Sollte die Nordkirche sich immer wieder in aktuelle politische Debatten einmischen – wie zuletzt in die zum Volksentscheid über den Netze-Rückkauf oder die über den Umgang mit den Lampedusa-Flüchtlingen?

Das Wandgemälde von Hugo Vogel im Festsaal des Rathauses zeigt eine historische Szene: die Ankunft des christlichen Missionars Ansgar auf dem Gebiet der heutigen Stadt Hamburg im 9. Jahrhundert. Links sind die Christen mit Kreuz zu sehen, rechts daneben stehen aufrecht die heidnischen Hamburger. Dieses Bild vom Beginn des 20. Jahrhunderts veranlasste einen früheren Senator zu der Bemerkung, ein Hamburger kniee vor niemandem, auch nicht vor der Kirche. Dass der Künstler gedrängt wurde, einen knienden Jüngling zu übermalen, bleibt die besondere Pointe dieser Geschichte.

Seit es das Christentum gibt, wird immer wieder heftig darüber debattiert, wer die Deutungsmacht über das Leben der Bürger besitzt – der Klerus oder das Volk selbst („Laien“), Thron oder Altar. In diesem Kampf siegten mal die geistlichen, mal die weltlichen Herrscher. So pilgerte einst ein Kaiser zum Papst nach Canossa. Oder Reichskanzler Otto von Bismarck ließ im Kulturkampf romtreue Priester inhaftieren.

Heute, da Staat und Kirche weitgehend getrennt sind, dreht sich der Konflikt darum, ob die Kirche sich breit gesellschaftlich engagieren soll – vom Klimaschutz, dem Rückkauf der Energienetze, für eine gerechte Weltordnung bis zur Flüchtlingsfrage.

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Einfache Antworten gibt es darauf nicht. Während die einen das Wirkungsfeld der Institution Kirche auf Kontemplation und Seelsorge beschränken wollen, fordern die anderen ein hohes Maß an politischer Aktion. Schließlich leben die Christen, wie Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehrs vergangenen Sonnabend im Abendblatt-Interview sagte, mitten in der Gesellschaft. Glaube sei immer auch politisch, betonte sie.

Jahrhundertelang begegneten sich im souveränen Stadtstaat Kirchenrepräsentanten und Bürgervertreter auf Augenhöhe. Der Kirchenrechtler Axel von Campenhausen bezeichnete das einmal als „Hamburger Republikanerstolz“.

In anderen Regionen Deutschlands wurde das Verhältnis zwischen Staat und Kirche angesichts absolutistischer Fürsten häufig strapaziert. An der Elbe dagegen galt zwischen Senat, Bürgerschaft und Kirche wie bei den Kaufleuten der Handschlag – eines Staatskirchenvertrages bedurfte es daher sehr lange nicht; er wurde erst 2005 unterzeichnet. Zwischen weltlichem und geistlichem Regiment in der Hansestadt herrschte kollegiales Miteinander, das erst während der Zeit des Nationalsozialismus durch das „Führerprinzip“ in Gestalt des NS-Landesbischofs Simon Schöffel außer Kraft gesetzt wurde.

Heutzutage reagieren etliche Bürger der Freien und Hansestadt vor allem dann mit Kritik, wenn die Kirche ihrer Meinung nach mal wieder vorrangig politisch agiert. Und es enge personelle Verknüpfungen zwischen kirchlichem und politischem Handeln gibt. So war der Leiter für Diakonie und Bildung im Kirchenkreis Hamburg-Ost, Theo Christiansen, zugleich Obmann beim Volksentscheid für den Rückkauf der Energienetze. Er steht für die finanzielle Unterstützung der Kirche an dieser Kampagne.

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Eng ist auch die personelle Verflechtung zwischen Politik und Kirchenparlament in der Person des neuen Synodenpräses der Nordkirche, Andreas Tietze. Der Protestant aus Westerland auf Sylt gehört als Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen dem schleswig-holsteinischen Landtag an und steht an der Fraktionsspitze.

Die evangelische Kirche, sagt er, könne vom Engagement der Politiker nur profitieren. Als Beispiele nennt er die beiden früheren Bundespräsidenten Johannes Rau und Richard von Weizsäcker. „Sie waren als Christen in der Politik und zugleich Politiker in der Kirche.“ Kirche könne für das Gemeinwesen nur dann ein relevanter Partner sein, wenn sie Politiker einbinde und ihre Kompetenz nutze, schreibt der Nordkirchen-Synodenpräses im evangelischen Wochenmagazin „ideaSpektrum.“

Nordelbiens Altbischof Hans Christian Knuth warnt derweil vor einer Vermischung von Politik und Kirche, denn beide hätten unterschiedliche Aufgaben. „Ein Seelsorger“, sagt er, „darf kein politischer Gegner sein. Wer will schon von der Kanzel eine politische Wahlrede hören?“

Ein so breites Meinungsspektrum ist offenbar konstitutives Merkmal des Protestantismus. Denn zu seinen Grundpfeilern gehören demokratische Strukturen und Pluralität – auch in der neuen Nordkirche. Wichtigstes Selbstverwaltungsorgan ist die Landessynode (Kirchenparlament) mit 156 Mitgliedern. Sie beschließt auch den 462-Millionen-Jahreshaushalt der Nordkirche mit ihren 2,25 Millionen Gläubigen.

Der Landesbischof der Nordkirche, Gerhard Ulrich, sitzt in Schwerin und ist Chef der Kirchenleitung. Das heißt aber nicht, dass er in der fünfgrößten Landeskirche Deutschlands autark das Sagen hat. Traditionell stellt die Synode den Gegenpol zu den hauptamtlichen Kirchenleuten dar. Weitere Säulen neben Synode und Kirchenleitung sind die Dienste und Werke wie die Diakonie und die Kirchenkreise mit ihren größeren Einheiten, den Sprengeln. Im Sprengel Hamburg und Lübeck steht Bischöfin Kirsten Fehrs an der Spitze. Zu ihrem Amtsbereich zählt auch der Kirchenkreis Hamburg-Ost – der mit 460.000 Mitgliedern größte in Deutschland. Insgesamt beschäftigt die Nordkirche rund 17.000 Menschen – in Gemeinden, Kindergärten, Altenheimen oder in der Flüchtlingshilfe.