Bibelzitate legitimieren keine Rechtsverletzung, sagt Ex-Staatsrat
Hamburg. Alles, was die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrifft, ist politisch. Politisch handeln können auch Kirchen, die als Interessenverbände seit Jahrtausenden in aller Welt in Konkurrenz zueinander, aber mit vielen identischen Kernbotschaften die menschliche Sehnsucht nach Transzendenz organisieren und an der Vermittlung von Werten mitwirken. Es ist grundsätzlich auch legitim, dass Kirchen sich bei Bedarf in den tagespolitischen Kampf einmischen, solange sie die für alle geltenden demokratisch legitimierten Grenzen einschließlich der Trennung von Kirche und Staat beachten und nicht in Widerspruch zu ihrer eigenen Botschaft geraten. Die Einhaltung dieser Grenzen fällt aber auch der Nordkirche in Hamburg offenbar nicht immer leicht.
Beim rationalen und emotionalen Kampf um verbindliche politische Entscheidungen haben im demokratischen Rechtsstaat alle Beteiligten gleiche Rechte. Wenn aber Pastoren in ihrer kirchlichen Funktion – womöglich im Talar – für politische Ziele demonstrieren, nehmen sie höhere Werte und eine „Heiligkeit“ in Anspruch, die anderen Staatsbürgern nicht zur Verfügung stehen. Dieser Missbrauch höherer Autorität zur Durchsetzung politischer Ziele verstößt gegen fundamentale Fairnessprinzipien der Demokratie. Das gilt auch für den Netze-Rückkauf. Sollen die Gläubigen etwa demnächst für solche Ziele auch noch beten? Die Kirche nimmt andersdenkenden Gläubigen so die religiöse Heimat. Selbstbescheidung ist gefordert. Das „Bodenpersonal“ der Kirche muss der Versuchung widerstehen, aus Eitelkeit und Geltungssucht eigene Meinungen unter dem Deckmantel der Kirche durchzusetzen. Die Kirche ist keine politische Partei. Diese Unterscheidung muss deutlicher werden. Auch die Spannung zwischen dem vordemokratischen Erbe der Kirche und den Prinzipien von Aufklärung und Rechtsstaat führt zu Grenzverletzungen wie in der Flüchtlingsfrage.
Die Kirche stützt ihre Forderung nach Aufnahme der Flüchtlinge auf das Matthäus-Evangelium (25,35) und missachtet, dass wir in einem umfassenden Rechts- und Sozialstaat leben. Bibelzitate legitimieren keine Rechtsverletzung. Alle Formen von Kirchenasyl sind aber vordemokratisch. Die Forderungen nach Barmherzigkeit richten sich deshalb nicht wie in biblischen Zeiten an Individuen, sondern an öffentliche Kassen. Das ist Wohltätigkeit zulasten Dritter. Man mag es bedauern, aber Sozialstaat und freie Zuwanderung schließen sich aus. Jeder weitere Ausbau des Sozialstaates führt zu noch stärkerer Abschottung.
Persönliche Hilfe steht jedem frei, die geforderte zwangsweise Verpflichtung Dritter aber nicht. Sie verschafft den Gutmeinenden ein besseres Gewissen, aber das ist übergriffige Moral zur Selbsterhöhung. Sowohl andere Konfessionen und Atheisten als auch die handelnden Personen in Politik und Verwaltung nehmen dasselbe Maß an Humanität für sich in Anspruch wie die Kirche und sie können den anmaßenden Monopolanspruch der Kirche auf eine höhere Moral nicht ertragen.
Gefordert sind – abgesehen von Einzelfallregelungen – durchgreifende Hilfen für die Herkunftsländer, einschließlich einer veränderten EU-Agrarpolitik. Die geforderte Gruppenlösung trägt nicht. Wie sollte man denn nachfolgenden Flüchtlingsströmen dieselben Rechte verweigern?
Dass wie bei allen ungelösten politischen Problemen die rechtsstaatlich handelnden Polizistinnen und Polizisten moralisch und tätlich angegriffen werden, hat leider schon Tradition und ist unverändert empörend. Die Kirche trägt auch für diese Menschen und ihre Behandlung eine Mitverantwortung und sollte die Folgen ihres Handelns stärker bedenken.