Die Seniora-Messe richtet sich nicht an Alte, sondern an „Menschen nach der aktiven Berufsphase“. Zwei Dinge sind auf der Seniora dabei immer wieder zu beobachten.

Hamburg. Das Wort Senior ist in Zeiten, in denen 60 das neue 40 ist, ein gefährliches. Wer will sich schon in der gefühlten Lebensmitte ein Etikett anheften lassen, das einen alt aussehen lässt? Die Lust auf Einschränkungen durch das Alter sinkt, die Lebenserwartung – in Hamburg wie in ganz Deutschland – steigt: An Elbe und Alster leben Männer, die zwischen 2008 und 2010 in ihrem 65. Lebensjahr waren, durchschnittlich noch 17,3 Jahre, die gleichaltrigen Frauen sogar noch 20,6 Jahre. Im Vergleich zu jenen, die zwischen 1986 bis 1988 in diesem Alter waren, ist das ein Zugewinn von 3,3 Jahren bei den Männern und 2,7 Jahre bei den Frauen, wird im Demografie-Konzept Hamburg 2030 vorgerechnet. Insgesamt beträgt der Anteil der über 65-Jährigen in Hamburg inzwischen circa 19 Prozent – alles „Senioren“?

Die Seniora-Messe, die am vergangenen Freitag und Sonnabend zum zweiten Mal in Hamburg gastierte, trägt das fragliche Wort zwar im Titel, ist dann aber doch nicht für Senioren, sondern für „Menschen nach der aktiven Berufsphase“, wie Maria Lierath vom Organisator BMS zielsicher formuliert. Wie auch immer: Es ist eine Gruppe, die wächst. Und die auch deshalb heftig umworben wird, wie man im Congress Center Hamburg (CCH) sehen konnte.

Dort, in Halle 3, hebt Imme Spangenwerk gerade ab. Am Stand der Firma Fitform und des Möbelhauses Deubelius liegt die 70-Jährige ausgestreckt in einem roten Polstersessel, in dem drei Elektromotoren fast geräuschlos surren. Sie schieben den Sitz immer weiter in die Höhe und kippen ihn zugleich nach vorne. Die vier Sesselbeine haben den Teppichboden längst verlassen, der Luxusstuhl ist nur noch über einen mittigen, runden Standfuß mit der Erde verbunden. Der Sessel schwebt leise weiter, neigt sich, bis Imme Spangenwerk quasi wie von selbst wieder auf ihren Beinen steht. „Toll!“, sagt die Frau aus Volksdorf und streicht über die weiche Armlehne. „Haben Sie nicht ein Gewinnspiel, bei dem man den gewinnen kann?“

Zwei Dinge sind auf der Seniora immer wieder zu beobachten. Erstens: Das Angebot für die wachsende Bevölkerung jenseits der 60 lässt keine Wünsche und keine Preisklasse offen. Der dreimotorige Supersessel, jedes Exemplar ein maßgeschneidertes Einzelstück, kostet je nach Ausstattung 2200 bis 6000 Euro. Auch Rollatoren sind inzwischen mehr als Haltegestelle mit vier Rädern: Man läuft an leichtgewichtigen Wunderwerken wie dem Luxusmodell Troja 2G Premium Plus. Voll ausgestattet mit Klingel, Rückengurt aus Leder, Stock- und Schirmhalter, Tablett und Hände wärmenden Überstülpern an den ergonomischen Griffen kostet das Gefährt gut 600 Euro.

Zweitens: Die Besucher bringen eine geballte Ladung kritische Lebenserfahrung mit an die Stände. Ob ein höhenverstellbares Bett, ein Seniorenfahrrad, ein Treppenlift oder eine schicke Seniorenwohnung – Skepsis und das Bewusstsein, was mit der eigenen Rente finanziell überhaupt machbar ist, bestimmen den Messebummel. Premium-Sessel-Verkäufer André Vlaswinkel berichtet: „Viele Senioren sind zuerst skeptisch. Das große Thema ist immer der Preis.“ Im Zweifelsfall wird erst mal freundlich lächelnd eine Broschüre eingesteckt. Was nicht heißen soll, dass sich die Besucher nicht begeistern lassen. Wenn am Stand des Sanitätshauses Stolle bei einer Modenschau vorgeführt wird, dass Kompressionsstrümpfe nicht mehr nur braun und bieder, sondern auch in Modefarben wie Orange und Türkis und mit Batikmuster zu haben sind, kann sich auch unter kritischen Rentenbeziehern schnell große Neugier breitmachen. Dann berühren ältere Damen die Models an den Beinen, fühlen den Stoff und stellen sich in die Schlange am Stand.

Interessiert inspizieren die Besucher auch clevere Ideen wie die Sicherheitsclips des Erfinderehepaars Barbara und Klaus Willomat, die Gläser und Tassen per Saugnapf-Halterung auf Tischen und Tabletts fixieren, oder den geräumigen Reisebus, der am Stand des Reiserings Hamburg geparkt steht. Besonders herzlich wird die Seniora, wenn die Angebote über das übliche Konsum- und Informationsrauschen hinausgehen. Wie in dem Moment, in dem Theaterpädagoge und Tanzlehrer Helmut Fuchs den Senioren auf der Messebühne vorführt, wie zugänglich und einfach Tango auch für Senioren zu lernen ist. Während der 60-Jährige in inniger Umarmung mit seiner Tanzpartnerin Jana Osterhus über die Bretter schreitet, lächeln die Damen in der ersten Reihe verträumt.

Oder der Stand des Bestattungsunternehmens GBI. Hier hat Marketingchef Holger Wende ein Konzept der Künstlerin Candy Chang aus dem amerikanischen New Orleans aufgegriffen: eine große Tafelwand mit der Überschrift „Before I die“, an die Besucher ihre Lebenswünsche schreiben können, die sie sich vor ihrem Tod noch erfüllen wollen. Die Tafel ist vollständig mit Worten aus Kreide gefüllt. Manche wünschen sich „Gesundheit“ oder „sorgenfrei zu sein“, andere wollen reisen, „die Natur schützen“ oder „vorher noch mal aufräumen“. Viele gingen direkt an die Tafel und schrieben ohne groß zu überlegen, erzählt Wende, „sie wissen genau, was sie noch mit ihrem Leben anfangen möchten“.

Man könnte folglich also auch sagen: Diese Senioren stehen mitten im Leben.