signalisiert Scholz mit dem Rückkauf Entscheidungsstärke und Durchsetzungskraft.
Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass Scholz sich die Suppe, die er jetzt auslöffeln muss, vor fast 14 Jahren selbst eingebrockt hat. Als aufstrebender Star am sozialdemokratischen Himmel ist der Politiker Landeschef seiner Partei, als der rot-grüne Senat im März 2001 die Rote Flora für rund 189.000 Euro an den Immobilienkaufmann Klausmartin Kretschmer verkauft.
Zu diesem Zeitpunkt hat die Flora eine bewegte Geschichte hinter sich. Im Jahr 1888 hatten die Kaufleute Theodor Mutzenbecher und Lerch an Stelle des Tivolis das Gesellschafts- und Concerthaus Flora errichtet und am 2. Juni 1889 eröffnet. Rasch wurde der Gebäudekomplex zu einem Ort des Amüsements. Zu jener Zeit galt das Schanzenviertel durchaus als gutbürgerlich.
Die Flora bot Gesellschaftsräume, einen Konzertsaal, ein Wiener Café und einen Wintergarten, also Räumlichkeiten, die Privatgesellschaften genauso anzogen wie öffentliches Publikum. Selbst einige Mietwohnungen und Unterkünfte für das Dienstpersonal gab es. 1890 wurde das Gebäudeensemble um einen Konzertsaal erweitert.
Die Flora reüssierte im Verlaufe der Zeit immer wieder als Ort des Vergnügens, sei es als Theater, Varieté und Kino. Doch der Niedergang ließ sich nicht aufhalten. Als Garagenhalle wurden Teile des Grundstücks genutzt und als Möbellager.
Als Ende der 1980er-Jahre Pläne aufkommen, die Flora zu einem Musical-Theater umzubauen, wehren sich Anwohner, Gewerbetreibende und autonome Gruppen. Sie haben Sorge, dass der Stadtteil aufgewertet und die Mieten für Ottonormalverbraucher unbezahlbar werden.
Die Stadt schlägt vor, in dem Gebäude ein Stadtteilzentrum einzurichten. Doch die Idee scheitert, als autonome Gruppe am 1. November 1989 die Flora für besetzt erklären. Das Gebäude wird fortan als kultureller und politischer Treffpunkt genutzt. Förderung gibt es nicht, dafür eine Form von Duldung durch die Behörden. In regelmäßigen Abständen wird jedoch mit einer Räumung gedroht.
Die Nachricht über den Verkauf der Roten Flora an Kretschmer kommt Anfang 2001 zwar überraschend, scheint aber aus Sicht vieler Sozialdemokraten nur folgerichtig. Ortwin Runde führt den ersten rot-grünen Senat und beide Parteien sind einander in herzlicher Abneigung verbunden. Ihr Problem: Wenige Monate vor der für September 2001 geplanten Bürgerschaftswahl stehen sie gehörig unter Druck.
Der Grund: 1998 hatten zwei jugendliche Intensivtäter den Kioskinhaber Willi Dabelstein ermordet. Unter Rot-Grün gilt seinerzeit die Maxime, Jugendliche, die jünger als 16 Jahre alt sind und gegen Gesetze verstoßen haben, nicht in Untersuchungshaft unterzubringen. Doch mit der Gewalttat entwickelt sich das Problem der inneren Sicherheit zu einem der wichtigsten politischen Themen in Hamburg.
Vor allem die Sozialdemokraten, die in Hamburg seit gut 40 Jahren ununterbrochen regieren und in Ermangelung einer ernsthaften bürgerlichen Konkurrenz auch für Recht und Ordnung stehen, verlieren an Zustimmung unter den Wählern. Diese wenden sich in Scharen Ronald Barnabas Schill und seiner neu gegründeten Partei zu.
Schill attackiert denn auch im Wahlkampf mit großer Intensivität die Zustände um die Rote Flora und trifft damit den Nerv seines Publikums. Schließlich gehört die Rote-Flora-Immobilie der Stadt. Der rot-grüne Senat sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, er dulde im Schanzenviertel einen rechtsfreien Raum, während einfache Parksünder Strafzettel erhalten.
In den Herbstmonaten des Jahres 2000 versucht Rot-Grün zu retten, was zu retten ist, und verhandelt mit den Besetzern der Roten Flora zum wiederholten Mal über einen Nutzungsvertrag. Die Autonomen lehnen jedoch nach kontroversen internen Debatten das Vertragsangebot der Stadt ab. Bürgermeister Runde und SPD-Landeschef Scholz ziehen daraufhin ihre letzte Option und verkaufen die Rote Flora.
Allerdings ist der Verkauf von Anfang an ein politisch-taktisches Manöver und dient allein dem Ziel, das für die Sozialdemokraten heikle Thema aus dem heraufziehenden Bürgerschaftswahlkampf heraus und die SPD an der Macht zu halten. So gilt der Kaufpreis von (umgerechnet) 189.000 Euro für ein Grundstück in so lukrativer Lage schon damals als ausgesprochen günstig.
Zudem muss Klausmartin Kretschmer beim Kauf zusichern, dass er am am Status der Roten Flora nichts ändern wird und weder Grundstück noch Gebäude ohne Zustimmung des Senats weiterverkauft. Für alle Beteiligten, auch den autonomen Gruppen, scheint der Deal daher eine gute Idee. Schließlich beschreibt Kretschmer sich damals selbst gern als Kulturinvestor und sagt sogar zu Investitionen zu.
Eigentlicher Gewinner des Verkaufs sollten später jedoch ausgerechnet jene Parteien werden, die nach der Bürgerschaftswahl das erste bürgerliche Regierungsbündnis in Hamburg seit 40 Jahren bilden: Union, FDP und Schill-Partei. Formal gesehen herrscht mit dem neuen Besitzer jetzt Recht und Ordnung und alle drei Regierungspartner sind klug genug, das heiße Eisen Rote Flora nicht anzufassen.
Zudem prägt eine in der Geschichte Altonas wurzelnde Toleranz die Kommunalpolitik in dem Bezirk. So beteiligen sich selbst christdemokratische Bezirkspolitiker in der Folgezeit an Überlegungen für einen Bebauungsplan, der dem Kulturzentrum Bestandsschutz garantiert. Als Kretschmer die Möglichkeit eines Verkaufes der Roten Flora andeutet, legt der Bezirk fest, dass die Einrichtung dauerhaft kommunal genutzt werden müsse.
Hinzu kommt, dass im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende Anwohner vermehrt die Rote Flora als „Bollwerk“ gegen eine schleichende Aufwertung des Viertels betrachten. Sie sorgen sich vor steigenden Mieten und Vertreibung. In der Tat scheint in jener Zeit in den Straßen unweit der Roten Flora kein Stein auf dem anderen zu bleiben. Viele Hausbesitzer sanieren die geräumigen Wohnungen. Der Umbau des Schulterblatts macht die Gegend attraktiv. Sie verliert ihr Schmuddelimage und zieht – vor allem in den Abendstunden im Sommer – Touristen und junge Menschen an.
In den Jahren der wechselnden bürgerlichen Koalition bleibt es verhältnismäßig ruhig. Erst in den vergangenen Jahren tritt die Rote Flora wiederholt als Ausgangspunkt für Krawalle in Erscheinung. Immer wieder geraten Demonstranten und Polizei aneinander und es kommt, zumeist um den 1. Mai oder um das Schanzenfeste im September, zu gewalttätigen Ausschreitungen.
2013 eskaliert die Situation. Kretschmer vermietet im August an Gert Baer, im Oktober werden Pläne über den Bau eines sechsstöckiges Kulturzentrums bekannt. Im Dezember 2013 stellt Kretschmer den Besetzern ein Ultimatum. Sie sollen die Rote Flora bis zum 20. Dezember räumen oder monatlich 25.000 Euro Miete zahlen.
Eine Demonstration am 21. Dezember 2013, auf der der Erhalt der Roten Flora gefordert wird, schlägt rasch in gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei um. Längst ist die Auseinandersetzung international. Aktivisten aus mehreren Bundesländern und dem europäischen Ausland beteiligen sich.
Die Situation ist verfahren. Im Januar 2014 erklärt Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) öffentlich die Bereitschaft der Stadt, die Rote Flora zu einem Preis von 1,1 Millionen Euro zurückzukaufen. Kretschmer und sein Berater lehnen das Angebot ab und drohen mit baulichen Veränderungen. Umbauten müssen aber inzwischen durch das Bezirksamt Altona abgesegnet werden.
Als dann Kretschmar im Frühjahr Insolvenz anmeldet, verhandelt die Stadt mit dem Insolvenzverwalter Nils Weiland über einen Rückkauf. Gestern nun einigte man sich auf einen Kaufpreis von 820.000 Euro. Die Stadt macht damit einen Verlust von 630.000 Euro. Aber politisch streicht der Senat wohl einen Gewinn ein.