Beim Hamburger Landgericht spitzt sich die Lage wegen der hohen Belastung zu. Landgerichtspräsidentin Sibylle Umlauf spricht über die Gründe für den Verfahrens-Stau.
Hamburg. Für manche Opfer von Straftaten ist es traurige und belastende Realität: immer wieder vertröstet zu werden, weil ihre Prozesse noch nicht verhandelt werden können, manchmal über Jahre. So liegen allein drei Verfahren, die zum Teil schon seit 2008 beim Hamburger Landgericht anhängig sind, weiter auf Eis, und Prozesstermine sind wegen der Vielzahl der Verfahren teilweise nicht in Sicht.
So blieben allein bei den Großen Strafkammern im Jahr 2008 insgesamt 159 Verfahren unerledigt, im Jahr 2012 stieg dieser Wert auf 213 an. Und die Zahl der neuen Verfahren nahm von 317 im Jahr 2008 auf 352 im Jahr 2012 zu.
„Es ist wirklich bitter für alle Beteiligten“, sagt eine Richterin über den Stau von Prozessen. Ein anderer Richter spricht von „nicht hinnehmbaren“ Verfahrensdauern und Straftaten, die „teilweise sogar der Verjährung entgegen taumeln“. Einige Kammern seien regelrecht „abgesackt“, formuliert ein anderer. Auch müssen mitunter Hauptverhandlungen, die bereits terminiert sind, wieder abgesetzt und sogar bis zu 18 Monate auf Eis gelegt werden, weil eine dringende Haftsache Vorrang hat.
Bei Verfahren, in denen ein Verdächtiger in Untersuchungshaft sitzt, muss laut Gesetz der Prozess spätestens sechs Monate nach Inhaftierung beginnen. Weil so viele Nicht-Haftsachen liegen bleiben müssen, häufen sich Probleme: Es gab zuletzt Beschwerden über überlange Verfahren von Anwälten, die Opfer vertreten.
„Auch ist es ein Problem, dass die Zeugen immer ‚älter‘ werden, vor allem die Opfer von Raubtaten oder Betrugsfällen. Der große Zeitablauf bis zum Prozess erschwert die Beweislage, weil die Zeugen sich nach langer Zeit naturgemäß schlechter erinnern können“, sagt die Präsidentin des Landgerichts, Sibylle Umlauf.
Darüber hinaus würden die Verfahren immer aufwendiger, unter anderem in der Computer-Kriminalität, aber auch in Wirtschaftsverfahren und bei Prozessen gegen Schleuser: „20 Verhandlungstage und mehr sind keine Seltenheit.“ Mitunter dauern Verhandlungen auch viel länger, in Einzelfällen sogar deutlich mehr als 60 Prozesstage, das entspricht dann mindestens anderthalb Jahren Verfahrensdauer.
Allein im August waren 13 größere Verfahren mit jeweils drei bis zehn Angeklagten und bis zu 15 Verteidigern anhängig. In den vergangenen Jahren gab es auch vermehrt Überlastungsanzeigen. Mit diesen warnen die Großen Strafkammern, dass sie beim Eingang einer weiteren Haftsache diese nicht innerhalb von sechs Monaten von der Inhaftierung an terminieren können, selbst wenn sie alle Nicht-Haftsachen absetzen würden. Im Jahr 2010 gab es 15 Überlastungsanzeigen, 2011 dann 18 und 2012 sogar 23.
Dann wird für die jeweilige Kammer ein Eingangsstopp verhängt, um sie zu entlasten – mit der Folge, dass mehr Verfahren in anderen Kammern eingehen. Um die Lage zu entzerren, wurde Anfang des Jahres eine weitere Strafkammer gegründet – aus bestehenden Kapazitäten. Zu diesem Zweck musste eine Kammer für Handelssachen schließen und zwei Richter aus dem Zivilbereich abgezogen werden.
„Aber auch die Rekrutierung aus dem Zivilbereich hat ihre Grenzen“, sagt Präsidentin Umlauf. Denn auch dort wachse die Zahl der anhängigen Verfahren, zuletzt auf rund 10.400 in der ersten Instanz und rund 1000 Berufungen.
Die durchschnittliche Dauer bis zur Erledigung stieg von sieben Monaten im Jahr 2008 auf achteinhalb Monate im Jahr 2011. „Diese Sachen werden auch immer aufwendiger und komplexer, etwa die Bau- und Kapitalanlageverfahren“, sagt Präsidentin Umlauf. Einige Kollegen im Zivil- und im Strafbereich arbeiteten „gegen Windmühlen mit oft 60 Wochenstunden. Wir haben sehr, sehr gute hoch motivierte Richter. Sie kommen aber nicht mehr gegen das Pensum an“, sagt Umlauf.
„Die Anwaltschaft ist tief besorgt, weil das Landesparlament seit Jahren den Justizhaushalt mit viel zu wenig Mitteln ausstattet“, sagt dazu der Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer, Otmar Kury.
„2013 wurden allein in der Strafjustiz mehr als 50 Änderungen am Geschäftsverteilungsplan vorgenommen. Das ist hoch alarmierend, weil die Regelung, welcher Richter grundsätzlich für einen Angeklagten zuständig ist – ein Verfassungsprinzip – ständig inakzeptabel geändert wird. Und im Zivilprozess muss dem Bürger der Zugang zu seinem Recht bedingungslos garantiert werden. Wir dürfen den Rechtsstaat nicht vernachlässigen!“, warnt Kury. Dagegen sagt der Sprecher der Justizbehörde, Thomas Baehr: „Unter dem Strich sind die Eingangszahlen am Landgericht in den vergangenen Jahren rückläufig gewesen.“ Gleichzeitig habe sich die Personalausstattung im richterlichen Dienst des Landgerichts in den vergangenen Jahren nicht verändert.
Baehr: „Das Gericht entscheidet selbst, wie es das vorhandene Personal einsetzt. Gleichwohl ist die Arbeitsbelastung in der Hamburger Justiz generell anerkannt hoch. Dort, wo es zu Mehrbelastungen kommt, sind wir gemeinsam im Gespräch, um einen internen Ausgleich zu schaffen.“
Wichtig für eine leistungsfähige Justiz sei, dass auch die bundesrechtlichen Rahmenbedingungen stimmten. Deshalb habe Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD) auf der Justizministerkonferenz über die Erfahrungen mit dem aufwendigen Piraterie-Verfahren berichtet und vorgeschlagen, die verfahrensrechtlichen Regelungen zu überprüfen. „Ziel sind zeitgemäße Verfahrensabläufe, die dem Beschleunigungsgrundsatz Rechnung tragen und zum Rechtsfrieden beitragen.“
Unter der sehr langen Verfahrensdauer leiden nicht zuletzt die Opfer: Zurückgestellt werden müssen unter anderem Prozesse über Taten, bei denen Kinder laut Anklage sexuell missbraucht wurden – ein äußerst belastender Umstand für die Opfer und auch deren Familien. Auch für andere schwere Verbrechen mit massiven Folgen für die Opfer wie Raub oder Betrug bleibt kaum Kapazität.
„Es ist im Straf- und Zivilbereich ein Lavieren an der Obergrenze“, sagt Landgerichts-Präsidentin Umlauf. „Was uns besorgt, ist die Frage des Rechtsfriedens, also zuverlässiges schnelles Recht. Das ist ein sehr wichtiges Gut. Es ist zu befürchten, dass es in Zukunft zu noch längeren Verfahren und leider auch zu Qualitätseinbußen kommen kann.“
Doch eine Entlastung oder personelle Aufstockung sind nicht in Sicht – im Gegenteil: Weitere Sparverpflichtungen sind seitens der Justizbehörde schon festgezurrt. Von den zurzeit 492 Stellen beim Landgericht, bei den Richtern und dem nicht-richterlichen Dienst müssen bis Ende 2015 vermutlich zwölf eingespart werden.