In Hamburg stirbt unbemerkt ein Obdachloser. Für die Behörden ist das ein Aktenvorgang. Aber wer war der Mensch? Christian Unger und Marcelo Hernandez gehen auf Spurensuche und erinnern.

Es ist ein kühler Wintermorgen, etwa drei Grad, als Sylwester R. den Reißverschluss seines Schlafsacks öffnet. Er schiebt auch die Wolldecken beiseite und stülpt die braunen Lederstiefel über seine Füße. Kurz nach halb sieben Uhr morgens am 12.Januar tritt Sylwester R. aus der offenen Garage mit dem Wellblechdach. Er läuft über den Hinterhof, schiebt das schwere Eisentor zur Seite und geht die 20 Meter hoch zum S-Bahnhof an den Landungsbrücken.

Dort, auf den grauen Fliesen am Fahrkartenautomaten des HVV, liegt Andrzej. Gemeinsam mit Lutz, einem deutschen Obdachlosen. Sie teilen sich nur einen grünen Schlafsack als Unterlage. Beide schlafen noch, denkt Sylwester. Am Abend vorher hatte er sie noch gefragt: „Kommt ihr mit?“ Runter in die Garage, wo sie seit ein paar Monaten ihr Nachtlager hatten. Doch die beiden wollten lieber bleiben. Und Wodka trinken. Jetzt, am Morgen, steht die leere Flasche noch dort. Sylwester R. geht zum Kiosk, um von dem Kleingeld in seiner Hosentasche eine neue Flasche zum Frühstück zu holen. Dann will er Andrzej wecken.

Die Geschichte von Andrzej A. spielte in den vergangenen Jahren unter zugigen Brücken und engen Hauseingängen dieser Stadt. Sie hat sich verborgen, wie es Obdachlose selbst tun. Und die meisten Geschichten bleiben im Verborgenen – auch die der Menschen, die jedes Jahr auf den Straßen Hamburgs sterben.

Sylwester kniet am Morgen des 12. Januar vor Andrzej und rüttelt an seiner Schulter, um ihn aufzuwecken. Er dreht den Kopf zu sich hin. Da sieht er, dass Andrzejs Lippen blau sind. Sylwester R. wird panisch. Sein Handyakku ist leer. Er weckt Lutz. „Ruf einen Krankenwagen, schnell“, sagt er. Und fühlt am Hals nach Andrzejs Puls.

Der Pole Andrzej A. ist an diesem Sonntagmorgen im Alter von 41 Jahren gestorben. Todeszeit laut Polizeiakte: 7.02 Uhr.

Am umfangreichsten erfasst ist das Leben von Andrzej erst nach seinem Tod. In den Unterlagen der Polizei und der Rechtsmedizin geht es um sein Sterben. Von seinem Leben erzählen die, die ihn gekannt haben.

Andrzej sei ein ruhiger Mensch gewesen, zurückgezogen habe er gelebt, sagt ein Sozialarbeiter. „Er war ein einsamer Wolf.“ Der Obdachlose Sylwester sagt: „In den letzten Tagen vor seinem Tod war Andrzej nachdenklich. Er hat öfter länger in die Luft geschaut, einfach so, und geschwiegen. Aber was mit ihm los war, hat er mir nicht erzählt.“

Auch in den Tagesstätten dieser Stadt kannten die Obdachlosen Andrzej. Man habe ihn öfter mal gesehen, ja, auch zusammen mit anderen, aber meistens alleine. „Er hat nie viel erzählt“, sagen sie im Cafée mit Herz nahe der Reeperbahn. Andere Obdachlose sagen nur: Andrzej? Nee. Nie gehört. Wenn jemand nicht mehr auftauche, dann denke man erst mal, dass der im Knast ist oder auf Entzug, sagt eine junge Frau, die schon länger auf der Straße lebt.

Um 6.57 Uhr treffen zwei Rettungssanitäter vor dem Fahrkartenautomaten an den Landungsbrücken ein. Sie prüfen Andrzejs Puls. Und spüren ihn nicht mehr. Sie pressen seinen Brustkorb mit ihren Händen immer wieder zusammen, sie massieren sein Herz. Aber der Puls kommt nicht mehr zurück. Der Notarzt untersucht den Kiefer. Er ist schon erstarrt.

Wer heute nach den Spuren von Andrzej A. in Hamburg sucht, findet nur Puzzleteile. Die Unterlagen der Polizei, AZ 161/41, sind zwölf Seiten lang. Es gibt ein Passfoto von A., ein paar wenige Notizen aus einer Beratungsstelle zu seinem Leben. Es gibt den Bericht der Rechtsmediziner von der Uniklinik Eppendorf. Andrzej wurde von einem Bestatter von den Landungsbrücken direkt dorthin gefahren.

Um 8.25 Uhr messen die Ärzte die Körpertemperatur des Leichnams: 30,4 Grad. Andrzej muss schon ein paar Stunden tot gewesen sein. Jede Stunde kühlt eine Leiche um ein Grad ab. Vielleicht war sein Körper auch durch die Nacht auf den Fliesen stark unterkühlt. Der Alkohol in seinem Blut erweiterte die Gefäße in der Haut, sodass die Temperatur im Körper noch schneller fiel.

Das Abendblatt druckt am Dienstag danach eine Meldung, ein paar Zeilen lang, auf Seite 7. „Zwei Obdachlose tot aufgefunden“, heißt die Überschrift.

Andrzej A. ist an dem Januar-Sonntag nicht der einzige Mensch, der in Hamburg auf der Straße stirbt. Am 12. Januar um 16.25 Uhr stellen Notärzte den Tod eines Mannes an der Ludwig-Erhard-Straße beim Michel fest. Die Polizisten finden keinen Ausweis. Sie fotografieren den Toten, seinen Pullover, seine Hose mit den Hosenträgern, die Fleecejacke. Mithilfe der Bilder hoffen die Beamten, die Identität des Obdachlosen aufzuklären. Und sie nehmen Fingerabdrücke. Später entdecken sie Einträge in der Datenbank. Der 44 Jahre alte Slowake war „erkennungsdienstlich erfasst“, wegen Diebstahls. Auch sein Leichnam landet in der Rechtsmedizin des UKE. Todesursache: Lungenentzündung mit anschließender Sepsis, Blutvergiftung.

Ein Tag im Januar in Hamburg, zwei Menschen sterben auf der Straße. Ein Pole und ein Slowake. Und so ist die Suche nach Andrzejs Spuren auch eine Geschichte über Obdachlose aus Osteuropa, über ihr Leben und Sterben. In den letzten sechs Monaten zählten die Sozialeinrichtungen in Hamburg fünf tote Obdachlose, vier von ihnen kamen aus Osteuropa, drei alleine aus Polen. Genaue Statistiken über die vergangenen Jahre führt die Sozialbehörde nicht. Zu groß der Aufwand, heißt es. Man müsste mehrere Tausend Polizeiakten von Todesfällen neu durchgehen.

So wie den Fall von Robert Adam K., der am 3.Oktober2013 starb. Nur zwei Wochen später dann Tomasz K. aus Polen. Passanten hatten die beiden zuletzt an der Grindelallee gesehen. Nun waren sie von dort verschwunden. Ihre Leichen wurden auf dem Friedhof in Öjendorf eingeäschert. Die toten Obdachlosen aus Polen tragen Nummern: 15470 und 16080. Ihr Begräbnis zahlt die Behörde in Hamburg, wenn sich keine Angehörigen mehr finden lassen.

Wo offizielle Angaben fehlen, helfen nur Menschen weiter, die etwas zu erzählen haben.

Es ist ein eisiger Nachmittag in den Wochen nach Andrzejs Tod. Sylwester R. läuft am Bismarckdenkmal vorbei, runter zu den Landungsbrücken. Der Wind bläst in sein Gesicht. Tränen laufen aus seinem rechten Auge. Sylwester kam 2005 aus Polen, erst nach Berlin, dann nach Hamburg. Sein Vater war gestorben, seine Mutter hatte ihn um Geld betrogen, sagt er.

Ein paar Monate hat Sylwester in Heimfeld schwarz auf einer Baustelle gearbeitet. Dann verlor er den Job. Eine Zeit lang übernachtete er im Pik As, einem bekannten Nachtasyl für Obdachlose in der Neustadt.

Diesen Winter stieß er zu Lutz und Andrzej. Die drei Männer machten gemeinsam „Platte“, wie die Obdachlosen das Leben auf der Straße nennen.

„Hier lag er“, sagt Sylwester, als er vor dem Fahrkartenautomat an der S-Bahn-Haltestelle Landungsbrücken steht. Er und Lutz haben am Tag nach Andrzejs Tod zwei weiße Kerzen bei den Rolltreppen aufgestellt und angezündet. Sylwester fragte Lutz, ob er die nächste Zeit in den Nächten bei ihm bleibt. Er mochte nicht allein sein.

Sylwester geht über den Hinterhof zur Kellertreppe neben der offenen Garage, wo sie ihr Nachtlager haben. Als Andrzej längst im Leichenwagen abtransportiert war, schleppte K. dessen Schlafsack und Kleidung aus der Garage vor die Kellertür. Die braune Matratze, die weiße Plastiktüte mit den Pullovern und der Hose, sein Feuerzeug, das nicht mehr funktioniert.

Andrzej hatte Sylwester einmal von seiner Schwester erzählt, die noch in Polen lebe. Sogar die Adresse hatte er bei sich. „Schreib ihr doch einen Brief“, hatte Sylwester ihm gesagt. Er solle sich melden, vielleicht sogar hinreisen. „Aber Andrzej wollte nicht.“ Fünf Jahre schon habe er keinen Kontakt zu seiner Familie gehabt. „Andrzej wollte nicht zurück“, sagt Sylwester. Die Familie sei ein Tabuthema gewesen.

Andreas Stasiewicz von der Beratungsstelle für obdachlose Menschen aus Osteuropa, Plata, hatte Andrzej angeboten, ihm bei der Rückkehr in die Heimat zu helfen. Aber er lehnte ab. Zu groß sei seine Scham gewesen, als Gescheiterter zurückzukehren zu seiner Familie, erzählt Stasiewicz. So wie er ausgesehen hatte, so wie er war. Ein Mittelloser. Ein Alkoholkranker.

Zwei Wochen nach dem 12. Januar war auf einmal auch Lutz verschwunden. Er kam abends nicht mehr in die Garage zurück. Sylwester weiß bis heute nicht, wo er geblieben ist. Auch seine Sachen, sein roter Lederkoffer, liegen jetzt auf dem Haufen vor der Kellertür.

Viele Male haben Sylwester und Andrzej gemeinsam im Cafée mit Herz Frühstück oder Mittag gegessen, dort hatten sie sich kennengelernt. Manchmal haben sie ein paar Euro an den Landungsbrücken zusammengeschnorrt, oder Pfanddosen aus den Mülleimern der Stadt gekramt. Von dem Kleingeld haben sie sich Bier und Wodka, Pizza oder Döner gekauft.

Andrzej, Lutz und Sylwester brachten es manchmal auf zwei Flaschen Schnaps am Tag. Pro Person. Sylwester und Andrzej haben viel gemeinsam getrunken. Und wenig geredet.

Viele Freundschaften auf der Straße kommen mit wenigen Worten aus. Oft sind es Zweckfreundschaften, berichten die Sozialarbeiter und die Obdachlosen selbst. Die Gruppe ist vor allem eine Lebensversicherung. „Wenn es einem schlecht geht, ruft der Kollege einen Arzt“, sagt ein Obdachloser in der Tagesstätte Alimaus nahe der Reeperbahn. Man teilt den Alkohol, das Erschnorrte, leiht Schlafsäcke aus. „Einsame Säufer aber leben gefährlich“, sagt ein Sozialarbeiter.

Wenn Sylwester von Andrzej erzählt, klingt das nicht nur nach einem Zweckbündnis. Andrzej war oft alleine, sagt Sylwester. Am Morgen, als er starb, lag sein Freund Lutz neben ihm. Helfen konnte er nicht. Lutz schlief seinen Rausch aus.

Wie viele obdachlose Menschen aus Osteuropa in Hamburg leben, ist nicht bekannt. Die Behörde führt keine Statistik. Denn ein Vermerk „obdachlos“ ist in den Ausweisen der Menschen nicht erfasst. 1996, 2002 und 2009 ließ die Stadt durch Umfragen in Hilfseinrichtungen herausfinden, wie viele Obdachlose sich ungefähr in Hamburg aufhalten. Für 2009 waren es 1029 Menschen, fast ein Drittel von ihnen hatte keine deutsche Staatsbürgerschaft. Für 2013 schätzt die Beratungsstelle von Stasiewicz, dass etwa 600 Menschen aus Osteuropa auf der Straße lebten.

Kurze Notizen über Andrzejs Leben hat Stasiewicz auf einem DIN-A-4-Blatt notiert. Am 5.Dezember 2012 stand er im Büro von Stasiewicz im dritten Stock eines Altbaus, nahe dem Hauptbahnhof. Hier hat Plata ihre Räume. Stasiewicz und seine Mitarbeiter sprechen Russisch, Polnisch, Rumänisch, Bulgarisch und Englisch. Die Sozialbehörde finanziert das Projekt 2014 mit 176.000 Euro.

Stasiewicz erzählt, wie Andrzej damals zu ihm kam. Er hatte seinen polnischen Ausweis verloren, brauchte Hilfe. Insgesamt war er dreimal bei Stasiewicz zu Besuch. Einmal organisierte Stasiewicz ihm eine Unterkunft im Pik As. Sylwester erzählt, dass Andrzej nie dort übernachtet hat.

Nach Einschätzung von Stasiewicz leben immer weniger Polen in Hamburg auf der Straße. „Manche von ihnen sind zurück in ihre Heimat gekehrt, weil sie hier keine Perspektive, Wohnung oder Arbeit gefunden haben.“ Die Anlaufstelle hilft den Menschen, ihre Reise zurück ins Heimatland vorzubereiten, oft zahlt die Behörde das Busticket. Seit 2010 verließen schon 1981 Obdachlose Hamburg mithilfe von Stasiewicz und seinem Team. Einigen konnten sie Plätze in Pflegeeinrichtungen oder Therapien vermitteln, in Deutschland oder in Polen. „Andere, das muss man klar so sagen, sterben uns weg.“

Andrzej A. wurde am ersten Weihnachtstag 1972 in Katowice geboren. Katowice ist so etwas wie das polnische Bochum, eine alte Bergbaumetropole mit vielen Kohleschächten. Von Polen aus reiste Andrzej erst nach Holland, schlug sich mit Jobs auf Baustellen durch. Seit 2009 war er in Deutschland, so hatte er es selbst angegeben. Grund der Einreise: Arbeitssuche, notierte Stasiewicz damals. Andrzej hatte eine Ausbildung als Handwerker, arbeitete auch hier eine Zeit lang in Hamburg auf Baustellen. So machen es viele, Menschen wie Andrzej, Menschen wie sein Kumpel Sylwester.

Und Menschen wie Arkadiusz K. Er geht vorbei an den Plakaten mit der Baumarkt-Werbung. „Alles muss raus!“ Max Bahr in Ottensen verkauft in diesen Tagen Ende Januar seine letzten Werkzeuge und Gartengeräte, bevor der Markt nach der Pleite dichtmacht. Schnee liegt auf dem Parkplatz. Arkadiusz deutet auf die 15 Stufen der dunklen Treppe links neben dem Eingang. Und er zeigt auf den Boden neben der Kellertür. „Dort schlafe ich.“ Moos wächst auf dem Betonboden, darüber liegen Pappkartons zu einer Matte auseinandergefaltet.

Vor zehn Jahren ist Arkadiusz das erste Mal aus Polen nach Hamburg gekommen, arbeitete ein Jahr lang als Maler, verlor den Job, zog wie Andrzej weiter nach Holland und dann Belgien, verlor auch dort die Arbeitsstelle, kehrte zurück nach Polen. Dort erfuhr er, dass seine Ehefrau einen neuen Mann hatte. Und Arkadiusz brach wieder auf, zurück nach Hamburg. Sieben Jahre ist das her.

Für Stasiewicz sind die Leben von Menschen wie Andrzej auch Biografien „moderner Arbeitssklaven“. Billige und willige Arbeiter, die von Firmen mit miesen Verträgen abgespeist werden. Wenn sie überhaupt etwas Schriftliches bekommen. Viele der Osteuropäer kämen mit dem Wunsch nach Arbeit und gutem Gehalt nach Hamburg. „Doch dann scheitern sie auf dem Arbeitsmarkt, der Migranten ausbeutet.“ Einige landen auf dem „Arbeiterstrich“ in Wilhelmsburg und kommen davon nicht mehr weg. Oftmals verdienen sie nur 500 Euro im Monat.

Es gibt Gründe für Obdachlosigkeit, die jeden treffen können – egal ob Deutscher, Pole oder Rumäne: eine Scheidung, der Tod eines Angehörigen, Depression. Auch Arbeitslosigkeit. Obdachlosigkeit hat selten nur einen Grund. Für viele Obdachlose gehört der Alkohol zum Überleben auf der Straße wie der Schlafsack und die Isomatte. Früher, sagt Arkadiusz K., als er auf Baustellen gearbeitet hat, tranken sie ein paar Dosen Bier zum Feierabend. Als der Job weg war, hatte er sehr viel mehr Zeit für den Alkohol. „Die deutschen Obdachlosen trinken Bier, die polnischen Wodka.“

Als die Rechtsmediziner Andrzejs Leiche aufschnitten, um nach der Todesursache zu forschen, nahmen sie auch Blut ab. In seinem Körper waren mehr als vier Promille Alkohol. Der Wodka machte auch Andrzejs Sorgen erträglicher. Zumindest für den Augenblick.

Sylwester sitzt vor einer Tasse Kaffee im Cafée mit Herz, nahe der Reeperbahn. Er sagt, dass er heute noch nichts getrunken hat. „Hier!“ Er streckt seine Arme aus, schaut auf seine linke Hand. Die Finger sind aufgequollen und die Spitzen gelb gefärbt von dem Nikotin der Zigaretten. „Ich zittere nicht.“

Lutz habe ihm erzählt, dass die Polizei bei Andrzej einen Herzpass in der Jacke gefunden hat. „Ich wusste nicht, dass er herzkrank war“, sagt Sylwester. Im Dezember habe Andrzej einen Termin im Krankenhaus gehabt. Aber er sei nicht hingegangen. Bei der Obduktion im Leichenschauhaus wog Andrzejs Herz mehr als üblich, die Gefäße waren erweitert vom Alkohol. Andrzej muss öfter im Krankenhaus gewesen sein. Gesund wurde er nie.

Wenn Obdachlose eine Krankenversicherung abgeschlossen haben, dann können sie eine Alkoholtherapie beantragen – egal, ob sie aus Pinneberg oder Polen kommen. Die Sozialbehörde geht davon aus, dass EU-Ausländer in Deutschland „vielfach“ gesetzlich oder sogar privat versichert sind. Sei dies nicht der Fall, greife das Sozialgesetz oder die Leistungen für Asylbewerber.

Wer verstehen will, welches Recht ein Mensch wie Andrzej auf Therapien und Medikamente hat, muss sich durch ein Gewühl an Paragrafen des Sozialrechts lesen. Es ist schon für Deutsche kaum zu verstehen. Für jemanden, der schlecht Deutsch spricht, ist es eine Mauer aus Zahlen und endlosen Wörtern.

In Paragraf 23 des Sozialgesetzbuchs heißt es dann aber deutlich: „Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.“ Es sind Sätze, die stark nach den Geschichten von Andrzej, Sylwester und Arkadiusz klingen. Ärztliche Hilfe gibt es laut Paragraf 23 nur bei akuter Lebensgefahr. Stasiewicz von der Beratungsstelle sagt: „Wir wissen, dass fast keiner der osteuropäischen Obdachlosen Anspruch auf Sozialleistungen hat.“ Zum Beispiel eine intensive Krankenhausbehandlung.

Im Flüchtlingszentrum an der Adenauerallee gibt es eine „Clearingstelle“, sie nimmt auch Menschen wie Sylwester und Andrzej auf. Wer keine gültigen Papiere hat, wird dort trotzdem behandelt. Seit 1995 fahren Ärzte mit der „Mobilen Hilfe“ der Caritas durch die Stadt. Krankenhausbehandlungen können sie nicht ersetzen.

Wie er selbst habe auch Andrzej keine Krankenversicherung gehabt, sagt Sylwester. Für ihn war Andrzej der erste engere Bekannte, der vor seinen Augen starb. Auch der Pole Arkadiusz hat Kumpels auf der Straße sterben sehen. Im Durchschnitt werden Obdachlose laut einer Studie der Caritas in Hamburg 46 Jahre alt. Andrzej war 41.

Und wenn er ein Recht auf eine Alkoholtherapie gehabt hätte, wäre er dann hingegangen? Viele Obdachlose meiden Arztpraxen und Krankenhäuser. Aus Misstrauen in die Institutionen. Aus Angst vor engen Räumen. Aus Scham. Aber auch, weil viele das Gefühl für ihren Körper verloren haben. Weil sie die Warnsignale wegtrinken mit Wodka. Und weil Obdachlose wissen, dass sie in der Praxis um die Ecke nicht immer willkommen sind.

Nicht die Kälte tötete Andrzej an den Landungsbrücken. Es war der Alkohol und sein kaputter Körper, der sich auf der Straße nicht mehr erholte. Den Kampf gegen das Sterben auf der Straße sehen Experten deshalb auch nicht allein damit gewonnen, leere Büros oder Schulen als Notunterkünfte für den Winter zu öffnen.

„Mit wenig Geld könnte die Stadt die Krankenversorgung von Menschen auf der Straße deutlich verbessern“, sagt Klaus Püschel. Er ist Direktor am Institut für Rechtsmedizin des UKE. Ärzte müssten öfter vor Ort sein in den Einrichtungen wie Pik As. Der Professor hat gemeinsam mit anderen Ärzten eine Broschüre erstellt, die aufklärt über Krankheit, Tod und Trauer in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe.

Und doch klagen Obdachlose wie Sylwester und Arkadiusz nicht über eine schlechte Versorgung in Hamburg. Im Gegenteil: Wer aus Polen oder Rumänien kommt, lobt die Deutschen: die Passanten, die viel mehr Geld geben als in Polen; die Helfer in den Tagesstätten; die Polizisten, die manchmal eine Zigarette spendieren. Einmal habe ihm jemand in der Nacht den Schlafsack vom Körper gerissen, erzählt Arkadiusz. Eine Polizeistreife der Davidwache bemerkte das und brachte ihm von der Wache einen neuen.

Viele kommen nach Deutschland, weil sie vor Ausgrenzung in ihrer Heimat fliehen. „Banditen“ nennt Arkadiusz die Politiker in Polen, das soziale Netz sei schwächer. Obdachlose würde von vielen verachtet.

Auch in Deutschland kommt es immer wieder zu Angriffen von Rechtsradikalen oder Jugendlichen auf Menschen, die in Schlafsäcken in Hauseingängen oder unter Brücken schlafen.

Doch die Notunterkünfte, die einen Menschen aus den schutzlosen Hauseingängen retten sollen, meiden viele Obdachlose. Baut die Stadt Unterkünfte an den Betroffenen vorbei?

Sylwester, Arkadiusz und andere Obdachlose sagen, dort gebe es „zu viel Stress“. Gepöbel, manchmal sogar Schlägereien. Wer Pech hat, werde beklaut. Die Deutschen und die Polen verstünden sich gut, sagt K. Aber mit den Rumänen und Bulgaren? „Kein Kommentar.“ Auch unter den Ausgegrenzten gibt es Ausgrenzung.

In der Nacht seines Todes wäre auch für Andrzej Platz gewesen in einer der Einrichtungen. Von den 704 Plätzen, die Hamburg seit November als Erfrierungsschutz für Obdachlose bereithält, waren bis dahin in keiner Nacht alle besetzt.

Der Sozialarbeiter des Straßenmagazins „Hinz & Kuntz“, Stephan Karrenbauer, schreibt kurz nach dem Tod von Andrzej: „Jeder Mensch braucht ein Zimmer, in dem er zur Ruhe kommt und selbst entscheiden kann, wann er die Tür auf und wann er sie zu macht.“ Nur das würde gegen das Sterben auf der Straße helfen.

Die Geschichte von Andrzej A. beginnt an den Landungsbrücken. Und sie endet in Polen. Am 22.Januar 2014 holt ein Bestatter den Leichnam aus dem UKE ab. Das polnische Konsulat in Hamburg hatte Andrzejs Mutter ausfindig machen können und genehmigte den Transport der Leiche nach Polen. Andrzej wurde in seiner Heimat begraben. Dort, wo er nie wieder hinwollte.