77 Punkte für Heimbewertung, aber nur zwei Bewertungsstufen: “Es ist nicht möglich, sehr gute von durchschnittlichen Einrichtungen zu unterscheiden“.
Hamburg. Viele Angehörige greifen bei der Suche nach dem besten Pflegeheim auf den „Pflege-TÜV“ zurück. Auf der Basis von Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen nimmt das Regelwerk die Qualität der Pflege unter die Lupe und verteilt Noten. Wie gut eine stationäre oder ambulante Einrichtung ist, erfahren die Nutzer zum Beispiel auf der Homepage des Verbandes der Ersatzkassen (www.pflegelotse.de). Seit dem 1. Januar 2014 gilt ein neues System, das mehr Transparenz für den Verbraucher schaffen will.
Doch der große Wurf ist mit dem neuen „Pflege-TÜV“ offenbar nicht gelungen. Das Abendblatt hat nämlich führende Wissenschaftler und Pflegeexperten gebeten, diese neue, gesetzlich vorgeschriebene Pflegetransparenz-Vereinbarung kritisch zu beleuchten. Das Ergebnis: Statt breiter Zustimmung gibt es gravierende Bedenken. Und die Forderung, dringend nachzubessern.
Kritik kommt etwa von Pflegen und Wohnen, dem größten Anbieter privater Pflege in Hamburg mit 2800 Plätzen in zwölf Einrichtungen. „Das Prüfverfahren täuscht eine Objektivität vor, die auf keiner wissenschaftlichen Grundlage beruht“, sagt Organisationsentwicklerin Nicol Wittkamp. Nach Ansicht von Experten ist es zudem ein eklatanter Fehler, dass die Frage der Lebensqualität der zu pflegenden Personen praktisch gar keine Rolle spielt.
Hauptsache, die einzelnen Abläufe im Rahmen der Pflege sind in den Akten vorbildlich dokumentiert. Martin Sielaff, Geschäftsführer der Hamburgerischen Pflegegesellschaft, kritisiert: „Es gibt noch keinen Systemwandel zu mehr Prüfgerechtigkeit und Aussagekraft.“ Und Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland, fügt hinzu: „Die neu festgelegten 77 Bewertungskriterien sind nach wie vor zu unübersichtlich.“
Bislang waren die Unterschiede in der Benotung sehr gering. So erhielten stationären Einrichtungen in Hamburg in der Pflegenotenstatistik vom November 2013 im Schnitt die Note 1,2 und die ambulanten Dienste die Note 1,4. Nicht nur Martin Sielaff von der Hamburgischen Pflegegesellschaft fand die pauschale Bewertungspraxis „äußerst fragwürdig“. Doch die neue sei kaum besser. „Es gibt kein grundsätzlich neues Notensystem seit dem 1. Januar 2014. Von daher bleiben die lange kritisierten methodischen Schwächen bestehen“, sagt er. Diese Mängel gehen darauf zurück, dass sich Pflegekassen und Anbieterverbände in den vergangenen Monaten nicht auf wesentliche Änderungen einigten konnten. Der neue „Pflege-TÜV“ sei das Ergebnis eines Schiedsspruchs.
Professor Johannes Möller vom Fachbereich Gesundheit und Pflege der Hamburger Fernhochschule hat weitere Schwachstellen diagnostiziert. Zum einen fehlt die Möglichkeit, gute Pflegequalität zu differenzieren. „Die meisten Kriterien können nur mit ‚gar nicht erfüllt‘ oder ‚voll und ganz erfüllt‘ bewertet werden.“ Möller fordert daher: Es sind zusätzliche Bewertungsstufen einzuführen, etwa bei der Ausgestaltung von Aufenthaltsräumen.
Zum anderen gibt es kaum eine Möglichkeit, Spitzenleistungen anzuerkennen. Der überarbeitete „Pflege-TÜV“ erkenne bereits die Erfüllung pflegerischer Mindestanforderungen, wie die Behandlung von Wunden, mit Höchstwerten an. „Es ist in diesem Verfahren nicht möglich, sehr gute von durchschnittlichen Pflegeeinrichtungen zu unterscheiden.“ Anreize für Spitzenleistungen würden von der neuen Regelung jedenfalls nicht ausgehen. Dass vor allem die Lebensqualität der zu pflegenden Personen nicht berücksichtigt wird, stößt ebenfalls auf Kritik. Die Überdeckung der gefühlten Ergebnis- und Lebensqualität der Heimbewohner durch Strukturmerkmale der Einrichtung widerspreche sogar den Forderungen der Gesetzgeber, betont Professor Möller.
Ähnlich sieht es der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion in der Bürgerschaft, Martin Schäfer: „Auch bei den neuen Bewertungskriterien werden die Erfahrungen der zu pflegenden Personen nicht erfasst. Deren subjektiv empfundene Lebensqualität spielt immer noch keine Rolle. So wichtig die medizinisch notwendige Betreuung der zu pflegenden Personen ist, so sollte bei der Beurteilung von Pflegeeinrichtungen auch der ‚Wohlfühlfaktor‘ mit berücksichtigt werden.“ Mehr noch: Mit der neuen Stichprobenregelung werden nur noch neun Bewohner pro Einrichtung überprüft – unabhängig von der vorhandenen Belegung. Gerade bei größeren Einrichtungen mit mehr als 100 Bewohnern sei das nicht mehr aussagekräftig, betont Nicol Wittkamp.
Wegen dieser Mängel fordern Anbieter und Experten deshalb, den „Pflege-TÜV“ zu optimieren. Vorstöße kündigten die Pflegegesellschaft und der Sozialverband an. Ein Fehler lässt sich freilich nicht so schnell beheben: „Die Vergleichbarkeit der Einrichtungen wird erschwert, weil die Noten der alten und der neuen Regelung lange Zeit nebeneinander ausgewiesen werden“, sagt Matthias Steiner, Sprecher der Augustinum-Gruppe.