Einmal in der Woche schließt Stanislaw Nawka seine Arztpraxis in Bergstedt. Dann steigt er in einen zum Behandlungsraum ungebauten Transporter und fährt zu Hamburgs Obdachlosen – ehrenamtlich.
Hamburg. Die Hand sieht nicht gut aus. Blasenartige Wunden zeichnen die Haut. Der Patient, der auf dem Behandlungsstuhl sitzt, verzieht vor Schmerz das Gesicht, lässt es aber still über sich ergehen, als Doktor Nawka die Stellen abtupft und reinigt. Den Patienten kennt er schon, er war vergangene Woche auch schon da. Er lebt auf der Straße und hat sich seine Verletzung bei einem Arbeitsunfall mit chemischen Stoffen geholt. Einfach in die nächste Arztpraxis gehen konnte er aber nicht – keine Krankenversicherung.
Stattdessen sitzt der Mann nun in dem winzigen Behandlungsraum im Inneren eines speziell umgebauten Transporters, im Praxismobil der Caritas, das vor dem Haus Bethlehem an der Budapester Straße parkt. In kleinen Schränken an den Wänden sind Mullbinden, Pflaster, Desinfektionsmittel und Medikamente verstaut, alles auf engstem Raum. Doktor Nawka holt Verbandszeug hervor und verpasst dem Patienten einen frischen Verband um die Hand. „Das wurde aber auch Zeit“, sagt er grinsend, klopft dem Patienten zum Abschied freundschaftlich auf die Schulter und öffnet die Schiebetür an der Seite des Transporters.
Draußen warten schon mehrere andere Männer darauf, behandelt zu werden. „Hereinspaziert!“, ruft Nawka und winkt den nächsten ins Innere. Dort hat seine Mitarbeiterin Annette Antkowiak inzwischen in Windeseile alles mit Desinfektionsmittel abgewischt und für den folgenden Patienten vorbereitet. Nach und nach ruft Nawka die wartenden Menschen in die rollende Praxis. Als alle versorgt sind, fährt das Mobil los zur nächsten Station, dem Hinz&Kunzt -Gebäude an der Altstädter Twiete.
Eine Praxis auf Rädern
Wie jeden Mittwochvormittag ist Stanislaw Nawka mit dem Praxismobil unterwegs, um sich um obdachlose Menschen in Hamburg zu kümmern. Menschen, die in den allermeisten Fällen keine Krankenversicherung haben, oft aber gesundheitliche Probleme, und die nicht wissen, wohin sie damit gehen sollen. Deswegen kommt Stanislaw Nawka mit dem flexiblen Behandlungszimmer zu ihnen. Einmal in der Woche schließt er seine Praxis an der Rodenbeker Straße in Bergstedt für ein paar Stunden, um sich ehrenamtlich für die Caritas um Obdachlose zu kümmern.
Nawka, den hier alle nur Stani nennen, trägt Jeans und einen Kapuzenpulli. Mit seinem wachen, freundlichen Blick mustert er den Patienten, hört sich an, welche Beschwerden er hat und hat mit einem Handgriff das passende Medikament parat.
Auch wenn die Arbeit, die er hier macht, nicht nur für die Augen, sondern auch für die Nase nicht immer angenehm ist, verliert Nawka nie den Humor, scherzt viel, bleibt gelassen. Man merkt ihm an, dass er Erfahrung hat in dem, was er tut. Mittlerweile ist Nawka schon seit 18 Jahren mit dem Praxismobil im Einsatz, so lange wie kein anderer im Obdachlosen-Ärzteteam der Caritas.
Dabei sollte er vor 18 Jahren ursprünglich nur einmal als Vertretung für einen Kollegen einspringen. Doch aus einem Einsatz wurden schnell zwei – „und ich habe gemerkt, dass mir diese Arbeit etwas gibt und ich auch wenig Berührungsängste hatte“, sagt Nawka. Vielleicht lag es auch daran, dass er damals persönlich grad eine schwere Phase durchlebte. Seine Ehe war kaputt, die Scheidung lief – „so eine persönliche Lebenskrise kann einem manchmal die Augen und das Herz öffnen.“
Am häufigsten sind Kopf- und Magenschmerzen
Am nächsten Stopp vor dem Hinz&Kunzt -Gebäude versorgt Nawka einen Mann, der an einer Schuppenflechte leidet, mit einer speziellen Salbe. Ein anderer braucht ein Medikament gegen seinen Husten, wieder ein anderer fragt einfach nur nach Kopfschmerztabletten. „Kopf- und Magenschmerzen zählen zu den häufigsten Beschwerden, mit denen die Menschen herkommen“, erzählt Nawka, „auch Hautkrankheiten kommen sehr oft vor.“ Das habe mit dem Lebensstil der Menschen zu tun. Wenig Hygiene, scheuernde Kleidung. Für solche Standard-Fälle ist die mobile Praxis ausgerüstet. Die Medikamente werden gespendet oder aus Spendengeldern gekauft.
Stanislaw Nawka spricht polnisch, was ihm bei seinem Einsatz immer wieder zugute kommt. Denn die meisten der obdachlosen Patienten sprechen kaum Deutsch. Viele von ihnen kommen aus Polen, Bulgarien und Rumänien. Wenn Arzt und Patienten keine gemeinsame Sprache sprechen, verständigen sie sich mit Händen und Füßen. Das klappt meistens auch ganz gut. Der Patient zeigt einfach dorthin, wo es wehtut, und der Rest ergibt sich von selbst.
„Das Leben ist zu kurz, um es zu verschlafen“
Ein Mann kommt mit einer augenscheinlich schiefen Nase ins Praxismobil. Wie das passiert ist? Der Patient erklärt auf Polnisch. Er hat sich offenbar geprügelt, kann sich daran aber kaum erinnern, weil er zu der Zeit zu betrunken war, übersetzt Nawka. Er schickt den Mann ins Krankenhaus – so komplizierte Eingriffe lassen sich in der rollenden Praxis nicht durchführen. „Wir machen hier Basis-Medizin, mehr geht nicht“, erklärt er.
Auf geht’s zur dritten und letzten Station für diesen Mittwoch, die Bahnhofsmission am Hauptbahnhof. Auf der Fahrt erzählt Nawka, wie er es zeitlich schafft, neben seinem Vollzeit-Job als Arzt in Bergstedt und seiner Rolle als Familienvater – er hat drei Kinder – auch noch die Obdachlosenhilfe unterzubringen: Er schläft in der Regel nur fünf Stunden pro Nacht. „Das Leben ist zu schade, um es zu verschlafen“, meint er.
Für den Job müsse man sich schon eine Art seelischen Schutzpanzer zulegen, all das Elend, was einem da begegne, dürfe man nicht zu sehr an sich heranlassen, sagt Nawka. Sein Antrieb? „Christliche Nächstenliebe. Ich möchte den Menschen helfen, die sonst weder die finanziellen Möglichkeiten haben, noch von der Gesellschaft unterstützt werden.“
Solche Menschen warten auch jetzt an der Bahnhofsmission auf ihn. Nachdem er auch hier alle versorgt hat, fährt Nawka zurück nach Bergstedt – Feierabend hat er aber noch nicht: Nachmittags ist in seiner Praxis an der Rodenbeker Straße Sprechstunde.