Teil 2: Wenn der Klang von Freiheit aus dem Kofferradio kommt. Abendblatt-Redakteur Egbert Nießler, geboren im thüringischen Treffurt, über ein Leben in der DDR voller Zwänge und Kontrollen.
Tacktack tacktack tack, tacktack tacktack tack – mein persönlicher Abfall vom Glauben an den Sozialismus begann mit einer rhythmisch geschlagenen Kuhglocke. Gefolgt von einem offenen G-Dur-Akkord. Ich stand mit meinem Freund Fred vor unserer Dorfkneipe und presste das kleine Kofferradio an mein Ohr. Seit ich an jenem Sommernachmittag 1970 das erste Mal „Honky Tonk Women“ von den Rolling Stones auf Radio Luxemburg gehört hatte, war ich infiziert.
Da schepperte etwas in einem schaukelnd-lässigen Rhythmus in meinen Bauch und in mein Hirn, das so ganz anders war als Ordnung, Uniform, Gleichschritt, Schule und Fahnenappell. Genosse Ulbricht hatte völlig Recht mit seiner Warnung vor dem monotonen Yeah, Yeah, Yeah und dem, was da sonst noch an Subversivem aus dem Äther herüberkam. Vom Text verstand ich zwar kein Wort, aber ich spürte, so will ich sein. Ich war erst elf Jahre alt. Aber unsere kleine, allseits kontrollierte Welt begann, mir zu eng zu werden.
Dabei kannte ich gar nichts anderes. Meine erste Erinnerung an den Stacheldraht rührt von einem Sonntagnachmittag her, an dem Familien diesseits und jenseits des Grenzzaunes Blinkzeichen mit Spiegeln gaben und sich zuwinkten. Der älteste Sohn unserer Nachbarn war einige Wochen zuvor durch die Werra von Thüringen nach Hessen geschwommen und stand nun ungefähr 500 Meter entfernt – in einer anderen Welt. Ich bekam ein Fernglas vor die Augen gehalten (durch das ich nichts erkennen konnte) und winkte ebenfalls. Hinter mir war das kleine Krankenhaus von Treffurt, in dem mein Großvater gerade im Sterben lag und in dem ich gut drei Jahre zuvor geboren wurde. Auch damals gab es den Zaun schon. Das Ende unserer Welt lag gleich hinter dem Ortsausgangsschild.
Der persönliche Fernblick endete am höchsten Berg der Umgebung
Praktisch zumindest. Theoretisch gab es ja das Radio und bald auch das Fernsehen. Und weil der Empfang vom Hohen Meißner in Hessen her viel besser war als der des DDR-Fernsehens vom Inselsberg im Thüringer Wald aus, schaute in unserem Dorf keiner, der es nicht dienstlich musste, Ost-TV. Es gab außer der Empfangsqualität wohl auch noch andere Gründe. Und es gab Bücher, die von fernen Ländern und Abenteuern erzählten. Und eine zwar weltanschaulich geprägte Schulbildung, in der die Geografie aber nicht an den Grenzen des sozialistischen Lagers haltmachte und so das Verlangen nach dem Anschauen der Welt weckte.
Der persönliche Fernblick endete allerdings schon am Heldrastein, dem höchsten Berg in der Umgebung. Selbst der war schon unerreichbar, denn genau über sein Gipfelplateau verlief die innerdeutsche Grenze. Auch andere Bergrücken waren für Normalsterbliche gesperrt, weil man von ihnen aus die Grenzanlagen und ein Stück des Westens gut einsehen konnte. So blieben schon die Namen der benachbarten Orte wie Wanfried oder Heldra gesichtslose Begriffe. Von einem Internet samt Google-Streetview hat damals noch niemand zu träumen gewagt.
Aus kompensatorischen Gründen begann ich, Landkarten und Atlanten wie Romane zu verschlingen und ging auf Stadtplänen ferner, unerreichbarer Metropolen spazieren. Mein Erdkundelehrer hat mich später in Topografie nicht mehr geprüft, weil ich die Halbinsel Mangyschlak, das Fergana-Becken oder den Oberlauf des Orinoco fast mit verbundenen Augen gefunden hätte. Er suchte sich lieber leichtere Opfer. Noch heute sitze ich im Flugzeug am liebsten am Fenster, um mein theoretisches Wissen mit der unten vorbeiziehenden Erdoberfläche abzugleichen.
An Flugreisen in die Ferne war in meiner Jugend nicht zu denken. Und schon der Nahverkehr hatte seine Tücken. Das DDR-Grenzgebiet konnte nur mit besonderer Genehmigung betreten werden. Die Bewohner bekamen einen besonderen Stempel in den Personalausweis, der ursprünglich in jedem Quartal, ab Mitte der 70er-Jahre nur noch einmal im Jahr verlängert werden musste. Alle anderen brauchten einen Passierschein, der quasi wie ein innerostzonales Visum beantragt werden konnte. Dafür mussten bestimmte Gründe vorliegen, familiäre meistens. Zum Beispiel habe ich mich mit meiner damaligen Freundin verlobt. Verlobte durften sich besuchen, und ich wollte ihr gern mein Heimatdorf zeigen. Später, nach meinem Militärdienst und kurz vor Beginn meines Studiums in Leipzig, haben wir im zarten Alter von 20 und 21 Jahren geheiratet. Wir waren jung und brauchten eine eigene Wohnung. Anders war diese nicht zu bekommen. Vermutlich war auch Liebe im Spiel, denn wir sind immer noch zusammen. Danke dafür, DDR!
Das Leben im Grenzgebiet - schützend und lästig zugleich
Das Leben im Grenzgebiet schützte zwar vor unerwartetem und ungebetenem Besuch, war aber auch lästig. Die Zufahrtsstraßen waren mit Schlagbäumen abgesichert. Jeder Ausweis wurde kontrolliert. Immer, auch wenn mich der Polizist von Geburt an kannte. Der Stempel war auch nur für das jeweilige Kreisgebiet gültig. Als unsere Familie sich ein Moped der Marke Schwalbe leisten konnte, satte 3,4 PS aus 50 Kubikzentimeter Hubraum und aus mir unerfindlichen Gründen noch heute irgendwie Kult im Westen, verfuhr sich mein älterer Bruder Karl-Heinz mit mir auf dem Rücksitz ins benachbarte Mühlhäuser Territorium. Er musste für eine gute halbe Stunde zur peinlichen Befragung in die Wachstube am Schlagbaum, ich durfte draußen warten. Nach eindringlicher Ermahnung konnten wir den Rückzug antreten.
Kontrollen gab es nicht nur in unmittelbarer Grenznähe. Alle Züge, die in Richtung Westen rollten, wurden von der Transportpolizei inspiziert. Wer einen Grenzgebietsstempel im Ausweis hatte, war jetzt im Vorteil. Alle anderen mussten erklären, woher, wohin und warum. Und wenn das in den Ohren der dunkelblau uniformierten „Trapos“ nicht schlüssig klang, konnte der Ausflug in einer Arrestzelle enden. Meinem Armeekumpel Andreas aus Saalfeld widerfuhr das. Er wollte mich besuchen, als meine Eltern bereits nach Eisenach gezogen waren. Das lag zwar außerhalb des Grenzgebiets, sodass ich mittlerweile auch einen Passierschein beantragen musste, wenn ich etwa die Gräber meiner Großeltern besuchen wollte – aber eben nahe dran.
Und junge Männer waren immer verdächtig, besonders, wenn sie lange Haare, zerrissene Jeans und grüne Parkas trugen. Mein persönlicher Rekord liegt bei drei Stopps durch die Volkspolizei auf dem knappen Kilometer vom Eisenacher Bahnhof bis zum Markt. „Bürger, können Sie sich ausweisen“, war meist die Frage. „Muss man das jetzt auch schon selber machen“ lautete ein Witz, nachdem der Arbeiter- und Bauernstaat immer mehr Kritiker und Intellektuelle ausbürgerte.
Etwas mehr Freiheit verhieß mein Studienort Leipzig. Die Sachsenmetropole war Drehscheibe des Ost-West-Handels, hatte sich für Ostverhältnisse einen erstaunlichen Rest an Weltläufigkeit bewahrt und sollte vom Vatikan zur heiligen Stadt erklärt werden: zweimal im Jahr eine Messe und dazwischen Fastenzeit. Immerhin kamen während der Frühjahrs- und Herbstmessen Tausende Ausländer in die Stadt. Nicht jeder Kontakt konnte da unterbunden werden. Und es gab die vielleicht größte Dichte an internationalen Gaststätten: ukrainisch, bulgarisch, tschechisch, rumänisch, vietnamesisch, später im Hotel Merkur sogar japanisch und italienisch. Nicht immer auf höchstem Niveau – aber wenigstens nicht nur Rotkraut und Schweinefleisch. Und es gab Studenten aus Afrika.
„Die Supermärkte im Westen, Wahnsinn“
Mit denen traf ich mich regelmäßig im Café Windmühle am Bayerischen Platz, im Schnittpunkt von Studentenwohnheim und unserer damaligen Behausung. Mit denen konnte ich mein Schulenglisch am Leben erhalten und verbessern. Wir plauderten über ihre Heimat – Tansania, Somalia oder Namibia, damals noch südafrikanisch besetzt. Ich glaube, sie konnten nicht immer verstehen, wenn ich über das Leben in der DDR klagte. Immerhin hatten wir zu essen, ein Dach über dem Kopf, mussten nicht frieren, und in Europa herrschte Frieden – wenn auch unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Afrikanern muss das alles ganz kommod vorgekommen sein, zumal der Staat ihnen ihr Studium ermöglichte. Mir wiederum erschien wichtiger, dass sie einmal weit weg von zu Hause waren. Das wäre ich damals auch gern gewesen.
Um das Leben in der Fremde leichter zu machen, hatte eine Bekannte, die am Leipziger Herder-Institut arbeitete, eine tolle Idee. Hier lernten die Neuankömmlinge aus der Dritten Welt Deutsch, bevor sie ihr reguläres Studium aufnahmen. „Wie wäre es, wenn wir eine Art Patensystem einrichten?“, fragte sie uns und einige andere. Sie plante ein kleines Netzwerk von Einheimischen, die in Fragen des Alltags oder an Wochenenden bei akuten Heimwehanfällen helfen könnten. Eingebracht hat ihr das keinen Orden, sondern einen Rüffel von der Stasi. Kontakte außerhalb der offiziellen Wege waren nicht erwünscht. Auch nicht mit befreundeten Ausländern.
Nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 war für uns nur noch die Tschechoslowakei visafrei erreichbar. Und selbst dort hatte man bei den Grenzkontrollen immer ein schlechtes Gewissen, obwohl die Papiere in Ordnung und nichts Verbotenes, wie etwa Devisen, im Gepäck waren. Gleichzeitig wurden die Reisemöglichkeiten in den Westen erweitert. Nicht mehr nur Rentner, sondern auch Jüngere konnten vermehrt Verwandte ersten Grades und größere Familienfeiern besuchen. Ich erinnere mich gut daran, wie ein Kollege zurückkam, eigentlich ein überzeugter Genosse – bis dahin. „Egbert, das kannst du dir nicht vorstellen“, hat er erzählt. „Die Supermärkte, Wahnsinn, und selbst die Feldwege sind asphaltiert!“
Parallel zu den Fassaden der Leipziger Häuser bröckelte derweil die des Sozialismus. Nach den betrogenen Kommunalwahlen im Frühjahr 1989, den Botschaftsbesetzungen und den ersten Massenfluchten stieg der Druck im Kessel DDR immer weiter. Besonders auch in Leipzig, wo Umweltsünden und Vernachlässigung durch die Berliner Parteiführung die Menschen besonders aufbrachten. Mein Freund Oli und ich beratschlagten bei unseren wöchentlichen Bierabenden, ob wir wirklich die letzten Deppen sein wollten, die hier das Licht ausmachen würden. Unsere Frauen hielten uns zurück. Wir gingen lieber gemeinsam auf die Montagsdemonstrationen. „Visafrei bis Hawaii“ war nur eine der vielen originellen Parolen. Aber eine, die mir besonders gut gefiel.
Im Jahr darauf, am 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, war es dann endlich soweit. Tacktack tacktack tack, tacktack tacktack tack – die Stones spielten in Berlin-Weißensee ...
Die Serie im Überblick:
Teil 1: Eine Liebe in Zeiten der Stasi
Teil 2: Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs
Teil 3: Jugendaustausch mit dem Klassenfeind
Teil 4: Eine Hochzeit im Niedergang
Teil 5: Reise in einen zerfallenden Staat
Teil 6: Die Nächte von Leipzig
Teil 7: Mauerfall im Münsterland
Teil 8: Per Daumen durch die Zone
Teil 9: Meine erste Banane war eine Ananas
Teil 10: Das glücklichste Volk der Welt
Teil 11: Mehr Demokratie wagen