Der Leiter des Bezirksamts Hamburg-Mitte, Andy Grote (SPD), zeigt sich im Untersuchungsausschuss zum Tod der dreijährigen Yagmur selbstkritisch - und gibt sogar zu, Fehler gemacht zu haben.
Hamburg. Nach etwa 20 Minuten fielen die entscheidenden Worte: „Wir waren nicht dicht genug dran an dem Mädchen. Wir haben die Gefährdungssituation nicht richtig eingeschätzt“, antwortete Andy Grote (SPD) auf die Frage, was der gravierendste Fehler im Fall Yagmur war. Mit der Zeugenaussage des Bezirksamtsleiters von Hamburg-Mitte begann die erste Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zum gewaltsamen Tod des dreieinhalb Jahre alten Mädchens nach der Sommerpause.
Aus dieser Fehleinschätzung hätten sich weitere Fehler ergeben: Aussagen der Mutter seien nicht überprüft worden, man habe nicht nachgefasst und kein Protokoll angefertigt, als der Fall Yagmur vom Bezirk Eimsbüttel an den Bezirk Mitte übergeben wurde. Bei den Mitarbeitern des Jugendamts habe es Unsicherheit über die eigene Rolle in juristischen Verfahren gegeben, sagte Grote. Er sprach auch von „individuellen Fehlern“. Das Gros der Fehler sei aber in der „Praxis und in Organisationsproblemen“ zu suchen.
Grote musste sich unangenehme Fragen gefallen lassen
Bereits zuvor musste sich Grote unangenehme Fragen gefallen lassen. Zu Beginn jeder Zeugenbefragung will der PUA-Vorsitzende André Trepoll (CDU) wissen, wie sich der Zeuge vorbereitet hat. So auch an diesem Donnerstagnachmittag im Rathaus. Was in den bisherigen neun Sitzungen eher beiläufig daherkam, hatte dieses Mal einen handfesten Hintergrund. Andy Grote antwortete zunächst, er habe noch einmal in die Akten geschaut, um sich auf den aktuellsten Stand zu bringen. Er wird geahnt haben, dass Trepoll nachlegen würde. Schließlich hatte Grote sich mit der Bitte um Einsicht in die PUA-Protokolle vor wenigen Wochen einen ziemlich groben Fauxpas geleistet. Die sind nämlich geheim – und die Weitergabe solcher Dokumente hatte 2006 schon einmal zu einem eigenen Untersuchungsausschuss geführt.
Vor diesem Hintergrund also fragte Trepoll den Bezirksamtsleiter, ob er denn auch Protokolle zur Vorbereitung auf diese Sitzung gelesen habe, was dieser natürlich verneinte. Und dann legte Trepoll noch einmal streng nach: „Können Sie erklären, warum Sie hier nach Protokollen nachgefragt haben?“
Grote wusste, dass er nichts zu gewinnen hatte, und sprach pflichtschuldig von einer „Gedankenlosigkeit meinerseits“. Er habe im Gespräch mit seinem Sprecher („zwischen Tür und Angel“) das Interesse geäußert, den aktuellen Sachstand zu erfahren, und von einem „Bericht“ gesprochen. „Mein Mitarbeiter hat das so umgesetzt, dass er nach den Protokollen gefragt hat. Das hätte man durch Nachdenken verhindern können.“
Auf die Frage, was er nach dem Tod des Kindes anders machen würde, antwortete Grote, dass es einen Kulturwandel geben müsse. „Jeder muss sich stets infrage stellen.“ Man könne nicht sicherstellen, dass trotz des Bemühens, den Kinderschutz zu verbessern, immer wieder neue Schwachstellen auftauchten. Daraus resultiere die Aufgabe, sein Tun ständig zu überprüfen, sagte Grote.
Und dann verkündete der Bezirksamtsleiter eine Neuigkeit, welche die bei der Zeugenbefragung im Rathaus anwesenden Jugendamtsmitarbeiter in Erstaunen versetzte. Am 1. Januar werde die sogenannten Handakte abgeschafft, sagte Grote.
Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen
CDU-Obmann Christoph de Vries hatte ihm die Aussage entlockt, weil er die mangelnde Dokumentation in dem Fall kritisierte. Vom kommenden Jahr an sollen die Mitarbeiter in den Jugendämtern nur noch mit dem umstrittenen Computerprogramm Jus-IT arbeiten. Bislang werden die Fälle noch parallel auf Papier und mit der Behörden-Software dokumentiert.
Mit der Vernehmung Grotes geht der Parlamentarische Untersuchungsausschuss nach der Sommerpause in seine zweite und entscheidende Runde. Nachdem in der ersten Hälfte diejenigen Zeugen befragt wurden, die direkt mit Yagmur und ihren Familien zu tun hatten, sind nun die politisch und fachlich Verantwortlichen an der Reihe, also die Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte, Eimsbüttel und Bergedorf sowie am Ende auch Sozialsenator Detlef Scheele (SPD).
Erst in der vergangenen Woche wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft die Bezirksämter Mitte und Eimsbüttel durchsucht hatte. Es wird gegen Jugendamtsmitarbeiter ermittelt. Im Raum steht unter anderem der Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen. In Eimsbüttel haben sich mehrere Polizeibeamte im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Personalakte einer Mitarbeiterin des Jugendamts aushändigen lassen. Sie war in den Fokus der Ermittlungen geraten, da sie im Mai 2013 die Rückführung des Mädchens in seine Familie eingeleitet hatte, in der es schließlich getötet wurde.
Ursprünglich sollte auch Eimsbüttels Bezirkschef Torsten Sevecke (SPD) noch vor dem Untersuchungsausschuss aussagen. Da die Befragung von Andy Grote aber bis zum späten Abend dauerte, entschieden die Bürgerschaftsabgeordneten auf den weiteren Zeugen zu verzichten. Der Eimsbütteler Bezirksamtsleiter soll bei der nächsten PUA-Sitzung vernommen werden. Auch das dürfte dann mehrere Stunden dauern.