Teil 1: Udo Lindenberg besang einst das Mädchen aus Ostberlin. Abendblatt-Redakteur Peter Wenig verliebte sich in eine Frau „von drüben“. Seine Geschichte ist der Auftakt einer Serie zum Mauerfall.
Stell dir vor, du kommst nach Ostberlin, und da triffst du ein ganz heißes Mädchen, so ein ganz heißes Mädchen aus Pankow, und du findest sie sehr bedeutend, und sie dich auch.
(Udo Lindenberg, „Mädchen aus Ostberlin“)
Ab und an spielen sie dieses Lied noch im Radio. Mehr als 40 Jahre ist es alt, geschrieben hat es Udo Lindenberg Anfang der 1970er, als er sich auf der Friedrichstraße in Ostberlin unsterblich in ein Mädchen namens Manuela verliebt hatte. Schon beim ersten Treffen wurde sie schwanger, Lindenberg schmiedete mit Fluchthelfern Pläne, sie rauszuholen. Doch beim nächsten Besuch in Ostberlin, Udo hatte den Verlobungsring in der Tasche, wartete statt Manuela die Stasi. Die große Liebe zerschellte an der Mauer. „Ich habe wirklich geglaubt, dass es für mich nie wieder eine andere Frau geben könnte“, hat er in seiner Autobiografie geschrieben.
Im Gegensatz zu Lindenberg mag ich weder Zigarren noch Eierlikör. Doch eines haben Udo und ich gemeinsam: eine Liebe in Zeiten der deutschen Teilung. Auch wenn mein Mädchen nicht aus Ostberlin, sondern aus Halberstadt kam, einem beschaulichen Städtchen in der Nähe von Magdeburg.
Meine Geschichte beginnt im Sommer 1984
Meine Geschichte beginnt im Sommer 1984 in Ungarn am Strand des Plattensees, in diesen Zeiten Urlaubsziel vieler DDR-Bürger. An einem lauen Sommerabend lernte ich ein Mädchen namens Birgit kennen. Sie war solo unterwegs. Was ich überaus charmant fand. Und sie auch. Denn ihr Freund, ein libyscher Gaststudent in der DDR namens Red, sei chronisch eifersüchtig, schlage sie auch schon mal. Eigentlich ein Arschloch, aber sie komme einfach nicht von ihm los.
Die gemeinsamen Tage am Balaton waren schön, die Trennung tat weh. Ein paar Wochen später hellte ein Brief mit einer Honecker-Briefmarke meinen Alltag zwischen Journalistik-Vorlesungen und dem Job bei der Stadionzeitung von Borussia Dortmund auf. Es sei doch sehr schön gewesen am Balaton. Ob ich nicht mal nach Halberstadt kommen könnte. Am besten bald. Denn der gute Red sei auf einem langen Heimaturlaub. Weit weg, in Libyen.
Dieser Brief sollte mein Leben verändern.
Ein paar Wochen später – das Visum für vier Tage hatte Birgit beim Rat des Kreises für mich beantragt – tuckerte ich mit meinem himmelblauen Audi 50 gen Grenzübergang Marienborn. Scheinwerfer und Stacheldraht wirkten martialisch, die Grenzer aber relativ entspannt. Der Zwangsumtausch von 100 Westmark gegen 100 Ostmark schmerzte, aber schien in Anbetracht der zu erwartenden schönen Stunden dann doch lohnend. Ein schlechtes Gewissen wegen Red hatte ich nicht die Spur, gewalttätige Typen waren mir immer zuwider.
Meine Vorfreude konnte auch die Fahrt durch die öde Innenstadt von Halberstadt, zerbombt 1945 in den letzten Kriegstagen, nicht dämpfen. Und Birgits Vorschlag, zunächst mal mit ihrer Clique was trinken zu gehen, war angesichts beiderseitiger Verlegenheit okay. Alle waren in meinem Alter, und zumindest die Jungs brennend interessiert an jedem Detail zu Borussia Dortmund. Und spätestens beim dritten unerhört günstigen Bier fand ich die DDR im Vergleich zu den Schilderungen in den alten Schulbüchern gar nicht mehr so schlimm. Mitten in der Diskussion über Dortmunder Stürmersorgen verstummte indes die Runde. „Was macht denn der Red hier“, sagte einer am Tisch. Ich fragte noch entspannt: „Red, welcher Red?“
Als ich schließlich schaltete, war ich mit einem Schlag stocknüchtern. Der Libyer war entschieden früher als geplant zurückgekehrt und stand nun an unserem Tisch, sehr breitschultrig, sehr muskulös, sehr böse. Und die Situation wurde nicht besser, als Birgit mich als Cousin von drüben ausgab. „Wie heißen Sie?“, fragte Red barsch. Ich deklinierte in Sekundenbruchteilen meine Optionen durch. Logis in einem Hotel? Spontan für einen Bürger der BRD wohl ausgeschlossen. Mit deutlich mehr als einem Promille durch die Nacht zurück zum Grenzübergang? Das war eine genauso schlechte Idee wie ein Eilantrag auf politisches Asyl. Nina (*), eine Freundin von Birgit am Tisch, löste die peinliche Situation schließlich auf: „Wenn du willst, kannst du heute Nacht bei uns schlafen.“
Zwei Jahre lang Pendler zwischen den Welten
Die Retterin wurde mein Mädchen aus Halberstadt. Groß, dunkelhaarig, schön, klug, meine Traumfrau.
Zwei Jahre lang wurde ich zum Pendler zwischen den Welten. Jeden Urlaubstag sparte ich für die Besuche in sechswöchigen Abständen, inzwischen aus Düsseldorf, wo ich als Sportredakteur bei der „Neuen Rhein Zeitung“ arbeitete. Fünf Wochen Fußball, Eishockey, Handball, dann wieder 420 Kilometer nach Halberstadt, Bananen, Konserven und Klamotten im Kofferraum, den grauen „Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums“, ausgestellt vom „Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik“ im Handschuhfach. Visumsstempel im Reisepass, Zwangsumtausch in der Bank, Anmeldung bei der Volkspolizei – ich wurde ein professioneller Grenzgänger. Glück hatte ich mit den Eltern meiner Freundin, keine verbohrten Parteigänger, sondern liebenswerte Leute, die mich akzeptierten, obwohl sie genau wussten, dass das Regime zwar scharf auf Devisen war, aber ansonsten allergisch gegen Westkontakte.
Nina wohnte noch zu Hause, wie fast alle jungen Leute ohne Kind in der DDR, ihr Antrag auf eine eigene Wohnung vergilbte beim Rat des Kreises. Ab und an fuhren wir in den Harz, nach Wernigerode, nach Quedlinburg oder Ostberlin. Die Hauptstadt der DDR war dann genauso öde und grau, wie ich es von einem Kurzbesuch bei einer Klassenreise 1980 in Erinnerung hatte. Der Ku’damm, die Gedächtniskirche, das KaDeWe waren nur ein paar Straßen entfernt und doch unerreichbar. Im Hotel schlug man uns den Wunsch nach einem Doppelzimmer entrüstet ab, der Mann an der Rezeption spuckte die Wörter „Bürger der BRD“ bei der Zuweisung von zwei kastenförmigen Einzelzimmern geradezu aus.
Zurück im Westen dann wieder das Warten auf die Anrufe – jeden Mittwoch um acht Uhr abends durfte meine Freundin den Anschluss einer Nachbarin nutzen, die zu den wenigen glücklichen privaten Telefon-Besitzerinnen in Halberstadt gehörte. Es dauerte oft Stunden, bis das nervige Tut-tut-tut-Besetztzeichen endlich einer freien Leitung wich. Zwischendurch Briefe, lange Briefe, intime Briefe. In Kopie habe ich sie alle, der Stasi sei Dank. Ich fand sie in meiner Akte, die ich Anfang der 90er-Jahre anforderte. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass jeder meiner sorgsam zugeklebten Umschläge von einem der 2200 Angestellten der Stasi-Abteilung M (Postkontrolle) geöffnet wurde. Die Stasi hatte eigens eine Maschine entwickelt, die Briefe unter Dampf öffnete und nach dem Kopieren des Inhalts wieder automatisch verleimte. Bei der Spionage gegen das eigene Volk war das Regime erstaunlich fortschrittlich.
Damals wusste ich all dies nicht, im Gegenteil. Ich fand Ninas Eltern sogar etwas überspannt, wenn sie bei Gesprächen über Politik das Radio lauter drehten, die Stasi könnte ja das Haus verwanzt haben. Alles übertrieben, dachte ich, fand manche Grenzer sogar ganz nett. Wie naiv ich war, las ich später in meiner Stasi-Akte. Minutiös hatten die Beamten jedes Detail aus den Gesprächen protokolliert und in die volkseigene Schreibmaschine gehackt. Über meine Arbeit („unterhält Kontakte zu anderen Journalisten“), über Halberstadt („Die Stadt gefällt ihm nicht so gut“), über die Liebe („Die Reise soll der Festigung ihrer Beziehungen dienen“). Jeder Bericht schloss mit einer persönlichen Einschätzung. „Genannter war in der Lage sich flüssig zu unterhalten.“ Oder: „Person modern u. sauber gekleidet.“ Oder: „Person trat während der Kontrolle und Abfertigung höflich und korrekt in Erscheinung.“
Die Stasi war uns damals längst auf der Spur
Schon nach meinem dritten Besuch hatte Major K., amtlicher Leiter der Kreisdienststelle Halberstadt, einen „Rechercheauftrag“ gestellt („BRD-Person nimmt Kontakt zu einer weiblichen Person unseres Verantwortungsbereichs auf“) und die „Einleitung von koordinierenden politisch-operativen Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung einer negativen Beeinflussung bzw. Inspirierung zum Stellen von Übermittlungsersuchen“ angeordnet.
Die Stasi, sie war uns damals also längst auf der Spur.
Und in der Sache hatte der Major ja überaus recht. Uns war nach der ersten Phase des Verknalltseins völlig klar, dass ein zwölf Quadratmeter großes Kinderzimmer unterm Dach eines kleinen Siedlungshauses keine Perspektive für eine gemeinsame Zukunft sein konnte, vor allem angesichts des ständigen Bangens um das nächste Visum. Ich schrieb das Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen in Bonn an, bat um Rat. Die Antwort kam schnell. Ich möge eine auf DDR-Ausreisen spezialisierte Kanzlei in Westberlin konsultieren, alle Kosten übernehme die Bundesregierung. Das erste Telefonat war niederschmetternd. Die DDR würde Ausreise-Anträge von gut ausgebildeten jungen Leuten – meine Freundin arbeitete als Diplom-Ökonomin in einem Kombinat – fast immer ablehnen. Eigentlich gäbe es nur eine reelle Chance: eine Ausreise aus humanitären Gründen im Wege der Familienzusammenführung. Aber auch dieser Antrag sei riskant, Repressalien wahrscheinlich.
Sollte ich also den umgekehrten Weg gehen, rübermachen nach drüben? „Das kommt auf keinen Fall infrage“, sagte meine Freundin, „hier wirst du nicht glücklich. Vor allem nicht in deinem Job.“ Und in der Tat langweilte mich die „Magdeburger Volksstimme“ entsetzlich, auf dem Titel ständige Jubelzeilen über die „Plan-Übererfüllung im Dienste der sozialistischen Sache“, gefolgt von Gratulations-Adressen der Genossen aus sozialistischen Nachbarstaaten, endend mit dem triumphierenden Beifall ob der nächsten DDR-Goldmedaille im Sport. Nein, das konnte es nicht sein.
Also stellte meine Verlobte, dieses Versprechen hatten wir uns bei Broiler mit Sättigungsbeilage im Hotel Weißes Ross inzwischen gegeben, am 17. März 1987, eine Woche vor meinem 26. Geburtstag, beim Rat des Kreises, Abteilung Innere Angelegenheiten, den „Antrag auf Eheschließung mit einem Bürger der BRD mit anschließender Übersiedlung in die BRD“.
Jetzt konnten wir nicht mehr zurück. Am Arbeitsplatz meiner Verlobten vereiste die Atmosphäre. Der Kombinatschef nahm sie ins Gebet, forderte sie dringend auf, ihre Entscheidung zu überdenken. Ob sie denn wisse, wie viele gescheiterte Existenzen in der BRD obdachlos seien. Zudem müsse er sich angesichts ihrer Pläne sehr genau überlegen, ob er ihr überhaupt noch vertrauen könne. Ansonsten passierte – nichts. Eine vorsichtige Nachfrage beim Rat des Kreises nach drei Monaten blieb ergebnislos. Man prüfe, man müsse sich eben gedulden. Mein Westberliner Anwalt riet mir, hochrangige Politiker einzuschalten. Ein befreundeter Journalist, Landtagskorrespondent in Düsseldorf, bat Johannes Rau, damals Ministerpräsident von NRW, mein Anliegen beim nächsten Kontakt mit der DDR-Führung anzusprechen. Rau sagte sofort zu, erklärte aber auch, dass er eine Fülle ähnlicher Anfragen schon weitergegeben habe – ohne großen Erfolg. Das Regime drüben sei nun mal schwierig.
Immerhin bekam ich weiter Visa, keine Selbstverständlichkeit, sagte mein Anwalt. Doch die Zeit unbeschwerter Tage in Halberstadt war vorbei, beim Abschied schwang stets die Angst mit, ob wir uns überhaupt noch mal sehen könnten. Im Oktober 1987, der Antrag lag nunmehr ein halbes Jahr zur Bearbeitung beim Kreis, rief mein Chefredakteur an: „Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“ Er kenne aus alten Essener Zeiten die Ehefrau von Wolfgang Vogel, dem berühmten Anwalt, der seit Jahrzehnten im Auftrag beider Staaten den Freikauf von politischen DDR-Häftlingen abwickelt. Vogels Frau, auch so ein Treppenwitz der Geschichte, hatte ebenfalls der Liebe wegen die Seiten gewechselt. Allerdings in umgekehrter Richtung, aus dem Kohlenpott nach Ostberlin.
Vier Wochen später saß ich im Auto Richtung Ostberlin, im Handschuhfach lag diesmal neben meinem Reisepass eine Einladung zu einem Gespräch mit Wolfgang Vogel. Am Rande einer Veranstaltung habe er ein paar Minuten Zeit. An der Grenze wirkte dieser Brief wie ein Befehl von ganz oben. Die Grenzer begrüßten mich mit ausgesuchter Höflichkeit, verzichteten auf jede Kontrolle. Eigentlich fehlte nur noch, dass sie salutierten.
Wir durften heiraten
Ich meldete mich am Empfang des Hotels. Wolfgang Vogel kam ins Foyer, überflog meine Unterlagen. Über den Rand seiner Brille blickte er mich scharf an: „Ich muss das jetzt wissen, ist es wirklich Liebe oder was Politisches? Die Wahrheit, bitte.“ Ich kannte den Hintergrund seiner Frage, im Westen sorgten Scheinehen von Ausreisewilligen mit Fluchthelfern für Schlagzeilen. „Es ist Liebe, Herr Vogel“, sagte ich. Der Anwalt, der 1961 den legendären ersten Agentenaustausch des Kalten Krieges auf der Glienicker Brücke organisiert hatte, nickte nur: „Ich kümmere mich, Sie hören von uns“. Keine zwei Minuten dauerte das Gespräch. Drei Wochen später diktierte ein Oberstleutnant Pump, Leiter der Kreisdienststelle, die fünf entscheidenden Worte in die Akte meiner Verlobten: „Es liegen keine Versagungsgründe vor.“
Wir durften heiraten.
Den Termin setzte der Rat des Kreises: 15. Januar 1988. Der Beauftragte für Personenstandswesen, wie der Standesbeamte in der DDR hieß, war so klug, in seiner Rede auf die üblichen Preisungen des Sozialismus zu verzichten. Stattdessen ein paar Worte über die Liebe, dann Ringtausch, Brautkuss, eigentlich alles wie bei uns im Westen. Gefeiert wurde im Jugendklub, ein DJ legt Ostrock auf. Wir tanzten mit Karat über „Sieben Brücken“, grölten mit den Puhdys, dass „wir alt wie ein Baum“ werden möchten.
Nach einer kurzen Hochzeitsnacht im Kinderzimmer des kleinen Hauses in der Siedlung fuhr ich als verheirateter Mann zurück in den Westen. Meine Frau musste noch in Halberstadt bleiben, erst acht Wochen später kam die endgültige Genehmigung zur Ausreise nebst Papieren, die penibel auszufüllen waren. Jeden Strumpf, jedes Glas, vor allem jedes Buch – hier handelte es sich schließlich um „Kulturgüter der DDR“ – trug sie in lange Listen ein. An einem sonnigen April-Tag packten wir alles in einen gemieteten Transporter, es gab Tränen beim Abschied. Das Wiedersehen war ungewiss, mein Anwalt hatte mich gewarnt, dass niemand prognostizieren könne, ob es weiter Visa geben würde. Kurz vor dem Grenzübergang Marienborn wurde mir fast schlecht vor Aufregung. Doch die Grenzer studierten nur genau die Ausreisepapiere, warfen lediglich einen flüchtigen Blick in den Transporter. Jahre später konnte ich das Protokoll in meiner Stasi- Akte lesen, ausnahmsweise komplett in Kleinbuchstaben: „die ausreise erfolgte ohne vorkommnisse“, unterzeichnet von „zugführer sch., major.“
Die ersten Tage im Westen verfliegen wie im Rausch. Endlich kann ich meiner Frau Düsseldorf zeigen, den Rhein, die Altstadt, die Kö. Dazwischen Besuche bei meinen Eltern, bei Freunden. Der Wirt meines Stamm-Italieners schließt sie sofort in sein großes Herz, gibt uns fortan immer den besten Platz. Die Visa-Geschichte, denke ich, wird schon gut gehen, die wissen doch, wie dicke ich mit ihrem wichtigsten Anwalt bin. Und in der Tat gibt es für mich anstandslos wieder eine Einreisegenehmigung. Doch der Antrag für meine Frau wird abgelehnt. Sie darf nicht mehr in die Heimat.
Ich fahre also allein. Meine Schwiegermutter ist außer sich vor Wut und Trauer. Was die sich da oben eigentlich einbilden würden, dass sie ihr Kind nicht mehr sehen dürfe. Auch Nachbarn und Freunde schimpfen über die Partei-Bonzen, die so ein nettes Mädchen nicht mehr zu ihren Eltern lassen. Vor lauter Protz wüssten die da oben doch sowieso nicht mehr, wie es den Leuten im Arbeiter- und Bauernstaat wirklich gehe. Die miese Wohnungslage, der stete Mangel in den Geschäften, die verhasste Stasi. Und zum ersten Mal wird das Radio bei diesen Gesprächen nicht mehr auf volle Lautstärke gedreht. Sollen die doch mitkriegen, was die hier anrichten. Gerüchte kursieren, dass sich die Ausreiseanträge in der Abteilung des Innern inzwischen stapeln.
Bei uns daheim ist die Stimmung nicht besser. Ich arbeite viel, viel zu viel, vor allen an Wochenenden. Sportjournalisten-Leben. Wie einsam sich meine Frau fühlt, bekomme ich nicht wirklich mit. Oder will es vielleicht auch nicht merken. Auch beim Arbeitsamt nur Frust. „Ökonomin mit DDR-Ausbildung, das wird aber schwierig hier“, sagt der Sachbearbeiter ratlos. Im Angebot hatte er nur Aushilfsjobs im Büro. Die Melange aus Enttäuschung, sich im Westen beruflich wieder ganz hinten anstellen zu müssen, und Heimweh nach Halberstadt bohren sich in unsere Ehe. Ich schreibe Wolfgang Vogel, bitte um seine Hilfe für ein Einreisevisum. Zurück kommt ein Dreizeiler: „Ich kann in dieser Angelegenheit nichts mehr für Sie tun. Ihre Frau wusste, was sie tat.“
Ein Freund riet mir, es doch mal über den Grenzübergang Friedrichstraße in Westberlin zu versuchen. Das Tagesvisum würde sofort ausgestellt, ohne ganz genaue Prüfung. Wir meldeten den frischen Reisepass meiner Frau als gestohlen, versuchten mit dem neuen Exemplar noch eine Spur zu verwischen. Wir flogen nach Westberlin, um nicht schon auf der Transitstrecke aufzufallen. Die Schwiegereltern warteten mit Anhang schon in Ostberlin. Am Bahnhof Friedrichstraße ging bei mir alles glatt, Stempel, Zwangsumtausch. Bei meiner Frau dauerte es lange, zu lange. Aus den Augenwinkeln sah ich das hämische, triumphierende Grinsen des Grenzers. „Frau Wenig, Sie sind auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik nicht mehr erwünscht“, sagte er und schickte sie über einen Seitenausgang zurück in den Westen. Wohl noch nie habe ich einen Menschen so sehr gehasst wie diesen Mann in Uniform. Und so stapfte ich allein zum vereinbarten Treffpunkt und wusste spätestens jetzt, warum der Grenzübergang Friedrichstraße im Westen der „Bahnhof der Tränen“ genannt wurde. Mein Schwiegervater fasste sich als erster, sagte, dass wir uns dann eben in Prag treffen müssen. Zu den sozialistischen Brüdern dürfe man schließlich reisen. Wir machten einen Termin aus, das erste Wochenende im September 1989.
Michal Barda, Düsseldorfs tschechischer Handball-Nationaltorwart, der meine Liebesgeschichte kannte, organisierte ein Appartement für uns mitten in der Stadt. Angespannt verfolgten wir jeden Tag die Nachrichten, sahen in der Tagesschau, wie immer mehr DDR-Bürger in die Prager Botschaft flohen, dort campierten. Honecker tönte dennoch, dass die Mauer noch in „50 oder 100 Jahren“ stehen werde. Einen Tag vor der Abreise rief mich Barda an. „Peter, du hast ein Problem“, sagte er. Die DDR habe die Grenze zur Tschechoslowakei gerade dicht gemacht. Telefonisch war kein Durchkommen mehr nach Halberstadt möglich, aus dem Hörer tutete nur das Besetztzeichen. Aber wir fuhren dennoch in die Goldene Stadt, 730 Kilometer. Irgendwann erreichten wir von dort endlich meine Schwiegereltern. „Die haben uns an vor der Grenze zurückgeschickt, wir dürfen nicht mehr raus“, sagte meine Schwiegermutter am Telefon. Und heulte.
Wir schauten uns noch zwei Tage Prag an, konnten aber weder Karlsbrücke noch Wenzelsplatz wirklich genießen. In den kommenden Wochen überschlugen sich die Ereignisse im Osten, Honecker wurde entmachtet, Hunderttausende demonstrierten gegen das Regime. Am 9. November 1989 hatte ich Spätdienst in der Redaktion, sah im Fernsehen hupende Trabis auf den Weg in den Westen, gefeiert von Hunderttausenden. Meine Schwiegereltern kamen ein paar Tage später nach Düsseldorf – und wir konnten endlich den für unser geplantes Wiedersehen in Prag besorgten Sekt köpfen.
Wir hatten Glück
Hier könnte die Geschichte einer Liebe in Zeiten der Stasi zu Ende gehen. Vielleicht mit der Feier der Silberhochzeit im Januar 2013, womöglich mit dem ersten Enkelkind. Doch es gab kein Happy End. Die Liebe, die in einer Halberstädter Kneipe an einem Septembertag 1984 begann, endete am 1. August 1996 vor dem Düsseldorfer Familiengericht, wo wir unsere Scheidungspapiere unterschrieben. „Und dafür haben wir all die Jahre gekämpft“ sagte Nina, nunmehr meine Ex-Frau, traurig bei einem letzten gemeinsamen Kaffee. Woran es lag? Vielleicht an dem schweren Start im Westen, vielleicht an den schwierigen Grenz-Erfahrungen. Wahrscheinlich aber kannten wir uns einfach zu wenig, als wir entschieden, unseren innerdeutschen Weg zu gehen. 40 oder 50 gemeinsame Tage waren am Ende keine echte Basis, um sich Liebe in guten wie in schlechten Zeiten zu versprechen.
Und dennoch hatten wir Glück. Denn wir hätten auch einen ganz anderen Preis für unsere Ehe zahlen können. Die Historikerin Renate Hürtgen hat in ihrem Buch „Der lange Weg nach drüben“ akribisch die Schicksale von Ausreisewilligen dokumentiert. Allein 1986 saßen 34 Antragsteller aus Halberstadt im Knast, verurteilt in Schauprozessen wegen „landesverräterischer Agententätigkeit“ oder „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit.“ Darunter eine Frau, die sich in einen österreichischen Monteur verliebt hatte und 1984 sechs Monate nach ihrem Ausreiseantrag tagelang in der Untersuchungshaft in Magdeburg von der Stasi verhört wurde. Unter massivem Druck gab sie zu, dass sie sich bei der Ständigen Vertretung der BRD in Berlin nach Ausreisemöglichkeiten erkundigt hatte. Die Stasi-Schergen konstruierten daraus eine Anklage wegen „Verbreitung von Nachrichten zum Schaden der DDR im Ausland“. Verurteilt wurde sie zu zweieinhalb Jahren Haft, 1985 vorzeitig entlassen als gesundheitliches und nervliches Wrack.
Warum uns dies erspart blieb? Vielleicht, weil im letzten Moment Wolfgang Vogel die Akte an sich zog. Klären kann dies niemand mehr. Wolfgang Vogel starb 2008, ein Verlierer der Wiedervereinigung. Zwischenzeitlich wurde er festgenommen, der Bundesgerichtshof sprach ihn schließlich vom Vorwurf der Erpressung ausreisewilliger DDR-Bürger frei. Für die Stasi, das gab er vor Gericht zu, hatte er gearbeitet, alles andere hätte mich auch überrascht. Dankbar bin ich ihm dennoch für jene fünf Minuten in einem Hotel in Ostberlin 1987.
Mein Mädchen aus Halberstadt und ich sind dann doch noch glücklich geworden. Nicht zusammen, nein, sondern mit neuen Partnern, mit Kindern. Meine Ex-Frau im Rheinland, ich in Hamburg. Leben dürfen wir in einem großartigen Land, ohne Schießbefehl, ohne Selbstschussanlagen, ohne Mauer. Keine Stasi schnüffelt uns mehr nach. Und wenn sich unsere Kinder mal in Leipzig, Halle, Dresden oder eben Halberstadt verlieben sollten, müssen sie weder an Visa noch Ausreiseanträge denken. Allerdings werden sie auch nie verstehen, warum der Papa beim Hören eines Liedes von Udo Lindenberg immer sentimental wird.
(*) Namen geändert oder abgekürzt
„Mädchen aus Ostberlin, das war wirklich schwer, ich musste gehn, obwohl ich so gerne noch geblieben wär, doch ich komme wieder, und vielleicht geht's auch irgendwann mal ohne Nervereien, da muss doch auf die Dauer was zu machen sein!“
Die Serie im Überblick:
Teil 1: Eine Liebe in Zeiten der Stasi
Teil 2: Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs
Teil 3: Jugendaustausch mit dem Klassenfeind
Teil 4: Eine Hochzeit im Niedergang
Teil 5: Reise in einen zerfallenden Staat
Teil 6: Die Nächte von Leipzig
Teil 7: Mauerfall im Münsterland
Teil 8: Per Daumen durch die Zone
Teil 9: Meine erste Banane war eine Ananas
Teil 10: Das glücklichste Volk der Welt
Teil 11: Mehr Demokratie wagen