Dabei schien das Leuchtturmprojekt bereits die höchste Hürde überwunden zu haben: die Bedenken der Kleinkrämerseelen.

Hamburg. Es sind Erinnerungen wie aus einer anderen Zeit. Ist es wirklich erst fünf Jahre her, dass eine visionäre Idee, eine Handvoll guter Argumente, einige Dickköpfe und eine Computergrafik unter ein paar Schlagzeilen dafür sorgen konnten, dass an entscheidenden Hamburger Stellen ein Hebel in Richtung Kultur umgelegt wurde? Dass eine Millionenstadt bei diesem Thema mal nicht vor der eigenen Courage zurückschreckte, sondern sich sagte: Wir machen das jetzt. Wir wollen das schaffen. Der jahrelang aufgestaute Hunger nach Neuem, Großartigem, Bewegendem war nicht mehr aufzuhalten.

Damals schwadronierten kulturfernere Entscheider zwar noch renditebesoffen davon, den historisch wertvollen Kaispeicher A am Westrand der schnieken neuen HafenCity für einen Büroturm wegzusprengen. In der Kulturbehörde brütete man zunächst noch auf der vor allem wahn- und weniger witzigen Vorstellung herum, an anderer Stelle den "AquaDome", eine Mischung aus Show-Aquarium und Konzerthaus zu bauen. Zunächst verschwand diese Idee, später die Senatorin. Doch dann ging ganz vieles sehr schnell. Der Stein kam rasant ins Rollen, wohl auch, weil der Politik nach der Pleite mit der Olympia-Bewerbung ein neues glänzendes Renommierobjekt gut ins Sortiment passte.

Und war es wirklich erst am 2. April 2007, dass Bürgermeister Ole von Beust im Kaispeicher A den Grundstein für das Zukunftsprojekt Elbphilharmonie legte (und damit auch das sicherlich von ihm erhoffte Zeugnis seiner politischen Weitsicht und Güte)? Er legte ihn für ein Unikat. Glas und Backstein außen und Luxushotel, Super-Luxuswohnungen, Musikvermittlung und bahnbrechende Konzertsaal-Akustik innen. Ein Hammer von Gebäude, das für weltweites Aufsehen und einen Ruck durch so manche hanseatische Kleinkrämerseele gesorgt hatte. Es ging um einen wahr werdenden Traum, entworfen von den Schweizer Star-Architekten Herzog & de Meuron. Sie haben für München mit dem Riesenreifen Allianz-Arena ebenso ein Wahrzeichen geschaffen wie für Peking mit dem olympischen Vogelnest. Eine ihrer neuesten Ideen ist ein gläsernes Riesendreieck für Paris; ein Bau wie ein gigantischer Toblerone-Riegel, gegen den der Eiffelturm alt aussehen könnte.

Für den Traum von einem Konzerthaus mit dem Gütesiegel "made by H & de M" als Garant für den Wow-Faktor hatten großzügige Mäzene in bester bürgerlicher Tradition sieben- bis achtstellige Überweisungen im Hamburger Rathaus abgegeben. Etwa 100 Jahre nach dem Bau der großartigen, aber strukturell überlasteten und von der Kulturpolitik jahrzehntelang sträflich behandelten Laeiszhalle hatten nun ein weiteres Mal privates Engagement und privates Geld das Kunststück geschafft, ein neues Kapitel zu beginnen.

Die Politik wurde mitgerissen, ob sie wollte oder nicht. Nicht alle wollten so richtig gern. Doch dieses Mal war der Blick aufs große Ganze wichtig. Eine Jahrhundert-Entscheidung war gefallen. In Hamburg und um Hamburg herum wollten viele damals kaum glauben, dass dieser Mut zur Vision sich so vehement einen Weg in die Wirklichkeit bahnen konnte, weil Hamburg zwar eine riesige Musikhistorie, aber viel zu wenig Selbst-Bewusstsein in dieser Hinsicht hat und pflegt. Egal. Alles sollte nun anders werden. Der Ehrgeiz war enorm, die Hoffnungen entsprechend. Und erst recht der Erfolgsdruck.

Dieser Druck ist noch da. Der Schwung und die Begeisterung jedoch sind vielerorts verpufft. Der besagte Stein scheint nun auf einen Abgrund zuzurollen, von dem derzeit niemand zu wissen scheint, wie tief er sein könnte.

Wir sind wieder in der Gegenwart. Herbst 2008. Während die Welt darüber nachdenkt, wie sehr sie vom Platzen vieler Börsen-Blasen betroffen sein wird, ist der Rückblick auf die letzten elbphilharmonischen Monate ein Blick zurück auf eine Reihe von unausgesprochenen Schuldeingeständnissen. Nachdem der damalige städtische Projektkoordinator Hartmut Wegener, Beusts Mann für heiße Eisen, mehrfach heilige Eide darauf geschworen hatte, nun aber wirklich genau zu wissen, dass Preis und Eröffnungstermin feststünden, flogen ihm seine Behauptungen um die Ohren. Spekulationen über Kostenexplosionen sorgten für Schlagzeilen, die die Verantwortlichen dort erwischten, wo es wehtat. Bei ihrer Kompetenz. Im Juni wurde verkündet, dass der bisher angestrebte Eröffnungstermin Herbst 2010 um ein Jahr verschoben werden muss. Mediales Rätselraten brach los: Kostet der Bau 100 Millionen Euro mehr als die bislang gültigen 187? 140 oder 250 Millionen mehr? Wo ist die Schmerzgrenze, wann wird sie erreicht, und was passiert dann? Auf jede neue Vermutung wurde mit alten Ausflüchten reagiert. Die Nerven lagen blank. So blank, dass das Machtzentrum Rathaus im September nicht mehr anders konnte, als ein Machtwort zu sprechen. Wegener flog raus. Ein Bauernopfer? Kann man so vielleicht nicht sagen, denn sprichwörtliche Bauern sind in aller Regel komplett unschuldig. Man schuf neue Entscheidungsstrukturen und tanzte bei Fragen zu Kosten und Zeitplan auf rohen Eiern, um nur ja nicht den ohnehin schon wundgereizten Baukonzern Hochtief, mit dem man sich vertraglich gebunden hatte, noch mehr zu verärgern. Juristisches Armdrücken mit denen, das war klar, würde teuer werden. Und dauern.

Zu Wegeners Nachfolger wurde ein früherer Mitarbeiter berufen: Heribert Leutner, der es nun richten soll, aber zunächst wochenlang auf sich warten ließ. Aus der enthusiastischen Kultursenatorin war nach der Wahl eine zunehmend überfordert und dünnhäutig wirkende Senatorin für Kultur, Sport und Medien geworden. Zu viele Köche verderben selbst den besten Brei. Zu viele Baustellen womöglich die politische Laufbahn? Karin von Welck hat ein Planungs-, ein Finanz-, ein Image- und ein Vermittlungsproblem vor Augen, wenn sie mit kaum noch zu übertünchender Panik in Richtung Kultur-Großbaustelle blickt. Es ist wie eine Wahl zwischen Pest, Cholera und Pocken. Heute wird Leutner von ihr vorgestellt. Am 1. November soll seine Herkulesarbeit offiziell beginnen. Die Uhr tickt. Für wen, ist unklar.