Inge Hannemann klagt auf Wiedereinstellung im Jobcenter. Die eigentlich für Freitag erwartete endgültige Entscheidung gab es nicht. Der Fall der Hamburgerin ist längst ein Politikum.

Barmbek-Süd. Die Luft im überfüllten Saal 112 ist zum Schneiden, die Stimmung kämpferisch. Rund 100 Sympathisanten haben sich in den Saal des Arbeitsgerichts gequetscht. Der Raum ist so voll, dass viele von ihnen stehen oder auf dem Boden hocken müssen. Einige haben Transparente und Schilder mitgebracht, auf denen Sätze stehen wie „sich fügen heißt lügen“ oder die ein „bedingungsloses Grundeinkommen für alle“ fordern. Der Eimsbütteler Wirt und Selfmade-Politiker Marco Scheffler hält ein Schild mit der Aufschrift „Liebe statt Angst“ hoch. „Inge, zieh es durch“, tönt es aus dem Publikum.

Die Inge, um die es hier geht und deren Name längst nicht mehr nur in Hamburg bekannt ist, sitzt vorn am Richterpult. Inge Hannemann, eine schmale Frau mit dunklen Haaren, besser bekannt als unbeugsame „Systemgegnerin“ oder auch „Hartz-IV-Rebellin“. Hannemann war seit Mitte 2011 Arbeitsvermittlerin im Jobcenter Altona. Jetzt ist sie für viele Menschen eine Heldin, eine Art Mutter Courage für die Underdogs und Hartz-IV-Gebeutelten. Das Jobcenter hat Hannemann am 22.April 2013 freigestellt, weil sie sich weigerte, das zu tun, was von ihr erwartet wurde: Hartz-IV-Empfänger bei mehrmaligem Fehlverhalten durch Leistungskürzungen zu bestrafen. Und weil sie öffentlich das System Hartz IV als „menschenunwürdig“ angeprangert hat. Hannemann sah ihre Äußerungen durch das Recht auf Meinungsäußerung gedeckt, das Jobcenter hingegen den Betriebsfrieden gestört. Eine Alternativ-Beschäftigung in der Jugendhilfe lehnte die 45-Jährige ab. Sie will ihren alten Job zurück, deshalb ist sie vor Gericht gezogen. Eigentlich war für Freitag eine endgültige Entscheidung erwartet worden. Die gab es aber nicht.

Weil der Fall längst ein Politikum ist, sprechen im Arbeitsgericht auch die Symbole. Ein Mitstreiter drückt Hannemann vor Verhandlungsbeginn eine Ausgabe des Grundgesetzes in die Hand. Dann halten wie auf Kommando Aktivisten ein Büchlein in die Höhe. „Empört euch“, steht darauf, es ist der Titel eines Essays, verfasst vom früheren französischen Uno-Diplomaten Stéphane Hessel. Er hat darin zum politischen Widerstand gegen den Finanzkapitalismus aufgerufen. „Jetzt steht der Rechtsstaat auf dem Prüfstand“, ruft einer. Ein anderer: „Welcher Rechtsstaat?“ Kein Wunder, dass der Vorsitzende Richter Hilbert Albers vorsorglich darauf hinweist, dass er bei zu viel Unruhe im Saal die Reihen der Zuschauer ohne Zögern lichten würde.

Hannemann rechnet gar nicht damit, dass sie den Rechtsstreit gewinnt. „Es ist in Ordnung, wenn ich verliere“, sagt sie kurz vor Beginn der Verhandlung, „dann klage ich eben weiter. Je höher ich komme, desto mehr wird das Thema öffentlich als Politikum wahrgenommen.“ Hannemann hat eine Mission: Sie will „das unsägliche Hartz IV abschaffen“, um ihren Job allein geht es ihr schon lange nicht mehr. „Politik ist mein Ding“, sagt die 45-Jährige, die sich entschlossen hat, bei der Wahl zur Bezirksversammlung Altona für die Linken anzutreten. Als Rednerin ist sie schon jetzt begehrt. Am vergangenen Montag hat sie in Stuttgart vor Tausenden Demonstranten gesprochen. Natürlich über Hartz IV, aber Hannemann geht es inzwischen um viel mehr: die Rente, Insolvenzen, Bankenkrise, soziales Unrecht. Das ganz große Rad also. Das Aufbegehren gegen das bei der politischen Linken verhasste Hartz IV dürfte Hannemanns Karriereplänen nur zuträglich sein und ihr einen gehörigen Glaubwürdigkeitsbonus verschaffen.

Im Kern geht es in der Verhandlung darum, dass Hannemann in 45 Fällen die Sanktionsparagrafen des Sozialgesetzbuches nicht korrekt angewendet haben soll. So unterließ sie es, Langzeitarbeitslosen die Leistungen zu kürzen, auch wenn die nicht zu den Terminen im Jobcenter erschienen waren. Hannemann war für junge, schwer vermittelbare Arbeitslose zuständig. Und umging nicht selten die fälligen Sanktionen durch Tricks. Grund: Hannemann hält Hartz IV schlicht für verfassungswidrig, das System verstoße gegen die Menschenwürde. „Weil die Regelungen verfassungswidrig sind, war sie sogar verpflichtet, die Sanktionsnormen nicht anzuwenden“, sagt ihr Anwalt Johannes Sundermann. Im Übrigen, ergänzt seine Mandantin, habe sie in mehreren Fällen, die ihr vom Jobcenter fälschlicherweise angelastet würden, zu Recht keine Sanktionen verhängt. Hannemann hat diese strittigen Fälle erst jetzt zusammengetragen, in einem wuchtigen Konvolut, das sie dem Gericht überreicht. Als der Richter fragt, ob sie den Schriftsatz auch für die Gegenseite kopiert habe, schüttelt Hannemann den Kopf und antwortet: „Ich habe es nur einmal kopiert, aus Kostengründen. Ich muss ja jetzt auf mein Geld achten.“ Ein bemerkenswert instinktsicherer Satz. Kurz brandet Beifall auf.

Den neuen Schriftsatz hat die 45-Jährige allerdings sehr spät eingereicht. Um zu vermeiden, dass er im Richterspruch unberücksichtigt bleibt, wendet ihr Anwalt einen juristischen Trick an – Hannemann stellt keinen Antrag. Das Gericht erlässt daher nur ein Versäumnisurteil. Damit sei ihre Klage zwar abgewiesen, doch gleichzeitig könne man so einen Neustart des Verfahrens erreichen, so ihr Anwalt. Hannemann kann binnen einer Woche Einspruch einlegen. Die neue Verhandlung wird für Juni erwartet. Ein Ende des Rechtsstreits ist indes nicht absehbar: Hannemann will sich durch alle Instanzen klagen, „notfalls gehe ich weiter zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“.